#aufstehen

»Das Monster muss wieder in den Käfig«

von and , 24.10.18

CARTA: Wie läuft es mit »Aufstehen«?

Bernd Stegemann: Wir erfahren noch immer immensen Zuspruch – und das ist zugleich auch das Problem. Denn wir haben kein Geld, noch zu wenige Strukturen und darum große Probleme, mit diesem Ansturm umzugehen. Denn im Unterschied zu anderen »Bewegungen« haben wir keine Großspender oder Medienkonzerne, die uns unterstützen. Aber langsam schaffen es die vielen ehrenamtlichem Mithelfer, den Rückstau in der Kommunikation und in den Sozialen Medien, aufzulösen. Mittlerweile haben sich in allen größeren Städten Gruppen gebildet. Wir hatten gedacht, bis Ende des Jahres vielleicht 25.000 Unterstützer zu haben und haben sechs Wochen nach unserer Pressekonferenz bereits die Marke von 150.000 überschritten. Wir kämpfen im Moment damit, mit diesem Ansturm umzugehen.

 

Wo siehst du »Aufstehen« in fünf Jahren?

 

Leben wir da noch? Ich weiß es nicht. Das ist wirklich eine große Frage. Eine ganz offene Frage. Was für eine Kraft entsteht da eigentlich gerade? Wir planen gerade, einen Katalog von konkreten Forderungen zu formulieren, die wir dann in einem Abstimmungsprozess mit den Mitgliedern zu einem Programm ausarbeiten. Am Ende hätten wir dann eine Reihe von Punkten, anhand derer wir klare Forderungen an Politiker stellen können. »Aufstehen« unterstützt dann die Politiker, die sich diese Punkte zu eigen machen. Das wäre etwas, das Bewegungen in anderen Ländern genau so gemacht haben, also Inhalte zu setzen und die Politik aufzufordern, sich dazu zu verhalten.

 

Etwa so, wie Gewerkschaften früher Wahlempfehlungen ausgesprochen haben?

 

Ja. Früher einmal. Das waren stark organisierte Bewegungen. Die hatten einen Prozess der Meinungsbildung, haben Vorschläge gemacht und Forderungen formuliert. Das wäre der klassische Charakter eine Bewegung – und auf diese Art könnten wir sagen: Leute, diese ganzen Provokationen im politischen Diskurs, wie sie zurzeit von rechts außen kommen, das sind nicht die Themen, für die sich eine Mehrheit in der Bevölkerung wirklich interessiert. Zurzeit üben die Rechten einen immensen Druck auf die Öffentlichkeit aus, und dem wollen wir mit Themen begegnen, die das eigentliche Leben der Menschen berühren.

 

Geht so etwas überhaupt? Kann man die »rechte Wut“ kanalisieren? Was ist das überhaupt für eine Wut?

 

Die rechte Wut ist natürlich anders als linke Wut, denn sie ist von Ressentiment getrieben. Sie sucht sich immer ein Opfer und sagt: Der hat Schuld. Die linke Wut ist ganz anders strukturiert. Die wendet sich zum Beispiel gegen die Ungerechtigkeit, nach einem Leben voller Arbeit nur 650 Euro Rente zu erhalten.

 

Aber warum haben die Leute dann nicht links gewählt?

 

Haben sie ja lange Zeit, vor allem im Osten, wo die Linke die Hartz-Kümmerer-Partei war. Da hatte sie ja mal relativ hohe Wahlergebnisse über 20%. Und dann ist etwas schief gelaufen. Das eine ist, dass die Ressentiments in der Bevölkerung offensichtlich stark gewachsen sind, getriggert durch rechte Hetze. Es wurde etwa gesagt, Hartz IV ist nicht schön, aber das eigentliche Problem sind die Flüchtlinge, die essen euch das Essen weg. Das ist die eine Antwort. Und die andere ist natürlich der Kampf innerhalb der Linken, der sich in den beiden Politikerinnen symbolisch darstellt: Katja Kipping gegen Sahra Wagenknecht. Es gibt in der Linkspartei einen Flügel um Kipping herum, der Identitätspolitik für wichtiger hält als die soziale Frage. Im akademischen Milieu und in den Großstädten haben sie damit natürlich gepunktet, der Zuspruch vor allem in Westdeutschland ist gewachsen. Umgekehrt ist er auf der anderen Seite massiv eingebrochen, weil das die prekär Beschäftigten kaum interessiert. Da ist ein Riss innerhalb der Linken entstanden, den man dringend bearbeiteten muss, sonst wird das zu einem Problem für das gesamte linke Spektrum. Bei den Grünen kann man beobachten, wohin das führt, denn die Grünen haben sich nach meiner Auffassung zu einer reinen Moralpartei entwickelt, die am liebsten mit der Merkel-CDU regieren möchte.

 

Nun gibt es aber mehr als eine Untersuchung, wo nachgewiesen wird, dass die Prekären nicht die Wähler der Rechten sind. Die Prekären neigen eher dazu, gar nicht mehr zu wählen.

 

Es gibt eine seltsame Vorliebe in der kulturellen Mittelschicht, sich von der sozialen Frage zu distanzieren. Aktuelle Untersuchungen, wie sie etwa in dem Buch »Die Abgehobenen« von Michael Hartmann angeführt werden, zeigen hingegen, dass die Studien, die ihr ansprecht, alle aus der Zeit vor 2016 sind, also aus der Lucke-Ära der AfD. Damals war die Partei eine Partei der abstiegsbedrohten Mittelschicht. In den letzten Jahren hat es eine deutliche Entwicklung in Richtung Prekarisierung gegeben. Die Prekarisierung hat übrigens eine doppeltes Gesicht: es gibt die ökonomische Seite und es gibt die kulturellen Entwertungen. Interessanter Weise werden diese Ergebnisse aber gerne ignoriert, um AfD-Wähler pauschal zu Rassisten zu erklären. Der Vorteil dieser Erklärung ist, dass das dann alles nichts mehr mit Geld und Anerkennung zu tun hat. Es handelt sich einfach um unzufriedene, blöde alte Männer, Rassisten qua Gendefekt sozusagen. Es ist für mich ein Rätsel, warum sich viele so daran klammern, dass der Aufstieg der Rechten keine sozialen Ursachen hat. Und ich finde es auch als Linker befremdlich, dem anzuhängen, denn das ist im Grunde ein urkonservatives Gesellschaftsbild. Die Bösen und Blöden sind ihrem Wesen nach so, da kann man nichts machen, außer ich schicke sie aufs Gymnasium.

 

Hast du eine Erklärung dafür, warum der Gegensatz zwischen ökonomischen Ansätzen und der so genannten Identitätspolitik so hoch gefahren wird? Das ließe sich doch auch miteinander verbinden.

 

Allerdings, das müsste überhaupt nicht sein. Ich würde sagen, das hat etwas mit meinem Milieu zu tun, mit dem Kulturmilieu. Viele in diesem Milieu sind zwar sozial und ökonomisch prekarisiert, gleichzeitig aber fühlen sie sich als emotionale und symbolische Gewinner einer bestimmten Art von diverser Gesellschaft. Es hat also eine Verschiebung stattgefunden, von sozialer Gleichheit zu einer kulturalistischen Gleichheit. Wolfgang Streeck hat dazu, wie ich finde, eine gute Theorie entwickelt. Er sagt, dass seit Ende der Neunziger Jahre durch Globalisierung und Neoliberalismus die politischen Möglichkeiten für Umverteilung so klein geworden sind, dass die Linken sozial nicht mehr viel ausrichten konnten und sich darum auf Felder verlegt haben, wo sie noch etwas bewirken konnten: Antidiskriminierung und das, was man Identitätspolitik nennt. Das ist auch nicht schlecht – das Problem ist nur, dass diese Entwicklung letztlich aus einer Ohnmachtserfahrung der Linken auf der sozialen Ebene resultierte.

 

Nochmal: Warum soll das nicht zusammen gehen?

 

Ich kann da nur wieder bei meinem Milieu anfangen, denn diese akademische, großstädtische Kulturwelt steht im Zentrum des Konflikts. Zizek würde sagen: Der moralische Hochmut entspricht ihrer Begehrensstruktur. Indem sie moralisch auf Welt schauen, haben sie selber einen großen Statusgewinn. Das ist für mich ein spannendes Argument, um das auch mein neues Buch kreisen wird, „Moral als Waffe“. Man lässt den Großen Anderen der Moral für sich arbeiten, und kann sich dadurch selbst immer wieder erhöhen. Das schafft Orientierung in der Welt. Und je mehr ich den Bösen als böse empfinde, desto besser werde ich selber dadurch. Das ist das Fatale an dieser Konstruktion.

 

Was tun? Wie die Schranke überwinden?

 

Unser Vorschlag: Das Monster Kapitalismus muss wieder in den Käfig gesperrt werden und die soziale Frage gehört wieder in den Mittelpunkt. Verändere die Verhältnisse und versuche nicht, Menschen zu erziehen. Es handelt sich sozusagen um zwei Methoden. Identitätspolitik versucht, Menschen zu erziehen, indem ihre Sprache, ihre Gefühle, ihre Moral bewertet und gegängelt werden. Dabei ist doch der Ursprungsgedanke der Linken: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Ändere die Verhältnisse, dann werden die Menschen sich schon von alleine entsprechend entwickeln und verhalten. Das leuchtet mir bis heute immer noch ein. Und das hat von den 1960ern bis in die 80er auch ganz gut funktioniert, und zwar mit der Doppelforderung: 35-Stunde-Woche und »Respekt für meinen ausländischen Kumpel“. Damit haben die Gewerkschaften gegen die Diskriminierung der sogen«nnten Gastarbeiter viel erreicht. Heute heißt es hingegen: Alle müssen ihre Arbeitskraft flexibel zur Verfügung stellen, denn der Rest der Welt schläft nicht. Und wenn Du etwas politisch unkorrekt formulierst, bist du böse.

 

Man kann den Eindruck haben, die Linken schrecken davor zurück, die Systemfrage zu stellen.

 

Ich glaube, wir leben gerade in einer Schockstarre durch die Globalisierung. Wir fühlen uns in einer Art von metaphysischem Wettbewerb gefangen, der alle Menschen in einen irren Stress versetzt.

 

 

Es ist eine riesige Aufgabe, aus den Trümmern der Solidarität neue Bündnisse zu gewinnen. Linke Parteien, soziale Bewegungen, die Rosa-Luxemburg-Stiftung usw., sie alle sind aufgerufen, Vorschläge zu machen, wie die Leute ihre getrennten, gemeinsamen prekären Erfahrungen wieder zu einer politischen Kraft vereinen können.

 

 

Nochmal zurück zum Populismus. In deinem Buch »Das Gespenst des Populismus« machst du ein Argument gegen Chantal Mouffe. Jetzt war Mouffe gerade da, Katja Kipping ist mit ihr zusammen aufgetreten.

 

Meine Kritik war ja noch gegen das Buch von Ernesto Laclau gerichtet, das viel älter ist. Das Kernproblem sind für mich die Äquivalenzketten und der leere Signifikant, unter dem sich die Äquivalenzketten vereinigen sollen. Für mich ist das ein Gedanke aus dem Poststrukturalismus. Man leert den Signifikanten aus und hat ihn damit in eine Art von unendlichem Regress gebracht. Dadurch kann man ihn immer wieder neu bestücken, aber diese Bestückung ist immer nur eine vorläufige und nie eine endgültige. Das ist der Anti-Essentialismus. Jetzt sagt Chantal Mouffe, das man so die Widersprüche ganz simpel lösen könne: Gender, Queer, Anti-Diskriminierung, soziale Frage alles in einen Topf –

 

– aber du sagst: Das sind alles leere Signifikanten?

 

Nein, Moment! Sie will diese Ketten bilden, die sich dann unter einem leeren Signifikanten zusammenschließen sollen. Das Volk ist für sie z. B. so ein leerer Signifikant. Das Volk ist bei ihr also nicht völkisch, im Sinne von Blut und Boden und so weiter. Sie will eine Äquivalenzkette konstruieren, in die sie unterschiedliche Themen von Gender bis Hartz IV rein packt. Für mich ist noch unklar, ob das ein rhetorischer Trick ist oder ein gangbarer Weg. Beim Begriff Volk möchte ich nur einwenden, das er in Deutschland extrem toxisch aufgeladen ist. Ich weiß nicht, wie man daraus einen leeren Signifikanten machen kann und weiß auch nicht, ob das überhaupt politisch wünschenswert ist. Es erscheint mir von daher sinnvoller, über eine Reanimation des Klassenbegriffs nachzudenken. Was sie dazu sagt und wie die Bruchlinien entlang der Klassenfrage politisch aufgeladen werden können, darin sehe ich einen möglichen Weg. Doch in Deutschland steht diese Diskussion ganz am Anfang.

 

Du schreibst in deinem Buch auch, dass es in der gegenwärtigen, neoliberalen Ära nur noch so viel Wirs gäbe, wie es Menschen gibt.

 

Die Entsolidarisierung ist das Ziel des Neoliberalismus. Jeder ist seine eigene Insel und die Identitätspolitik befördert diese Perspektiven-Egozentrik immer weiter.

 

Siehst du irgendeine Form das aufzulösen? Irgendein kollektives Subjekt muss ja auch »Aufstehen« adressieren?

 

Gemeinsame Leidenserfahrung, die Not, die Sehnsucht oder dass alle das unbehagliche Gefühl haben, Unternehmer ihrer selbst sein zu müssen und sich diesem Chaos ausgeliefert fühlen. Der Neoliberalismus hat da ganze Arbeit geleistet. Ich glaube, es ist eine riesige Aufgabe, aus den Trümmern der Solidarität neue Bündnisse zu gewinnen. Linke Parteien, soziale Bewegungen, die Rosa-Luxemburg-Stiftung usw., sie alle sind aufgerufen, Vorschläge zu machen, wie die Leute ihre getrennten, gemeinsamen prekären Erfahrungen wieder zu einer politischen Kraft vereinen können. Momentan findet aber eher das Gegenteil statt, es werden permanent unterschiedliche Identitätsgruppen gegeneinander in Stellung gebracht, und das passt natürlich dem Neoliberalismus sehr gut in den Kram.

 

Was bei euch zu fehlen scheint, ist die internationale Dimension, die ja auch eine alte linke Tradition ist: an internationale Solidarität zu appellieren, sie als Bedingung für gemeinsame Aktion zu sehen?

 

Man kann nicht alles gleichzeitig machen. Wir gründen ja nicht eine deutsche und eine internationale Bewegung gleichzeitig. Die meisten Menschen interessiert doch erst einmal ihr eigenes Leben mehr als die europaweiten Zusammenhänge. Und die EU wird von der akademischen Mittelschicht oft vor sich her getragen wie eine Monstranz, obwohl sie auch enorme Probleme produziert. Denken wir nur an die Austeritätspolitik, die Deutschland durchgesetzt hat. Und dann ist es viel zu oft so, dass man die Moralkeule auf den Kopf kriegt, wenn man die EU kritisiert.

 

Das Problem ist eben, dass ihr bestimmte Begriffe, Wordings, verwendet. In eurem Programm ist von souveränen Demokratien die Rede. Wagenknecht schreibt in ihrem Buch ernsthaft von Banken als Brunnenvergiftern. Was tut ihr gegen falsche Freunde? Und in welchem Rahmen denkt ihr diese Bewegung?

 

Das ist schwierig. Ich glaube, wenn man die EU sozialer gestalten möchte, kann man das nur aus einer nationalen Position heraus. Die EU ist ja selber kein Staatsgebilde, sie tut letztlich nur, was der Rat der Staatsoberhäupter beschließt. Der Ausgangspunkt ist der Bereich, der staatlich überhaupt souverän handeln kann. Wir können ja erst einmal nur hier wählen, das geht ja gar nicht anders, und dann dafür sorgen, dass auch das EU-Parlament in die Rolle der Legislative hineinwächst. Die Sorge, dass man vom Nationalismus vereinnahmt wird, ja, das ist ein Problem. Aber solange Internationalismus vor allem globaler Kapitalismus bedeutet, weiß ich nicht, ob ich das zu einem Problem machen möchte, das mich persönlich in meinem Denken vor sich hertreiben kann.

 

Es würde nicht zum Thema, wenn sich bei Sahra Wagenknecht nicht der Verdacht aufdrängte, dass sie bestimmte Themen meidet. Man kann das strategisch meinetwegen nachvollziehen, aber bei einem Begriff wie »Brunnenvergifter« wird es doch sehr grenzwertig. Nun ist auf eurer Internetseite nichts dergleichen zu finden, aber es fehlt ebenso die positive Bezugnahme auf Europa oder eine internationale Ebene.

 

Das hat etwas damit zu tun, dass ich, und vermutlich auch die meisten anderen bei »Aufstehen«, eine ausgeprägte Antipathie gegen dieses rituelle Sprechen haben. Wir wissen ja alle, was die Buzzwords wären, damit man moralisch nicht angreifbar ist. Natürlich könnten wir die vier oder fünf Sätze reinschreiben. Gegen dies, gegen das, für die EU, alle Grenzen offen. Ich finde diesen Teil der politischen Kommunikation aber häufig albern und unglaubwürdig. Es werden abstrakte Behauptungen und Schwüre getan, die sich in der Realität nicht beweisen müssen und die sich so einfach auch nicht einlösen ließen. Und trotzdem sind alle zufrieden, wenn die richtigen Formeln aufgesagt worden sind. Die Aufgabe besteht doch vielmehr darin, neue und realistische Beschreibungen für die chaotische und verfahrene Lage zu finden.

 

Nun ja, aber da hängt ja auch die Frage dran, wer dieses Wir ist, das etwa über offene oder geschlossene Grenzen entscheidet. Ist das dann ein kollektiver Wille des deutschen Volks?

 

Es muss zumindest anders diskutiert werden als unter der Frage: Bist du gegen Grenzen, bist du ein guter Mensch, bist du für Grenzen, bist du ein böser Mensch. Das Problem an der deutschen Debatte ist doch, dass sie so hochgeputscht ist. Du bekommst sofort Krach mit allen möglichen Leuten, wenn du nur anfängst darüber zu sprechen. Davon muss man erst einmal wieder weg kommen und die Kompliziertheit der Migrationsfrage zu einem rationalen Problem machen. Ich finde auch nicht, dass man einfach sagen kann: Migration ist wie ein Naturgesetz und wir haben die moralische Pflicht, alle Menschen aufzunehmen, die kommen wollen.

 

Ich hingegen weigere mich komplett, anzuerkennen, dass 1,1 Millionen Geflüchtete für eine Volkswirtschaft von 83 Millionen in Deutschland oder gar über 500 Millionen in der EU ein so großes Problem darstellen. Das Thema ist doch ein reines Phantasma.

 

Ich habe nicht gesagt, dass sie das Problem sind. Das Problem entsteht daraus, dass die Zuwanderung zuerst einmal in die Milieus stattfindet, die sowieso schon prekär leben und wenig Spielraum haben. Sprich, die 1,1 Millionen verteilen sich halt sehr ungleich in der deutschen Gesellschaft und das kann durchaus zu Spannungen führen. Die Diskussion wird aber auf eine schrecklich falsche Art und Weise als eine Moraldebatte geführt. Nehmt zum Beispiel das Fachkräftezuwanderungs-Gesetz: Aus einer linken Perspektive totaler Wahnsinn, weil damit das gut ausgebildete akademische Personal anderer Länder abgeworben werden soll. Da scheint sich niemand die Frage zu stellen, was das mit den Herkunftsländern macht, die viel in eine Ausbildung investiert haben, um deren Nutzen dann einer der reichsten Volkswirtschaften der Welt zu überlassen. Mein Vorschlag wäre, dass für jeden abgeworbenen Akademiker ein Stipendium vergeben wird, das aus dem gleichen Land einem jungen Menschen das Studium hier in Deutschland ermöglicht. Das wäre ein fairer Austausch.

 

Eine letzte Frage dazu: Wie ist das Verhältnis von »Aufstehen« zum #Unteilbar-Bündnis? Warum musste sich Sahra Wagenknecht von einem Aufruf distanzieren, der ausdrücklich die soziale Frage einbezieht und die Zivilgesellschaft in einem Maße mobilisiert hat, wie wir es seit Jahren nicht mehr gesehen haben?

 

Der Aufruf verquickte meiner Meinung nach zwei Bereiche miteinander: Es gibt das Zeichen gegen Rassismus und Diskriminierung, dem wohl alle ungeteilt zustimmen. Das war aber eingebunden in die Forderung nach offenen Grenzen. Ich sehe sowohl diese Forderung aus den oben beschriebenen Gründen kritisch als auch die Verbindung dieser beiden Forderungen. Denn dadurch werden nicht wenige daran gehindert, gegen Rassismus aufzustehen, da sie dann zugleich auch für offene Grenzen demonstrieren. Auf diesen Zusammenhang wollte Sahra Wagenknecht hinweisen. Dass ihre Differenzierung dann absichtlich nicht verstanden wurde, ist für mich ein Hinweis, dass genau diese Unterscheidung auch nicht erwünscht war. Es ging #unteilbar genau um diese Vermischung zweier Haltungen.

 

Wo wir von Demonstrationen sprechen: Was ist eure Aktionsbühne? Sollen eure Anhänger alle auf die Straße?

 

Ja klar. Wir planen für den 9. November eine Aktion in Berlin. Und auch sonst läuft sich die Bewegung langsam warm. Es gibt viele Treffen überall verteilt im Land. Da entstehen Ideen für Aktionen, die die Leute machen wollen. Nächstes Jahr wollen wir dann etwas größere Sichtbarkeit herstellen. Aber vergessen wir bitte nicht: Es gibt uns erst seit ein paar Wochen, wir sind ja wirklich noch ein sehr kleines, wenngleich hoffentlich schnell wachsendes Kind.

 

Bernd Stegemann ist Dramaturg am Berliner Ensemble, Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Autor mehrerer, vieldiskutierter Bücher. Das Interview führten Lukas Franke und Stefan Heidenreich.

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