von Tobias Endler, 12.9.17
Es ist erstaunlich, wie schnell man sich an das gewöhnt, was vor Kurzem noch unvorstellbar erschien. Das Stück Butter kostet bald doppelt so viel wie noch vor einem Jahr. RB Leipzig ist deutscher Vizemeister. Donald Trump ist Präsident der USA. Ein Reality Show Star im mächtigsten Amt der Welt, das ist Tatsache. Schon in knapp vier Jahren könnte Trump Geschichte sein, doch bis dahin – und in den Langzeitfolgen darüber hinaus – bleibt er nicht zuletzt eine ständige Bedrohung für den demokratischen Diskurs Amerikas.
Innerhalb eines guten halben Jahres ist es dem Präsidenten gelungen, Twitter als hauptsächlichen Kommunikationskanal zu etablieren. Trumps Gezwitscher reizt oftmals nicht einmal den Rahmen von 140 Zeichen aus; die komplexe Welt wird in einen Trichter gegossen; heraus kommt unten ein Gemisch von Halbsätzen, angedeuteten Drohungen und drohenden Andeutungen. Dann beginnt die Kaffeesatz-Leserei: Wie lässt sich das Gebräu auslegen? Was von dem, das Trump zum Besten gibt, meint er auch so, und was heißt das für die Welt?
Ein Beispiel: Mitte August raunt der Präsident, Nordkorea solle sich zusammenreißen, ansonsten werde das Land „Erfahrungen machen, die es niemals für möglich gehalten hätte.“ Anfang September legt er nach, „Nordkorea verstehe nur Eines“. Dieser Satz muss – kann? – als Androhung militärischer Gewalt verstanden werden, und ab hier rätseln Politik, Medien und Bürger, was Trump hierbei genau im Sinn hat, welches Ausmaß ein Militärschlag annehmen könnte, wann er wo erfolgen könnte, mit welchen Folgen usw. Derweil droht Trump bereits mit der Abschiebung von bis zu 800.000 Kindern illegal Eingewanderter. Die atemlose Hektik, mit welcher der Präsident Themen anreißt und verwirft, hat Kalkül. Raum für das abwägende Beurteilen der Situation bleibt nicht. Dabei ist hier die Rede von einem potenziell atomaren Konflikt, vom Leben hunderttausender junger Menschen.
Ginge es nach dem Staatsoberhaupt der ältesten existierenden Demokratie der Welt, der demokratische Diskurs im Land würde über kurz oder lang verdorren.
Viele Beobachter verwechseln dabei die ständige – auch mediale – Aufregung um Trump herum mit einer lebendigen Diskussionskultur, immer neu aufflammende verbale Provokationen und das unwillkürlich folgende Strohfeuer der Auslegung mit informierter Kritik. Trump setzt Themen, und er legt Schneisen. Alternativen kommen kaum vor und müssen von außen mühsam in die Debatte eingebracht werden; sie können dann nur noch als Ergänzungen gelten, als nachgeschobene Alternativen oder korrigierende Elemente. Selbst in Abgrenzung zu Trumps teils ungeheuerlichen Aussagen stehen sie somit immer in Relation dazu, sind nicht mehr eigenständige, autonome Statements.
Bisher scheint Trump mit all dem durchzukommen. Er bleibt der größenwahnsinnige Gastgeber von The Apprentice, bei dem schon so viele in die Lehre gehen wollten, für den die Welt ein TV-Studio ist: Wer sich nicht fügt, wird gefeuert, so einfach ist das. Und ja, Trumps Publikum hat ihn von der Fernsehbühne auf die größte aller politischen Bühnen gewählt. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur logisch, den Fehler im System zu suchen, der ein solches Ergebnis möglich gemacht hat. Wer wäre nicht versucht, mindestens der Hälfte der US-Amerikaner die Fähigkeit zu kritischer Distanz, zu autonomem Denken zumindest teilweise abzusprechen?
Tatsächlich gehen manche Beobachter, sowohl in den USA als auch auf unserer Seite des Atlantiks, mittlerweile weiter. Sie sind offen skeptisch, wie Demokratie unter solchen Vorzeichen überhaupt noch funktionieren kann – und sehen sich nach tragfähigen Alternativen um. Angesichts der Entwicklungen der vergangenen anderthalb Jahre im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist diese Idee womöglich weniger absurd als zunächst angenommen. Schließlich muss man sich laut Freedom House ernsthafte Sorgen um die alte Dame Demokratie machen, und das längst nicht nur in den USA: Für das Jahr 2016 bewertet die Organisation nur noch 45% der untersuchten 195 Länder als „free“ im Sinne etablierter Demokratien. Bis vor Kurzem noch als stabil eingestufte Kandidaten wie Ungarn mutieren laut Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung zu „illiberalen Demokratien“, Polen, Mazedonien und andere zeigten „Tendenzen um Durchregieren“. Die Türkei rettet sich gerade eben noch auf das Prädikat „defekte Demokratie.“ Überall gibt es durchaus Menschen, die diesen Tendenzen etwas abgewinnen können.
Hinzu kommt: Alle hier genannten Staaten sind Zwerge auf europäischem Terrain angesichts des asiatischen Giganten China, der bis heute – ungeachtet düsterer Prognosen schon vor einem Jahrzehnt, dass ein solches Modell zum Scheitern verurteilt sei – restriktiv-autokratische Politik mit einer vergleichsweise liberalen Wirtschaft verbindet. Peking funktioniert dabei so gut, dass Washington sich gezwungen sah, das 21. Jahrhundert zu „Amerikas pazifischem Jahrhundert“ auszurufen, um zumindest rhetorisch gegenzuhalten. Zuhause in den USA verbucht der Kongress historisch niedrige Zustimmungswerte; die Menschen stehen zu ihrem gewählten Abgeordneten etwa so wie zum Gebrauchtwagenhändler am Stadtrand: Man hofft, möglichst wenig miteinander zu tun haben zu müssen. Von Vertrauen kann keine Rede sein; Interaktion findet nur in Ausnahmefällen statt.
Ist die Demokratie also wirklich der Stein der Weisen, die einzig vernunftgebotene Option für das 21. Jahrhundert?
In jedem Fall ist sie das geringste Übel, und schon deshalb unbedingt schützenswert. Ihr großer Wert ist immer noch, was James Surowiecki in seinem 2004 erschienenen Buch die „Weisheit der Vielen“ genannt hat. Kollektives Wissen formt demnach einen Interessenverbund, eine jedwede Gesellschaft und selbst ganze Nationen in einer Form, zu der Einzelne oder auch elitäre Kleingruppen nicht fähig sind. Gruppenentscheidungen sind Lösungsansätzen Einzelner oftmals (wenn auch nicht in jedem Fall) überlegen. Dies zumindest insofern, als dass der Mehrheitswillen relativ gut abgebildet wird, selbst wenn der/die Einzelne nicht zwingend ausreichend informiert ist. Wir neigen dazu, diesen wichtigen Punkt zu übersehen, weil wir nicht vom Prozess, sondern nur vom Ergebnis her denken. Dieses Ergebnis des Mehrheitswillens kann aus unserer (unter Umständen sehr informierten) Warte durchaus mangelhaft sein. Sofort kommt einem eben Trumps Sieg oder auch die Brexit-Entscheidung der Briten in den Sinn, womöglich auch der jüngste Eurovision Song Contest (Was versteht der Rest Europas schon von guter deutscher Musik?).
Doch sind es genau solche Überlegungen – oder auch nur die Tatsache, dass Menschen den Eindruck gewinnen, dass so gedacht wird –, die zum Wahlerfolg des Anti-Demokraten Trump beigetragen haben. Sein Sieg sollte uns eine Warnung vor den Gefahren derart elitärer Gedankenspiele sein.
Menschen brauchen die Möglichkeit, sich als Bürger zu artikulieren.
Der Gang zur Urne ist nur eine Facette hiervon, wobei in der Wahrnehmung am Ende entscheidend ist, Herr über die eigene Stimme zu sein, am Wahltag jedes Mal aufs Neue frei abstimmen zu können. Kann ein Staat seinen Bürgern diesen Eindruck nicht vermitteln, wird es heikel: Die einen verweigern sich, die anderen machen ihre Stimme zu einer reinen Proteststimme gegen das Bestehende. Trotz aber fehlt jedes konstruktive Element. Und doch war Trotz in den Umfragen nach der US-Wahl ein Hauptargument für viele aus dem Trump-Lager. Für sie ist The Donald schlicht die Verkörperung des „Nein“, die Verweigerung des Status Quo.
Wahlen als bloßer Denkzettel, ein selbst-erklärter Anti-Politiker im höchsten politischen Amt, Bürger, die in Umfragen auch nach dem Urnengang (!) felsenfest überzeugt sind, Trump persönlich ins Amt gewählt zu haben und die Bundeshauptstadt Washington nicht vom Staat Washington an der Westküste unterscheiden können: Was hat das mit der Weisheit der Vielen zu tun? Die Antwortet lautet: Diese Frage führt in die Irre. Meine Qualifikation als „guter“ Staatbürger und also Wähler lässt sich nicht derart schematisch klassifizieren.
Um den Blick vom Herbst 2016 auf den Herbst 2017 zu lenken: Ich kann nur eine leise Ahnung von den Details des Länderfinanzausgleichs haben und im Privaten nicht nur ausgeglichene Finanzen haben, sondern als Steuerzahler von Anfang an meinen Anteil zum Finanzausgleich geleistet haben. Ich kann vom Unterschied von Erst- und Zweitstimme bei der deutschen Bundestagswahl so wenig verstehen wie die meisten anderen Deutschen und mir auf meiner Lebensklugheit ein respektables Leben als stabilisierendes Element der Gesellschaft aufgebaut haben. Kompetenzen dieser Art lassen sich nicht per Multiple Choice Test abfragen; Wissen besteht nicht ausschließlich aus politischer Informiertheit. Im Idealfall geht freilich beides zusammen.
Es mag manchem Beobachter schwerfallen, Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen zu sehen; am Ende gilt es dies in einer Demokratie aber auszuhalten. Und neue Methoden zu ersinnen, diese Menschen für den informierten Dialog (zurück-) zu gewinnen. Eine Gesellschaft, die nicht nur funktioniert, sondern lebendig und damit wandelbar ist, kann nur inklusiv sein. Wir haben es hierbei mit einem langwierigen und manchmal mühsamen, aber letztlich urdemokratischen Entscheidungsfindungsprozess zu tun. Der Wert deliberativer Demokratie liegt gerade darin, dass öffentliche Meinung nicht entschieden, sondern permanent neu ausgehandelt wird. Es gilt nicht anything goes, und es sind nicht alle gleich: Experten sind durchaus gefragt. Als informierte Profis im demokratischen Prozess können sie diesen moderieren, neue Impulse einbringen, als Vermittler auftreten. Am Anfang steht die Lehre im Dialog der Vielen. Am Ende steht bestenfalls der Meistergrad.
Wer sich nicht fügt, wird gefeuert: So einfach ist es nicht, darf es nie sein.
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