#Angela Merkel

Das Präsidentenschloss als Denkfabrik: Vielleicht auch eine Drohung

von , 28.6.10

Vielleicht ist es nur ein PR-Coup. Vielleicht ist es eine ziemlich gute Idee. Vielleicht ist es aber auch eine Drohung: Bundespräsidentenkandidat Christian Wulff (CDU) will im Falle seiner Wahl das Schloss Bellevue – den Amtssitz unseres Staatsoberhaupts am Berliner Tiergarten – zur „Denkfabrik“ umbauen. So verkündete es der 51jährige Osnabrücker vier Tage vor dem Zusammentreten der Bundesversammlung in der Bild am Sonntag.

PR-technisch ist diese Ansage allemal geschickt: Denn mit einem Schlag zieht der derzeitige Ministerpräsident von Niedersachsen genau jene Aufmerksamkeit auf sich, die ihm im Wettbewerb mit Joachim Gauck, dem Wunschpräsidenten von SPD, Grünen und gefühlten 60 Millionen Deutschen, bislang möglicherweise noch fehlte. „Denkfabrik“, das klingt spannend und interessant, macht neugierig auf mehr. Rein kommunikativ kein schlechter Zug, Herr Kandidat!

Fast alles gehört überdacht

Und eine gute Idee noch dazu. Denn mit dem Wort von der „Denkfabrik“ beschreibt Wulff ein Defizit, das immer mehr Menschen dazu verleitet, der Politik den Rücken zuzuwenden. Gemeint ist die geradezu erschreckende Abwesenheit von Tiefenreflexion, die das politische Geschäft, wie wir es erleben, kennzeichnet. Unsere Welt befindet sich bekanntlich in einer der schwersten Krisen seit Jahrzehnten. Dennoch beschleicht einen das Gefühl, dass nicht kluges Abwägen und Hinterfragen, sondern Hast und Kurzatmigkeit das Handeln der politischen Entscheider bestimmen. Eine Milliardenspritze hier, eine neue Steuer da, ein Sparbeschluss dort – eine konzeptionell oder gar strategisch basierte Reformpolitik zur Erneuerung unserer Gesellschaft sieht anders aus.

Jetzt aber kommt Wulff und lädt zum Denken ein. Da fangen wir doch gleich mal an: Finanzierung unserer Sozialsysteme, Umgang mit Integration und Migration, die Absicherung bürgerlicher Freiheiten im digitalen Raum – fast alles gehört überdacht. Ob Energieversorgung oder Kinderarmut, ob Nuklearproliferation oder Euro-Krise: die Probleme sind hinlänglich bekannt, und geredet wird darüber zweifelsohne reichlich. Aber an wirklich überzeugenden Antworten mangelt es. Damit aber wird Politik ihrer vordringlichsten Aufgabe nicht gerecht, nämlich unser Gemeinwesen so zu gestalten, dass es gut gerüstet ist für die Herausforderungen von morgen und übermorgen.

Ein Hauch von Dupont Circle

Im Schloss Bellevue hingegen, hinter der barocken Fassade dieser preußischen Prinzenresidenz, könnte künftig Zukunft gedacht, könnten Lösungen „fabriziert“ werden – ganz wie in den Think Tanks rund um den Dupont Circle in Washington D.C.. Professoren, Unternehmer, Künstler und Vertreter der Zivilgesellschaft kämen zusammen, um der Politik die Augen zu öffnen in bezug auf das, was los ist im Land. Politiker würden vor allem zuhören, Fragen stellen, Impulse aufnehmen, statt immer gleich eine vorgestanzte Antwort ins erstbeste Mikrofon zu sprechen. Gemeinsam würden die besten Köpfe der Republik an Ideen und Konzepten feilen, deren Halbwertszeit über die nächste Haushaltswoche, die nächste Landtagswahl, ja sogar über „Anne Will“ hinausweist. Die „Denkfabrik“ im Schloss Bellevue als Planungsstab der Republik – eine faszinierende Idee, ganz unabhängig davon, ob der Schlossherr nun Wulff oder Gauck heißen wird.

Der Geist, den Merkel rief

Womit wir drittens noch bei der Drohung wären, die hinter dem Vorschlag auch stecken könnte. Nehmen wir einmal an, Wulff würde gewählt und sogleich ernst machen mit seiner Denkfabrik: Was bedeutete der Think Tank am Tiergarten eigentlich für die Kanzlerin – schwingt da nicht der implizite Vorwurf mit, sie denke zu wenig nach, moderiere nur das Tagesgeschäft, anstatt langfristig tragfähige Lösungen zu entwickeln?

Hat Wulff das Potential oder auch Ziel, seine eigene Parteichefin schon bald zu überstrahlen, indem er die großen Themen setzt, Antworten präsentiert und dadurch Orientierung schafft? Macht er – immer unterstellt, dass er gewählt wird – nach ein oder zwei Amtszeiten gar „den Putin“, der vom Staatsoberhaupt zum Regierungschef mutiert? Die Kanzlerin könnte den Geist, den sie gerufen hat, eines Tages noch verfluchen: der Schwiegersohn als Schlossgespenst, sozusagen.

Aber jetzt warten wir erstmal den 30. Juni ab.

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