#climatechange

»Das größte lösbare Problem der Welt«, für das sich niemand interessiert

Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur, wie viel Geld uns eine Welt ohne Hunger wert ist, sondern auch wie viel mediale Zeit und Aufmerksamkeit.

von , 1.6.22

Die großen Qualitätsmedien vernachlässigen den Globalen Süden in ihrer Berichterstattung, und zwar massiv und dauerhaft. Beinahe vollständig ignoriert wird die bereits im Gang befindliche globale Hungerkatastrophe, von der bereits heute rund 800 Millionen Menschen betroffen sind und die aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine weiter zu eskalieren droht. Dabei wäre das Problem relativ einfach zu lösen. 

Das Thema ist aktueller denn je: Die Ukraine gilt als bedeutender Weizenproduzent. Seit der Blockade ukrainischer Häfen durch Russland sind die globalen Weizenpreise noch einmal stark angestiegen und es drohen drastische Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung in zahlreichen Regionen der Welt. Außenministerin Annalena Baerbock sprach in diesem Zusammenhang von einem »Kornkrieg« in der Ukraine. Am stärksten gefährdet sind die Länder, die ohnehin unter Hunger zu leiden und nicht die ökonomischen oder agrarwirtschaftlichen Möglichkeiten haben, den Ausfall auszugleichen bzw. die steigenden Preise abzufedern. Es kündigt sich eine gewaltige Katastrophe an, könnte man denken. Doch das ist falsch, denn die gewaltige Katastrophe ist schon längst da. Sie wird in den Medien und damit auch in der Öffentlichkeit nur kaum wahrgenommen. Nachdem die Zahl der Hungernden viele Jahre lang sank, steigt sie seit etwa fünf Jahren wieder. 

Dramatische Zahlen von Hungernden

Die Lage ist erschreckend: Laut dem Welternährungsbericht der Vereinten Nationen ist die Zahl der chronisch Hungernden im Jahr 2020 weltweit auf 720 bis 811 Millionen Menschen gestiegen. Mit ca. 418 Millionen Menschen gibt es die meisten chronisch Hungernden in Asien, gefolgt von Afrika (282 Millionen) und Lateinamerika und der Karibik (60 Millionen). Damit hungert etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt. Über zwei Milliarden Menschen leiden unter Mangelernährung. Alle dreizehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger, in einem Jahr also fast 2,5 Millionen Kinder. Das Welternährungsprogramm machte deutlich, dass jährlich mehr Menschen »an den Folgen des Hungers sterben […] als an AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen.«

Die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens und des Hungers

In der Öffentlichkeit werden diese Zahlen jedoch kaum wahrgenommen oder medial thematisiert. So auch in der Nachrichtensendung mit der größten Reichweite im deutschsprachigen Raum, der »Tagesschau«, die im Jahr 2020 im Mittel täglich von fast 12 Millionen Menschen verfolgt wurde. Im gesamten Jahr 2020 griffen das Thema Hunger lediglich 9 der insgesamt über 3.000 ausgestrahlten Beiträge (ohne Sport und Wetter) auf (zum Vergleich: mit der Corona-Pandemie beschäftigten sich im selben Zeitraum fast 1.300 Beiträge). Die Berichte zum Thema Hunger sind häufig nicht nur sehr kurz, sondern werden in der Regel auch nur in der zweiten Sendungshälfte ausgestrahlt. 

Und die Vernachlässigung des Themas hat Routine. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie die Kernreaktorkatastrophe von Fukushima kennen. Auch die griechische Staatsschuldenkrise und der sogenannte Arabische Frühling dürften Ihnen wohl bekannt sein. Diese Themen dominierten die Auslandsberichterstattung im Jahr 2011. Wussten Sie aber, dass etwa zur selben Zeit infolge einer Hungersnot am Horn von Afrika in Somalia fast 260.000 Menschen starben, von denen die Hälfte Kinder unter 5 Jahren waren? Das Ereignis, das der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres als »schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt« bezeichnete, gehört zu den vergessenen Katastrophen, die im kollektiven Gedächtnis des sogenannten Westens nicht existent sind. Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass in den Medien hierüber kaum berichtet wurde. 

Eine Langzeitstudie des Autors mit dem Titel »Vergessene Welten und blinde Flecken« hat über 5.500 Sendungen der Hauptausgabe der »Tagesschau« aus den Jahren 1996 und 2007-2021 sowie Berichte verschiedener in- und ausländischer Medien untersucht. Die Ergebnisse sind sehr ernüchternd: Der Globale Süden spielt in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Eine gewisse Ausnahme bildet die sogenannte MENA (Middle East & North Africa)-Region, wo mehrere Kriege und militärische Auseinandersetzungen, teilweise mit Beteiligung des Westens, stattfanden. Dass in der »Tagesschau« allgemein die Sendezeit für die Sportergebnisse diejenige für den Globalen Süden ohne die MENA-Region übertrifft, ist symptomatisch und gibt zu denken.



Eine »Hunger-Pandemie« im Schatten der Corona-Pandemie

Über den globalen Hunger wird in den Nachrichten fast gar nicht berichtet. Dabei hat sich die Situation in den beiden vergangenen Jahren zugespitzt. Die Auswirkungen der COVID-Pandemie haben die Zahl der Hungernden weiter ansteigen lassen. Am 13. Juli warnten die Vereinten Nationen in ihrem Welternährungsbericht, dass die Zahl der Hungernden infolge der Pandemie um 130 Mio. Menschen steigen könnte. Entgegen der Dramatik der Lage berichtete die »Tagesschau« hierüber aber lediglich in einem 35 sekundenlangen Beitrag. Bezeichnend für die mediale Marginalisierung des globalen Hungers ist der Bericht über die Auszeichnung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen mit dem Friedensnobelpreis am 9. Oktober 2020. Dieser wurde als letzter von insgesamt acht Beiträgen in der »Tagesschau« ausgestrahlt. 

Während der Corona-Pandemie ist der Globale Süden in der Aufmerksamkeit allgemein noch weiter an den Rand gedrängt worden. In den Jahren 2020 und 2021 berichtete die »Tagesschau« zum Beispiel in lediglich etwa 4 % ihrer Sendezeit, die sich mit den Auswirkungen der Pandemie beschäftigte, über die Lage in den Ländern des Globalen Südens. Von den insgesamt 54 Staaten, die in der »Tagesschau« im Jahr 2021 kein einziges Mal erwähnt wurden, gehören 52 zum Globalen Süden. Hierzu zählt auch beispielsweise die Demokratische Republik Kongo, in der über 90 Mio. Menschen leben. Das eigentlich sehr rohrstoffreiche Land gehört zu den ärmsten der Welt, ist von Hungerkrisen bedroht und wird im Osten immer wieder durch heftige militärische Auseinandersetzungen verfeindeter Gruppen erschüttert. Es wäre aber nicht überraschend, wenn Sie hiervon zum ersten Mal hören. 

In den vergangenen beiden Jahren dominierte zunächst die Corona-Pandemie die Nachrichten und aktuell der Krieg in der Ukraine. Hierbei handelt es sich zweifelsfrei um sehr wichtige Ereignisse mit weitreichenden Auswirkungen, die starke Konzentration der medialen Aufmerksamkeit ist aber mit der Gefahr verbunden, zeitgleiche heftige Katastrophen im Globalen Süden, wie den Tod von über 6.600 Kleinkindern täglich in Folge von Mangelernährung, auszuklammern. Die Welthungerhilfe sprach im Jahr 2021 daher von einer »stillen Tragödie«, die immer mehr in den Hintergrund rückte und der Exekutivdirektor des World Food Programme warnte bereits 2020 in einer medial wenig beachteten virtuellen Sitzung des UN-Sicherheitsrates vor einer »Hunger-Pandemie« im Schatten der Corona-Pandemie. 

Hunger weniger interessant als Krieg und Terror?

Die mediale Aufmerksamkeit für Staaten des Globalen Südens ist nicht nur sehr selektiv, sondern auch ausgesprochen flüchtig. Im vergangenen Jahr wurde intensiv über die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan berichtet, dass laut den Vereinten Nationen gegenwärtig etwa 23 Millionen Menschen (und damit mehr als die Hälfte der Bevölkerung) im Land unter »akutem Hunger« leiden, wird aktuell aber nur peripher registriert. Das Thema Hunger scheint hier in den Augen der Redaktionen offensichtlich weniger Relevanz zu besitzen als die Taliban.

Noch nie ist der globale Hunger in den politischen Talkshows wie »Anne Will«, »Hart aber Fair«, »Maybrit Illner« oder »Maischberger« zum Diskussionsthema gemacht worden. Es gibt auch keine ARD-»Brennpunkt«-Sondersendungen zu dem Thema, obwohl jeden Tag Millionen von Menschen hiervon betroffen sind. 

Wie kommt es, dass in den Medienredaktionen der Globale Süden und die Bedeutung des Hungers so dramatisch vernachlässigt werden? Wir müssen uns die Frage stellen, wieso sich unsere Medien und letztlich auch wieso wir uns alle mit Kriegen und Terroranschlägen, die sich in Europa oder im Westen ereignen, beschäftigen, aber eine Katastrophe mit mehreren tausend Toten täglich so dramatisch vernachlässigen? Fast scheint es, dass der Hungertod von Tausenden Menschen, der sich tagtäglich ereignet, für alltäglich genommen wird und daher seinen Status als »berichtenswerte« Nachricht verloren hat.  

Ein großes, aber vergleichsweise gut lösbares Problem

Besonders aufwühlend erscheint die Lage auch, weil es sich beim globalen Hunger um ein durchaus lösbares Problem handelt. In der Tat bezeichnete das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen Hunger als »das größte lösbare Problem der Welt«. So gehen Schätzungen davon aus, dass die vergangenen Rekordernten ausreichen würden, um bis zu 14 Milliarden Menschen zu ernähren. Die Berechnungen, wie viel Geld notwendig wäre, um den Hunger auf der Welt zu besiegen, divergieren und richten sich auch nach den jeweiligen konkreten Zielsetzungen. Laut dem International Institute for Sustainable Development (IISD) werden global jährlich 12 Milliarden Dollar zur Hungerbekämpfung ausgegeben. Zusätzliche 14 Milliarden Dollar pro Jahr könnten, so einer im Jahr 2020 vorgestellten Berechnung des kanadischen Instituts in Kooperation mit dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) und der Cornell University zufolge, bis 2030 ca. 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung befreien. Der ehemalige deutsche Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, der Hunger wiederholt als Mord bezeichnete, bezifferte die notwendige Summe zur Beendigung des Hungers bis zum Jahr 2030 auf 40 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr. Die Summe mag hoch erscheinen, verblasst allerdings neben den von dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI auf 1.984 Milliarden Dollar geschätzten globalen Militärausgaben im Jahr 2020. SIPRI wies darauf hin, dass die Ausgaben trotz Pandemie gegenüber dem Vorjahr um 64 Milliarden Dollar gestiegen sind und einen Höchststand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1988 markieren. 



Die Verantwortung der Medien

Medien bilden als sogenannte Vierte Gewalt öffentliche Diskurse nicht nur ab, sondern generieren diese mit. Nachrichten können die Öffentlichkeit auf gesellschaftliche und politische Ereignisse bzw. Entwicklungen aufmerksam machen und dadurch auf direktem oder indirektem Wege politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Im umgekehrten Fall kann aber auch das Ausbleiben einer Berichterstattung erhebliche Auswirkungen haben. 

Medien könnten durch eine konsequente Berichterstattung das öffentliche Bewusstsein für die Hunger-Problematik schärfen und sie in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses bringen. Wie lange könnte sich die Politik der Lösung des »größten lösbaren Problems der Welt« verweigern, wenn der globale Hunger zu einem Topthema in den Medien und damit auch in der Öffentlichkeit gemacht werden würde? Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur, wie viel Geld uns eine Welt ohne Hunger wert ist, sondern auch wie viel mediale Zeit und Aufmerksamkeit.

Weitere Informationen zur Studie »Vergessene Welten und blinde Flecken« über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens, eine Videozusammenfassung, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung finden sich auf der Website der Interdisziplinären Vortragsreihe (IVR) Heidelberg: www.ivr-heidelberg.de

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.
Topics: