#Computereremiten

Das Triple-S-Syndrom

von , 4.5.12

Aus Japan ist das sogenannte Hikikomori-Syndrom bekannt – junge Menschen, überwiegend Männer, die über Monate, oft Jahre hinweg das Haus nicht mehr verlassen und sich weitgehend in die virtuelle Welt des Internets und der Computerspiele zurückziehen, dabei meist von ihren Müttern versorgt. Obschon dieses Syndrom auch eine Reaktion auf die spezifisch japanischen Verhältnisse darstellt, ist es doch nicht auf Japan beschränkt – ich habe schon Patienten in dieser Situation in unserer Klinik behandelt. Was aber vor allem – nach meinem Eindruck – auch bei uns in Deutschland immer häufiger wird, ist ein Erscheinungsbild, das ich – zumindest vorläufig – „schwere seelische Stagnation“ („Triple-S-Syndrom“) nennen möchte.

Dieses Syndrom ist gekennzeichnet durch:

  • eine allgemeine Adynamie (Kraftlosigkeit), die sich vorrangig verwirklicht in der Unwilligkeit und/oder Unfähigkeit, die eigene Lebensgestaltung angemessen zu organisieren – bei mehr oder minder deutlicher Tendenz zur allgemeinen Verwahrlosung;
  • eine dem äußeren Anschein nach freiwillig gewählte, tendenziell wachsende Abhängigkeit von versorgenden Institutionen oder Personen – insbesondere von den Eltern;
  • eine suchtartige oder suchtähnliche Tendenz zum exzessiven Aufenthalt in virtuellen Welten (Computerspiele, „soziale“ Netzwerke etc. etc.);
  • eine oft sehr weit gehende Abkoppelung vom sozial üblichen Tag-Nacht-Rhythmus.

Diese Form des modernen Eremitentums ist sicher auch – aber sicher nicht nur! – eine Form der Reaktion auf die immer stärkere soziale Überforderung, wenngleich es – unter anderen Gesichtspunkten – auch möglich wäre, sie als eine Form der Selbst-Therapie zu begreifen.

Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass mein kurzes Statement viele Fragen aufwirft, ja dass die wichtigsten Fragen wohl noch nicht einmal gestellt sind. Es kommt mir in erster Linie darauf an, die Aufmerksamkeit zu schärfen, zum in der Alltagsroutine auch unseres Fachs nicht immer möglichen genauen Hinsehen anzuregen und eine Diskussion in Gang zu setzen, die dazu beitragen könnte, ein vorerst recht diffus erkennbares Phänomen, das jedenfalls mich sehr beunruhigt, durch das Zusammentragen der Erfahrungen vieler deutlicher fassbar und begreifbar zu machen – oder es, gegebenenfalls, als Phantom zu entlarven.

Ich freue mich, wenn diese kurze Mitteilung ein lebhaftes Echo finden sollte.

 

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