#Demokratie

Das isländische Volk spricht – aber was sagt es?

von , 18.10.12

Ich bin zurück in Island, um mir anzusehen, wie es um das Verfassungs-Experiment bestellt ist, das die Isländer hier gerade veranstalten.

Noch mal zur Erinnerung: Die Isländer hatten 2010 Gelegenheit, aus ihrer Mitte 25 ganz normale Frauen und Männer zu wählen, die für sie eine neue Verfassung schreiben sollten. Das war zwar mit allerlei Schwierigkeiten behaftet, allen voran mit der Tatsache, dass der Oberste Gerichtshof mit einigermaßen bizarrer Begründung plötzlich die Wahl aus technischen Gründen für ungültig erklärte.

Das konnte den Verfassungsgebungsprozess aber nicht stoppen: Die linke Mehrheit im Parlament berief die Gewählten kurzerhand zu Mitgliedern eines Verfassungsrats. In weniger als vier Monaten brachte dieser im Sommer 2011 in einem einzigartig offenen, transparenten und konsensualen Beratungsprozess einen Verfassungsentwurf zu Papier, der trotz mancher Schwächen im Detail allen Respekt verdient.

In einer aktuellen Studie kommen drei der renommiertesten vergleichenden Verfassungsrechtler der Welt, Tom Ginsburg (Chicago), Zachary Elkins (Texas) und James Melton (London), zu folgendem Schluss:

Iceland’s constitution-making process has been tremendously innovative and participatory. Though squarely grounded in Iceland’s constitutional tradition as embodied in the 1944 Constitution, the proposed draft reflects significant input from the public and would mark an important symbolic break with the past. It would also be at the cutting edge of ensuring public participation in ongoing governance, a feature that we argue has contributed to constitutional endurance in other countries.

Ein Verfassungsreferendum – oder doch keins?

Am Samstag kommt dieser Prozess nun zu einem vorläufigen Abschluss: Die Isländerinnen und Isländer sind aufgerufen, über sechs Fragen abzustimmen. Die erste Frage will wissen, ob der Verfassungsentwurf zur Grundlage der neuen Verfassung gemacht werden soll.

Die weiteren Fünf betreffen spezielle, besonders heikle Punkte des Verfassungsentwurfs: etwa, ob die natürlichen Ressourcen – Fischgründe, Geothermie, also alles, was wirtschaftlich wirklich ins Gewicht fällt in Island – kraft Verfassung als “nationales Eigentum” zu gelten hat oder nicht;  ob die lutherische Kirche Staatskirche bleiben soll; ob das Wahlrecht, das bisher die ländlichen Regionen gegenüber Reykjavik privilegiert, nach dem Prinzip “one man, one vote” funktionieren soll, und ob künftig nicht nur der Präsident, sondern auch das Volk selbst Referenden erzwingen können soll.

Was die einigermaßen verwirrend formulierte erste Frage betrifft, muss man wissen, dass die geltende isländische Verfassung nach nordischem Modell geändert werden kann, wenn das Parlament dies erst beschließt und dann nach Neuwahlen den Beschluss erneut bestätigt. Das heißt, das letzte Wort bleibt beim Parlament. Das Referendum ist nur konsultativ.

Wie man den Volkswillen zum Entgleisen bringt

Das wiederum macht das ganze Verfahren ungeheuer riskant, und zwar aus zwei Gründen:

Erstens gibt es im Parlament eine ganze Menge Feinde dieses Prozesses, die nichts lieber sähen, als dass das Ganze in einer Blamage endete. Die konservativ-neoliberale Unabhängigkeitspartei, die bis 2009 die meiste Zeit in Island regierte und an der nationalen Katastrophe des Bankencrashs 2008 erhebliche Mitschuld trägt, war von Anfang an strikt dagegen. Das ist insofern verständlich, als der Verfassungsgebungsprozess als Misstrauenserklärung an das von ihr archetypisch verkörperte politische Establishment gemeint war.

Mit allerhand Filibusterei war es der Unabhängigkeitspartei gelungen, das zur Etablierung des Verfassungsrats nötige Gesetzgebungsverfahren so in die Länge zu ziehen, dass fast zwei Jahre verstrichen, ehe der Rat seine Arbeit aufnehmen konnte. Dann bestand sie darauf, dem Rat statt der geplanten elf Monate nur zwei zu geben, verlängerte dann auf vier – und beklagt jetzt lauthals, dass man doch in vier Monaten keine vernünfige Verfassung entwerfen könne.

Kurz: Die Unabhängigkeitspartei betreibt den Verfassungsprozess als politisches Machtspiel von genau der Art, der die isländische Politik ihren schlechten Ruf in der eigenen Bevölkerung in the first place verdankt. Das ist vor allem deshalb fatal, weil es ziemlich wahrscheinlich ist, dass sie 2013 an die Macht zurückkehrt. Die Links-Regierung ist nach drei Jahren schmerzhafter Sanierungspolitik furchtbar unpopulär. Und, wir erinnern uns: Nach der Wahl muss das neue Parlament die Verfassungsreform bestätigen, sonst wird nichts draus.

Niemand erklärt den Isländern, was eigentlich los ist

Der zweite Grund hat mit der amtierenden Links-Regierung selbst zu tun.

Als ich mich auf meine Reise vorbereitete, erwartete ich, dass die Regierung bzw. die sie tragenden Parteien für das Verfassungsreferendum, das sie initiiert und vorangetrieben hatten, eine anständige Kampagne fahren würden: Plakate, Fernsehspots, Kundgebungen mit feurigen Reden auf dem Austurvöllur. Aber nichts dergleichen. Offenbar haben die Koalitionsparteien nicht einmal ihren eigenen Mitgliedern empfohlen, wie sie stimmen sollen.

Das kann man sehr ehrenhaft finden. Schließlich soll es ja das Volk sein, das hier spricht, und gerade nicht die Parteipolitik.

Das Ergebnis ist aber, dass sich die Tatsache, dass hier ein Verfassungsreferendum stattfindet, unter den Isländern kaum herumgesprochen hat– geschweige denn, worum es dabei im Detail geht, und was auf dem Spiel steht. Der Busfahrer, der mich Montag Nacht vom Flughafen Kevlavik in die Stadt fuhr, hatte von dem Referendum noch nie gehört. Er interessiere sich nicht für Politik, weil die kleinen Leute da sowieso nichts ausrichten könnten.

Das könnte deshalb fatale Folgen haben, denn mindestens so wichtig wie die Zahl der Ja-Stimmen ist die Wahlbeteiligung. Wenn nur 30 Prozent der Wähler ihre Stimme überhaupt abgeben, wird es die Unabhängigkeitspartei leicht haben, zu leugnen, dass es sich überhaupt um Volkes Willen handelt. Zumal die Verfassung von 1944, um deren Abschaffung es hier schließlich geht, mit 98 Prozent Wahlbeteiligung und 95 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde (allerdings unter kaum vergleichbaren Bedingungen).

Das zeigt, scheint mir, das typische Problem jeder Art von direkter Demokratie: Das Volk als solches hat keine Stimme. Man muss es erst zum Sprechen bringen. Und wenn man das tut, ist man schon mitten drin im politischen Machtspiel.

Profiteur der Politikverdrossenheit

Interessant ist auch die Rolle des Präsidenten Ólafur Ragnar Grímsson. Der hatte sich vor 2008 kaum weniger intensiv als die Unabhängigkeitspartei den Finanz-Wikingern an den Hals geworfen und galt nach dem Crash als hoffnungslos beschädigt. Aber siehe da: Im Juni trat er erneut zur Wahl an und gewann eine fünfte Amtsperiode, mit den Stimmen vor allem konservativer und liberaler Wähler. Die hat er wohl der Tatsache zu verdanken, dass er sich nicht nur als vehementer Gegner eines EU-Beitritts Islands, sondern auch des Verfassungsgebungsprozesses geoutet hat.

Der Präsident hat in Island zwar traditionell, wie auch anderenorts üblich, hauptsächlich zeremonielle Funktion. Aber die Verfassung von 1944 lässt in diesem Punkt allerhand Interpretationsspielraum: 1944 ging es darum, von Dänemark unabhängig zu werden. Man nahm kurzerhand die dänische Verfassung und ersetzte den König durch einen Präsidenten. Der hat laut Verfassung eine ganze Latte von sehr weitreichenden Möglichkeiten, die aber durch den unauffälligen Satz, dass seine Macht durch die Kabinettsminister ausgeübt wird, faktisch wieder einkassiert werden.

Trotzdem kann ein Präsident, der sich als Volkstribun gegen die korrupte und zerstrittene Parteipolitik in Szene setzt, mit dieser Verfassungskonstellation allerhand anfangen. Seinen Willen, sein Amt expansiv auszulegen, hat Ólafur Ragnar Grímsson schon 2004 gezeigt, als er ein umstrittenes Mediengesetz der Regierung nicht unterzeichnen wollte und so ein Referendum erzwang (was inhaltlich sicher eine gute Sache war; das Mediengesetz war wohl ziemlich furchtbar). Das gleiche tat er 2010 und 2011 mit dem so genannten Icesave-Abkommen und bewahrte so die Isländer davor, Briten und Niederländer für ihre beim Bankencrash verloren gegangenen Ersparnisse entschädigen zu müssen.

Das Recht dazu gab die Verfassung dem Präsidenten schon immer, aber kein Amtsinhaber machte davon Gebrauch.

Die nächste Gelegenheit, die Kompetenzgrenzen seines Amtes auszudehnen, könnte sich 2013 ergeben. Wenn nach den Wahlen keine Regierungsbildung möglich ist, könnte Ólafur Ragnar Grímsson versuchen, ein Präsidialkabinett gegen das Parlament aufzustellen. Das ist nicht wahrscheinlich, aber manche halten es für denkbar. Alle vier etablierten Parteien sind nach wie vor tief unbeliebt, und ein präsidiales Durchgreifen im Falle einer schwierigen Regierungsbildung könnte vermutlich mit großem populärem Rückhalt rechnen.

Das wäre ein grausam ironisches Ergebnis des Verfassungsgebungsprozesses: Die Verfassung würde präsidialer – wenn nicht autoritär –  statt partizipativer und offener. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass Parlamentsverdrossenheit im Volk einer bestimmten Sorte von Politikern mehr Machtchancen bietet, statt weniger.
 
Crosspost vom Verfassungsblog
 

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