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Das Internet braucht Grenzen

von , 2.8.16

Seit ich Ende 2015 Mutter wurde, sehe ich vieles anders. Manches zum ersten Mal. Die Geburt des eigenen Kindes verschiebt Werte und Wichtigkeiten. Sie schränkt, das muss man sagen, Möglichkeiten ein. Öffnet aber auch Türen in zuvor nie dagewesene Gefühls-, Sinnes- und Erkenntniswelten. Wer sein Kind beobachtet, wie es die Welt beobachtet und wie es Schritt für Schritt in sie hineinwächst, sieht und spürt plötzlich Dinge, für die man vorher keine Zeit hatte. Wie der Wind die Blätter des Baumes streichelt, zum Beispiel. Wie wichtig es ist, dass sich die (noch beschränkten) Fähigkeiten eines Menschen in einem fordernden, zugleich aber sicheren Umfeld entwickeln und entfalten können.

Die Bedeutung von Grenzen.

Grenzen spielen im Pre-Familienleben eine eher unbeliebte Rolle. Solange man sich noch ausschließlich selbst verwirklicht, wird und wächst man stetig weiter. Plötzlich sind da Grenzen des Machbaren, des Zumutbaren, der Kräfte, der Zeit. Nicht zuletzt: der Selbstverwirklichung.

Die wichtigsten Grenzen meiner Mutterschaft aber ziehe ich selbst. Meinem Kind gegenüber, das eben jene braucht, nicht bloß um ein sozialer, gesellschaftsfähiger Mensch zu werden. Grenzen helfen, sich in einem schier unendlichen Angebot an Möglichkeiten nicht selbst zu verlieren. Sich nicht zu (ver)irren. Sie helfen so, Stabilität zu spüren, Verlässlichkeit. Ein Grundsicherheitsgefühl in sich und die Welt zu entwickeln.

Als ich mich noch bloß selbst verwirklichte, da war das Internet mir dazu ein sehr beliebtes Tool. Es half mir, mich zu platzieren, zu vermarkten, auszutauschen. Zu finden, was ich suchte, zu geben, was ich brauchte, mich zu unterhalten und mir das Gefühl zu verleihen, ich könnte alles sehen, hören, überall dabei sein, jederzeit. Und ich schwamm gerne mit in einem Strom der Echtzeit-Information, frönte dem Hype um flexibles Wissen, das nun nicht mehr nur Eliten, sondern wir alle generieren und teilen und inhalieren und wie wir uns alle damit mächtig fühlen konnten – denn Wissen ist ja Macht. Mehr noch: es heißt, Wissen sei die wichtigste Ressource der post-industriellen Gesellschaft. Damit ist es so etwas wie eine existentielle Notwendigkeit!

Ich genoss die Einfachheit der schnellen Kommunikation, des raschen Konsums. Befriedigte meine Neugierde und war bestrebt, mein Wissen als berechtigt und wichtig zu platzieren. Hach. Einfach. Gut.

Jetzt empfinde ich die Grenzenlosigkeit der digitalen Vernetzung auch als eine Bedrohung –  für mein Kind und die Zukunft, die es haben soll. Für mich und die Welt, in der ich leben möchte. Und ich verwehre mich, sofern das in einem digitalen Zeitalter überhaupt geht. Zugegebener Weise eben nur teilweise. Und auch nur teilweise gerne. Denn natürlich bleibt das World Wide Web weiter auch Bereicherung und ein riesen Spaß. Es ist einfach praktisch. Und eine große Chance ist es sowieso.

Wenn auch nicht nur (!), so schlagen die Chancen des Internets aber vor allem für persönliche und wirtschaftliche Interessen durch. Für gesellschaftliche und politische hingegen tun sich nach und nach auch Ernüchterung und einige Risiken auf. Angefangen bei Mobbing und Shitsorms, Plagiaten und Filterbubble, über Verschwörungstheorien, Kinderpornografie bis zu Hass und Hetze, bietet das Internet außerdem einfachen Zugang zu Informationen und Waren aller Art, die nicht einfach zugänglich sein sollten.

Zwar will das BKA keine genauen Zahlen nennen und eine Einschätzung, nach der alleine bis zu eine Million Deutsche im Darknet zum Beispiel Waffen und gefälschte Pässe kaufen, wurde dementiert. Im „Bundeslagebild 2015“ heißt es aber: „Im Bereich von Cybercrime wird von einem stark ausgeprägten Dunkelfeld ausgegangen.“ Und: „Das von Cybercrime ausgehende Gefährdungs- und Schadenspotenzial steigt. Mit der weiter zunehmenden Bedeutung der IT im privaten sowie professionellen Bereich erhöhen sich die Manipulations- und Angriffsmöglichkeiten.“

Netzneutralität und digitale Souveränität, sie sind ehrbare Errungenschaften. Aber auch furchtbar, manchmal. Nicht nur dann, wenn Terror und Amok im Netz brodeln, um sich im echten Leben zu entladen, so wie auf Utøya, so wie in München, so wie auf all den Propaganda-Seiten des IS. Sondern auch dann, wenn sie vom einem Trend um Wissen, zu einem Info-Hype werden und schließlich in einem Rattenrennen – so nannte es jetzt CARTA-Kollege Christian Neuner-Duttenhofer – um Ubiquität, um Aktualität, um Deutungshoheit ausarten.

Das Gefühl, mit dem ich ganz besonders in diesem Jahr nicht alleine bin, dass die Welt irgendwie eine schimmere, gefährlichere geworden ist, entstammt eben nicht der Tatsache, dass die Zeiten tatsächlicher gefährlicher, die Krisen mehr und die Zahlen von Terroropfern weltweit gestiegen wären. Im Gegenteil. Wir sind so gesund wie nie, werden so alt wie nie. Und es sterben sogar weniger Menschen verfrüht durch Amok und politischen Terror, als in den Jahrzehnten zuvor. Dass Angst und Schrecken sich breitmachen und Hass geschürt wird, dass die politische Mitte erodiert, während die Ränder gestärkt werden, ist kein Ergebnis des reellen, sondern des digitalen Lebens.

Näher dran, schneller dabei, immer mittendrin, vernetzt, frei, mobil und für immer neue Infos, von überall her, egal von wem, offen, bedeutet eben auch: betroffen. Selbst dann, wenn man es in Wahrheit gar nicht ist. „Rauschhafte Nähe“, nennt das Sascha Lobo, der genau wie ich meint, dass es in Zeiten der Digitalisierung neue Instrumente und einen besseren Umgang mit Informationen – ganz besonders in nachrichtlichen Notsituationen – braucht.

Wenn ein 18-Jähriger Deutsch-Iraner um sich und schließlich sich selbst erschießt, wenn dabei neun unschuldige Menschen sterben, vorwiegend Muslime, und das Motiv mutmaßlich ein rassistisches ist, ist das ein Drama irgendwo zwischen Terror und Amoklauf, das Polizei, Politik und Gesellschaft aufarbeiten und, sofern möglich, künftig verhindern müssen. Was es nicht ist: Ein Grund, dass Teile der Bevölkerung im ganzen Land chronisch schlecht schlafen, Beruhigungstabletten nehmen, Feste und Menschenmengen meiden und sich Unsicherheit, Misstrauen und Zweifel tief in den Poren der Gesellschaft festsetzen.

Angst wächst wie Hass und Zweifel im Netz exponentiell und bekommt so unglaubliche, ungesunde Dimensionen. Die Grenzen, die wir im Internet brauchen, sind auch solche, die Dein und Mein wieder klarer und deutlich voneinander trennen.

Dass das System überhitzt, konnte man besonders deutlich auch an all den Falsch-, Provokation- und Spaßmeldungen nach München sehen, die die ganze Stadt in Aufruhr und Panik versetzten, und dazu führten, dass die ohnehin über ihre Kapazitäten hinaus arbeitende Polizei in die Irre geführt und vom eigentlichen Geschehen abgelenkt wurde. In einem Gruppen-Chat einer Schulklasse etwa kündigte ein 21-Jähriger einen Amoklauf an – nur, um zu provozieren, wie er später angab. Ein 17- jähriger Münchner indes prahlte damit, dass er eine Pistole in die Schule mitbringen würde. Er sagte gegenüber der Polizei später, er habe das aus Spaß gemacht. Auf Facebook postete ein 14- Jähriger, dass er demnächst alle Bekannten in einem Schnellrestaurant einladen würde…

Die unbegrenzten Möglichkeiten des Netzes, sie machen es eben auch möglich, dass sich Provokation, Hetze und Schwachsinn entladen und so das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf informelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu kollektiver Schikane, Panik und Bedrohung verkehrt.

Allerdings – und das ist das absurde – wollen wir es ja auch nicht anders: Das Geiern um Info und Partizipation zieht über die Sozialen Netzwerke hinaus weite Kreise und reißt in der vorgeblich notwendigen totalen Vernetzung, in einem Strudel permanenter Reizüberflutung, sogar die etablierte Presse in eine gefährliche Richtung mit: Jochen Wegner, Chef von Zeit Online, schrieb ob heftiger Medienkritik nach den Amokläufen/Attentaten in Süddeutschland fünf Punkte auf, in denen sich Journalisten „schuldlos schuldig“ machten, wie er es nannte. Punkt drei heißt so schön: „Wir spielen mit bei einer Inszenierung, die wir durchschauen.“

Was er eigentlich sagt, ist: Die Presse treibt die Maschinerie von Echtzeit-, Vorab- und Eilmeldungen mit an, in der wenig bis nichts bekannt ist, in der viel spekuliert wird, und unterstützt dabei den Terror, indem sie ihn verbreitet. Das ach so große Bedürfnis nach Information da draußen will befriedigt werden. Wer nicht liefert, wird aussortiert. Und so begeben sich die Medien in eine Informationsblase, in der sie ihrer eigentlichen Aufgabe gar nicht mehr gerecht werden, nur weil da draußen Infogeier kreisen, die nicht warten können, warum auch immer. Dass sie dabei tatsächlich die PR-Strategie des IS zwar durchschauen, aber “nichts dagegen tun können”, Teil dieser Inszenierung zu sein, das ist schon fast unerträglich. Auch, weil sie damit eben jene Angst beflügeln, die ohnehin grassiert wie Influenza. Und die der Terror zum Ziel hat, damit sie sich in Form von Wut und Hass entlädt, damit die demokratischen, pluralistischen Gesellschaften sich radikalisieren und zerbrechen. Wer das mit macht, ist nicht schuldlos schuldig. Denn er hatte und hat immer wieder aufs Neue eine Wahl.

Kaum hat eine namhafte französische Zeitung entschlossen, das Spielchen nicht mehr mitzuspielen, nicht mehr die Bilder von Attentätern zu zeigen, weder auf Papier, noch online, um sich eben nicht mehr zu Gehilfen des Terrors zu machen, sagen die ersten, das sei eine unmögliche Selbstzensur und als Bedrohung für die Pressefreiheit unverantwortlich – so, als gehöre das eigenständige ziehen von Grenzen nicht zur Freiheit dazu.

„Regierungen der Industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes“, schrieb John Perry Barlow in seiner Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. „Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln.“ Das war 1996. Und es ist bis heute die Beschreibung dessen, als was das World Wide Web weithin immer noch gilt: neutral. Grenzenlos. Außer Kontrolle.

Ich bin mir nicht sicher, in wie weit das unsere Gesellschaft tatsächlich noch erträgt. Denn das gesellschaftliche Urvertrauen, das Grundsicherheitsgefühl in sich und die Welt, das ist es, was in Wahrheit aus den Fugen geraten ist.

Aber wie dagegen angehen? Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Das Internet abschaffen ist eine reflexhafte, aber wohl kaum realistische und vielleicht auch bloß verzweifelte Idee. Dem Internet aber Grenzen setzen, darüber darf – obwohl vor allem im Bereich der Eigentumsrechte und der Sicherheit schon viel getan wird – weiter diskutiert werden.

Es dürfte etwa enttabuisiert werden, dass die Unternehmen, die die Technik und Strukturen des Internets zur Verfügung stellen, noch mehr in die Pflicht genommen werden dürfen, Grenzen zu ziehen. Dass das möglich ist, geografisch wie inhaltlich, weiß jeder, der in Deutschland schon einmal eine Serie bei einem Online-Anbieter ansehen wollte, die es bis dato aber zum Beispiel nur in den USA zu streamen gab. Oder wer ein Youtube-Video gucken wollte und die Nachricht bekam: „Dieses Video ist in Ihrem Land nicht verfügbar“. Außerdem gibt es Regeln, die man zu befolgen hat, will man Fotos bei Facebook oder Videos bei Amazon platzieren. Zugegeben: Die Kontrolle von Bildern ist einfacher, als die von Texten, weil Text immer nur im Kontext funktioniert. Die Idee von technischer Zensur ist auch bloß eine recht ungereifte, gebe ich zu. Bloß ein Beispiel dafür, dass Technik Grenzen möglich macht. Politik kann wiederum ethische Grenzen ziehen – etwa, wenn es um die Entwicklung und Marktzulassung von (technischen) Produkten geht, so, wie etwa bei der Embryonenforschung, der Biotechnologie oder Stammzellenforschung. Aber auch, wenn es um Verhaltensregeln und soziale Kodizes geht, die das Netz so dringend braucht.

Das notwendige zweite Parameter für die Existenz von Grenzen ist neben der Kontrolle die Beachtung und Anerkennung. Vielleicht ist letzteres sogar viel wichtiger. Die Notwendigkeit, Legitimität und der gesellschaftliche Gewinn von Grenzen im Netz muss darum weiter diskutiert werden. Und Ideen entstehen. Manche finden sich schon hier.

Grenzen sind etwas Gutes. Denn nur wer an Grenzen stößt, spürt sich und bildet in einem Spannungsfeld zwischen ihnen Identität. Grenzen machen es erst möglich, über sich hinaus zu wachsen, statt sich zu vergeuden – ein bisschen wie bei Pflanzen und Bäumen, die man ab und zu mal stutzen muss, weil Trieb ohne Kontrolle zu weniger Blühte und mehr Parasiten führt.

Wie gut es sich anfühlt, wenn man nicht mehr so getrieben, sondern informiert ist, hat mir meine Tochter beigebracht. Seit sie da ist, bekomme ich nicht mehr alle Push- und Eil-Benachrichtigungen mit, ich schaffe es gar nicht, andauernd Live-Ticker und Facebook-Kommentare zu checken, lese oft die Zeitung vom Vortrag, und – oha – unterhalte mich! Mit Baby viel unterwegs, begegne ich einer Menge anderer Menschen, die sich nun unter ganz neuen Gesichtspunkten mit der Welt und der Zukunft auseinandersetzen. Die ebenso Ruhe bewahren müssen, weil Panik sich nun einmal direkt aufs Kind überträgt. Deren Schlafmangel auf ein Geschenk der Liebe zurück zu führen ist und nicht auf ein Produkt des Terrors. Und die, schlicht und ergreifend, öfter mal die Geräte ausschalten.

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