#Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

Das ESM-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: ein fiebersenkendes Mittel

von , 12.9.12

Wer das heutige Urteil aus Karlsruhe zu ESM und Fiskalpakt liest, wird sich zu Recht diese Fragen stellen.

Denn tatsächlich ist dieses Urteil das strikte Gegenteil dessen, was sich die Euro-Apokalyptiker und Verfassungskanonisierer erwartet hatten: Es ist ein höchst eindrucksvolles Dokument richterlicher Selbstbescheidung und Kenntnis der eigenen Grenzen, ein respektgebietendes Zeugnis von Klugheit und Verantwortungsbewusstsein und, gemessen an der fieberhaften Spannung, mit der die deutsche, europäische, ja globale Öffentlichkeit darauf gewartet hat, wirklich sterbenslangweilig.

Die beiden Verträge können, wie erwartet, in Kraft treten. An zwei Stellen klebt das Gericht Pflaster drauf, und auch dort flickt es keine Löcher, sondern verstärkt gleichsam nur dünne Stellen, damit da nichts passieren kann: Die Begrenzung der Haftungssumme auf 190 Milliarden Euro, die laut Art. 8 V ESMV “unter allen Umständen” gelten soll, muss tatsächlich unter allen Umständen gelten. Und die Schweigepflicht der ESM-Gouverneure, die nach allen Geboten der Vernunft nur gegenüber der (Kapitalmarkt-)Öffentlichkeit und nicht gegenüber dem Parlament gelten kann, darf nicht gegenüber dem Parlament gelten. Das muss jetzt per völkerrechtlichem Vorbehalt klargestellt werden, und dann steht dem Start des ESM nichts mehr im Wege.

Das ist alles.

Ich empfehle allen, die dem Ende von Demokratie und Rechtsstaat entgegenzittern, sich die Urteilsgründe vom Anfang bis zum Ende durchzulesen. Das schmeckt zwar nicht lecker, ist aber gut für die Gesundheit. Eine Art fiebersenkendes Mittel.

Auch verfassungsrechtlich enthält das Urteil nur sehr wenig Neues. Weite Teile des Maßstäbeteils der Entscheidung lesen sich wie mit cut & paste aus dem Griechenlandrettungs-Urteil vom 7. 9. 2011 herauskopiert. Monographiestarke Grundsatzentscheidungen wie das Maastricht- und das Lissabon-Urteil, voller demokratietheoretischer Hochseilakrobatik und detaillierter Blaupausen, wie Europa beschaffen zu sein hatte? A far cry.

Zwei Dinge erscheinen mir bemerkenswert: Erstens enthält das Urteil eine Klarstellung, was mit der Ewigkeitsklausel des Art. 79 III in Bezug auf das Demokratieprinzip genau gemeint ist.

Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet nicht den unveränderten Bestand des geltenden Rechts, sondern Strukturen und Verfahren, die den demokratischen Prozess offen halten und dabei auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Parlaments sichern.

Das liest sich doch ganz anders als die seitenlange Auflistung von nicht europäisierbaren Gesetzgebungsmaterien im Lissabon-Urteil. Von der Souveränitätsrhetorik dieses Urteils ist in der heutigen Entscheidung so gut wie nichts mehr zu finden.

Stattdessen wird jetzt klar gestellt, dass der Unterrichtungsanspruch des Parlaments gegenüber der Regierung (bzw. sein “Kern”) ein Anwendungsfall des Art. 79 III ist (RNr. 215). Das heißt, man kann nicht z.B. ein Notfallverfahren in der Verfassung schreiben, in dem der Bundestag im Dunklen gelassen werden dürfte, oder so etwas. Das ist jetzt auch nicht wirklich überraschend.

Zweitens fällt mir die Betonung auf, die der Senat auf das EU-primärrechtliche Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung legt. Das könnte auf die EZB und ihre Ankündigung, unbegrenzt Staatsanleihen wackelnder Euroländer zu kaufen, gemünzt sein. Allerdings hat der Senat zeitgleich auch den gestern gefällten Beschluss, Peter Gauweilers Einstweiligen-Aufschiebungs-Einstweilige abzulehnen, veröffentlicht. Dem Senat, heißt es da, sei

… nicht ersichtlich, dass die Vereinbarkeit des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus mit dem Grundgesetz, soweit sie mit der Verfassungsbeschwerde nach Artikel 38 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 sowie Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes gerügt werden kann, von der Ankündigung der Europäischen Zentralbank über ihr künftiges Vorgehen im Bezug auf den Ankauf von Staatsanleihen abhängen könnte.

Vielleicht ruft das BVerfG in der Hauptsacheentscheidung den EuGH an, um die Politik der EZB europarechtlich überprüfen zu lassen. Das hat es bisher stets vermieden, aber alle rechnen damit, dass es das über kurz oder lang tut. Ich hätte gedacht, dass es für die Premiere einen Low-Profile-Case wählt, aber ich könnte mir vorstellen, dass es diesen speziellen Fall, wo es doch den Gleichlauf der europa- und verfassungsrechtlichen Stabilitätsanforderungen an die Währungsunion immer so betont, schon auch für ganz gut geeignet hält.

Bis das dann alles durchentschieden ist, ist es ohnehin zu spät. Dann hat die EZB-Intervention, so Gott will, ihre Wirkung getan und kann gefahrlos für europa- bzw. verfassungswidrig erklärt werden. Ob man das für gut hält oder für schlecht, kommt auf die Perspektive an.

Fazit: Inhaltlich korrigiert das heutige Urteil nichts an der bisherigen Europarechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Aber methodisch und stilistisch schon.

Und mich würde nicht wundern, wenn das BVerfG gestern Abend den historischen Zenith seiner Popularität gesehen hat.

 
Crosspost vom Verfassungsblog

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