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Das Ende der freien Gesellschaft

von , 16.7.13

 

Erin­ne­run­gen an die Wende

Es war 1989, zwei Tage nach Öff­nung der inner­deut­schen Grenze, als ich mich wie viele andere Ost­deut­sche auf­machte, um das gelobte Land hin­ter dem Sta­chel­draht und den Selbst­schuss­an­la­gen zu besich­ti­gen. Unsere Nach­barn nah­men uns in einem klapp­ri­gen Skoda mit, und als wir end­lich den Grenz­über­gang über­quer­ten, stan­den Kin­der an den Stra­ßen­rän­dern, die uns befreite Ossis mit hef­ti­gem Fähn­chen­win­ken begrüß­ten.

Unser Ziel war Coburg und dort auf direk­tem Wege irgend­ein Amt, auf dem wir unser Begrü­ßungs­geld in Emp­fang nah­men. Mit dem „West­geld” in der Hand lief ich zu einem Kiosk und kaufte mir als erste Ware in der freien Markt­wirt­schaft eine Süd­deut­sche Zei­tung. Ehr­furchts­voll hielt ich die dicken Bögen in der Hand, jeder Qua­drat­zen­ti­me­ter bedruckt mit Tex­ten eines mir bis dato unbe­kann­ten freien Jour­na­lis­mus.

Ja, ich weiß, ich war damals noch ganz schön naiv.

Es dau­erte eine Weile, bis ich wie viele andere Ost­deut­sche begriff, dass im Herbst 1989 keine fried­li­che Revo­lu­tion statt­ge­fun­den hatte, son­dern nur ein gutes Geschäft — zwi­schen der dama­li­gen Sowjet­union, die drin­gend West­mil­li­ar­den benö­tigte, und kapi­ta­lis­ti­schen Sys­te­men, die drin­gend neue Absatz­märkte brauchten.

Dank­bar war ich aus einem Unrechts­staat, der seine Bür­ger flä­chen­de­ckend bespit­zelte, in ein Sys­tem der indi­vi­du­el­len Frei­heit gewech­selt, in dem sich mir auf ein­mal unge­ahnte Mög­lich­kei­ten eröff­ne­ten. In mei­nem letz­ten Semes­ter an der Uni inter­es­sierte sich nun nie­mand mehr dafür, ob ich im Marxismus/Leninismus-Seminar die rich­tige Mei­nung ver­trat.

Am Insti­tut gab es einen wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter, des­sen Auf­gabe es gewe­sen war, Stu­den­ten als Reser­ve­of­fi­ziere der NVA anzu­wer­ben und der nun auf ein­mal als DSU-Mitglied in Erschei­nung trat. Als ich zusam­men mit einem Kom­mi­li­to­nen in einer Nacht– und Nebel­ak­tion mit einem Aus­hang auf den Wen­de­hals auf­merk­sam machte, rief das nur noch bei dem Bloß­ge­stell­ten Zorn her­vor, beim Rest des Insti­tuts dage­gen Hei­ter­keit. Wir waren jetzt Teil der Freien Welt und konn­ten ein­fach unsere Mei­nung kund­tun, ohne Kon­se­quen­zen befürch­ten zu müssen.

Fortan waren Buch­hand­lun­gen mein liebs­ter Auf­ent­halts­ort, denn ich konnte alles lesen, was mich inter­es­sierte. Als ich mich einige Zeit spä­ter auf einem Highscreen-Computer über das Compuserve-Netzwerk ins Inter­net ein­wählte, war das Gefühl einer wirk­lich unre­gle­men­tier­ten Exis­tenz per­fekt, denn eine wei­te Welt der freien Infor­ma­tion und Kom­mu­ni­ka­tion hatte sich mir nahezu mühe­los eröffnet.

 

Poli­tik ohne Konsequenzen

Knapp ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter dürfte den meis­ten klar sein, dass nicht alles Gold war, was damals ver­füh­re­risch glänzte. Und doch könnte der Unter­schied zwi­schen der dama­li­gen und der heu­ti­gen bun­des­deut­schen Gesell­schaft nicht grö­ßer sein. Die Welt hat sich wei­ter gedreht — wie es so schön im „Schwar­zen Turm” von Ste­phen King heißt —, und wir ste­hen vor nichts Gerin­ge­rem als dem Ende der Frei­heit.

Klingt das zu dra­ma­tisch? Es kann nicht dra­ma­tisch genug klin­gen. Wir ste­hen vor einem Scher­ben­hau­fen, der nicht ein­mal mehr die Illu­sion von Frei­heit ver­heißt oder über­haupt nötig hätte. Man erkennt das an einem poli­ti­schen Han­deln, das kei­ner­lei Kon­se­quen­zen mehr befürch­ten muss, egal, wie groß der ange­rich­tete Scha­den für die Gesell­schaft ist.

Der Schein der schö­nen neuen Welt brach recht hef­tig zusam­men, als klar wurde, dass Poli­ti­ker lie­ber Ban­ken ret­ten, als sich um die Zukunft der nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen zu küm­mern. Als klar wurde, dass man — ohne mit der Wim­per zu zucken — Hun­derte von Mil­li­ar­den Euro in die Finanz­märkte pum­pen und dafür den Crash gan­zer Volks­wirt­schaf­ten und das Elend vie­ler Mil­lio­nen Men­schen in Kauf neh­men würde. Und als die­ser Ver­rat der Volks­ver­tre­ter an ihren Völ­kern völ­lig fol­gen- und straf­los blieb.

Und je ver­ant­wor­tungs­lo­ser, kor­rup­ter, dilet­tan­ti­scher oder kri­mi­nel­ler sich diese Art von Poli­tik erdreis­tet, daher­zu­kom­men, umso offen­sicht­li­cher ist für jeden die völ­lige Kon­se­quen­zen­lo­sig­keit ihres Han­delns. Als bekannt wurde, dass ein Herr de Mai­zière 600 Mil­lio­nen Euro an Steu­er­gel­dern aus dem Fens­ter geschmis­sen hatte, um mög­lichst bald an neu­ar­tige Über­wa­chungs­droh­nen zu gelan­gen, pas­sierte — wie immer — im Grunde gar nichts. Nie­mand stellte eine ernst­hafte Nach­frage nach dem Zweck eines sol­chen Mili­tär­ge­räts für eine Armee, die ver­fas­sungs­ge­mäß im Inland nicht agie­ren darf, und der eine Betei­li­gung an Krie­gen im Aus­land ebenso ver­fas­sungs­ge­mäß ver­bo­ten ist. Nie­mandem kam diese Summe beson­ders hoch vor, eine Summe, für die man locker 20 neue Schu­len hätte bauen kön­nen. Nie­mand ver­haf­tete den Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter und klagte ihn des Volks­ver­rats an.

Als in dem völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krieg in Afgha­nis­tan zum ers­ten Mal seit dem 2. Welt­krieg und wie in bes­ten Wehr­machts­zei­ten wie­der ein deut­scher Oberst Hun­derte zivi­ler Opfer in Kauf nahm, um irgend­ein absur­des mili­tä­ri­sches Ziel zu ver­fol­gen — da wurde die­ser Oberst nicht ver­haf­tet und eines Kriegs­ver­bre­chens ange­klagt: Nein, er wurde beför­dert.

Genauso blie­ben die ame­ri­ka­ni­schen Flüge von Ver­däch­ti­gen in Geheim­ge­fäng­nisse, über deut­sche Flug­hä­fen und deut­sches Ter­ri­to­rium, ohne jede Kon­se­quenz. Auch die Rolle von BND- und BKA-Beamten bei der Ver­neh­mung von Ter­ror­ver­däch­ti­gen in syri­schen und liba­ne­si­schen Fol­ter­kel­lern — eigent­lich undenk­bar in einer Demo­kra­tie wie der uns­ri­gen — blieb wei­test­ge­hend im Dun­keln. Daran änderte auch ein Unter­su­chungs­aus­schuss nichts.

Ange­sichts „moder­ner Ver­hör­me­tho­den”, Water­boar­ding oder wie­der hof­fä­hig gewor­de­ner Fol­ter wirkt der demo­kra­ti­sche Rechts­staat längst alt­ba­cken und wie von ges­tern. Staats­feinde wie Brad­ley Man­ning, deren Schuld darin besteht, Ver­bre­chen des Staa­ts öffent­lich zu machen, wer­den wie Tiere nackt in Ein­zel­zel­len gesperrt und durch Schlaf– und Dun­kel­heits­ent­zug und unun­ter­bro­chene Ver­höre psy­chisch gebro­chen. Die deut­sche Regie­rung sagt dazu nichts, obwohl diese Metho­den uns an unsere eigene his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit mah­nen müss­ten. Gestapo ist wie­der schick.

Die Bei­spiele lie­ßen sich belie­big fort­set­zen, man braucht nur an die mör­de­ri­schen Akti­vi­tä­ten des NSU und die Rolle des Ver­fas­sungs­schut­zes dabei zu den­ken, an Parteispendenaffären, an Rüs­tungs­ge­schäfte mit Staa­ten, die Men­schen­rechte mit Füßen tre­ten, an die Sport– und Olympia-Mafia, an Lebens­mit­tel­skan­dale, Pharma-Lobbyismus oder große Bau­pro­jekte, die — was für ein Zufall — das Dut­zend­fa­che der vor­her pro­gnos­ti­zier­ten Kos­ten ver­zeh­ren.

Es steckt immer das glei­che Sys­tem dahin­ter. Ein Sys­tem, das mitt­ler­weile so unver­schämt und selbst­si­cher agiert, das es nicht davor zurück­schreckt, hau­fen­weise Bür­ger­rechte über Bord zu wer­fen und Gesetze zu erlas­sen, die dem deut­schen Grund­ge­setz Hohn spre­chen. Ohne Kon­se­quen­zen.

 

Und mor­gen der Gestapo-Staat

Die Demo­kra­tie hat ver­lernt, sich selbst zu schüt­zen und zu bewah­ren.

Als vor kur­zem — als Spitze des Eis­bergs — ein ein­zel­ner Mann ent­hüllte, dass der Stasi-Staat längst wie­der auf­er­stan­den ist und nicht davor zurück­schreckt, welt­weit Mil­li­ar­den von Men­schen aus­zu­spio­nie­ren und zu über­wa­chen, da war der Scher­ben­hau­fen schon so groß, dass nie­mand mehr wirk­lich über­rascht war. Natür­lich traute man den Ame­ri­ka­nern alles zu. Genauso natür­lich war die Vor­stel­lung, dass bun­des­deut­sche Poli­ti­ker mit unse­ren bes­ten Freun­den gemein­same Sache machen und unser Grund­ge­setz nur noch Klo­pa­pier ist.

Völ­lig logisch, dass kein deut­scher Staats­an­walt Frau Mer­kel und Herrn Fried­rich wegen Volks­ver­rats anklagt. Völ­lig logisch, dass auf ein biss­chen Ver­tu­schung, ein biss­chen lee­res Geschwätz und ein biss­chen zur Schau gestellte Ahnungs­lo­sig­keit nur eines folgt: mit vol­ler Kraft wei­ter vor­aus in den tech­nisch voll­kom­me­nen Über­wa­chungs­staat.

Der von der EU geplante und geför­derte Auf­bau einer Über­wa­chungs­ar­chi­tek­tur — Stich­wort INDECT — ruft kei­nen jour­na­lis­ti­schen Auf­schrei her­vor, und das in den letz­ten Jah­ren ver­ab­schie­dete grau­en­hafte Sam­mel­su­rium an samt und son­ders ver­fas­sungs­wid­ri­gen Geset­zen zur Auf­wei­chung von Bür­ger­rech­ten und Pri­vat­sphäre bringt kei­nen Rich­ter um den Schlaf.

Als vor­läu­fi­ger Höhe­punkt die­ses Trau­er­spiels betont unser Innen­mi­nis­ter in einem Inter­view, dass die voll­stän­dige Über­wa­chung der deut­schen Bevöl­ke­rung durch einen aus­län­di­schen Geheim­dienst einem „edlen Zweck” dient und kon­form mit der deut­schen Ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit ist. Er lügt vor lau­fen­der Kamera wie gedruckt, und er weiß, dass er lügt.

Die Skan­dale um PRISM und TEMPORA wer­den nicht zur Ein­stel­lung die­ser Pro­gramme füh­ren, höchs­tens viel­leicht zur Umbe­nen­nung. Für die NSA wer­den gerade wei­tere gigan­ti­sche Daten­spei­cher­zen­tren gebaut, und wer dort — in Echt­zeit und 24 Stun­den am Tag — durch­leuch­tet wird, das sind nicht die Bin Ladens die­ser Welt, son­dern Du und ich, unsere Part­ner, Freunde und Ver­wand­ten, Arbeits­kol­le­gen, Gewerk­schaf­ter, Demons­tran­ten, Abge­ord­nete — kurzum alle. Ob wir dabei gar nichts zu ver­ber­gen haben — die­ses Argu­ment hört man ja sehr oft — inter­es­siert diese Leute nicht die Bohne. Du bist ver­däch­tig, egal was du tust. Egal, wie unschul­dig du dich verhältst. Sie sam­meln alles über dich, des­sen sie hab­haft wer­den können.

Inter­es­san­ter­weise ist auch heute wie­der die Sicher­heit des Staa­tes — die Staats­si­cher­heit — das Argu­ment, mit dem alle demo­kra­ti­schen Errun­gen­schaf­ten aus­ge­höhlt wer­den. Aber Sicher­heit ohne Frei­heit ist letzt­end­lich nur ein Gefäng­nis. In einem Knast ist man sicher, aber nicht frei. Wol­len wir uns wirk­lich in der uns zuge­wie­se­nen Zelle behag­lich ein­rich­ten?

Aber mir geht noch etwas viel Beun­ru­hi­gen­de­res durch den Kopf. In der DDR ging mit den Stasi-Methoden auch die Wahl­fäl­schung ein­her. Glaubt ihr wirk­lich, dass Leute, die gerade dabei sind, Droh­nen für die auto­ma­ti­sierte Über­wa­chung oder gar gezielte Tötung von Men­schen aus der Luft zu ent­wi­ckeln, davor zurück­schre­cken, Wah­len zu manipulieren?

Es ist gut mög­lich, dass wir längst nur noch in einer Pseudo-Demokratie leben. Das Komi­sche daran ist, dass man kein ein­ge­fleisch­ter Pes­si­mist oder Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker mehr sein muss, um das zu behaup­ten. Es wird uns allen fak­tisch jeden Tag unter die Nase gerie­ben.

Wenn wir es ver­pas­sen, selbst die mitt­ler­weile kläg­li­chen Reste der Frei­heit zu ver­tei­di­gen, müs­sen wir uns nicht wun­dern, wenn wir eines Tages wie­der mit­ten in einer tota­li­tä­ren Dik­ta­tur auf­wa­chen. Wir kön­nen von den Herr­schen­den nichts erwar­ten. Auch nicht von den Medien, die ein­fach nur Teil des Sys­tems sind. Wir kön­nen alles, was getan wer­den muss, nur von uns selbst erwar­ten. Wir sind es unse­ren Kin­dern schuldig.
 
Crosspost von Franks SchreibBlog

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