von Helmut Wiesenthal, 8.5.16
Der AfD-Parteitag in Stuttgart und das dort beschlossene Programm werden mit reichlich Kritik bedacht. Dabei gibt das Parteitagsgeschehen (soweit man es auf Phoenix verfolgen konnte) keinen Grund, den demokratischen Charakter der Partei zu bezweifeln. Das Programm scheint im Wesentlichen ein Kollektivprodukt der Mitglieder zu sein, kein Oktroi der Führung. In dieser Hinsicht ist die AfD auf der Höhe der Zeit – einer Zeit, in der sich alle Parteien ein gewisses Maß an Organisationsdemokratie zu eigen gemacht und der unverhohlenen Elitenherrschaft zu Zeiten Adenauers und Kiesingers entsagt haben.
Doch in programmatischer Hinsicht ist die AfD vor allem ein Reiseunternehmen. Denn die Quintessenz aller Kernpunkte ihres Programms heißt „zurück in die 60er Jahre“; zurück in eine politische und gesellschaftliche Kultur, die Ursache jener tiefgreifenden Veränderungen war, die in der simplifizierenden Rückschau mit dem Etikett „68“ belegt sind. Das bezeugen die Ablehnung alles vermeintlich „Fremden“, das nationalkonservative Beharren auf Autarkie und Souveränität, die latente Xenophobie und die manifeste Illiberalität gegenüber ethnischen, religiösen, sexuellen und anderen Minderheiten, das dummdreiste Leugnen des Klimawandels, die Ablehnung von Immigration und transnationaler Mobilität, AKW-Ausstieg und Naturschutz, Gender-Forschung und außerfamilialen Frauenrollen.
Was die AfD will, ist in der Welt, in der wir leben, nicht mehr zu haben. Die Differenzierung der soziokulturellen Bezüge, die Selbstverständlichkeit individueller Entscheidungsfreiheit, die Relativierung der nationalstaatlichen Autonomie und die Globalisierung von Produktion, Handel, Wissenschaft, Moden, Naturgefahren und Terrorrisiken – sie machen eine solche Reise in die vermeintlich gemütliche Vergangenheit unmöglich. Ganz abgesehen davon, dass sich eine Mehrheit der Menschen einen so weitgehenden Verlust an individuellen und gesellschaftlichen Optionen nicht gefallen lassen würde. Das AfD-Programm wird Traumbild einer verstörten Minderheit bleiben.
Wie es zu einem solch vehementen Rückwärts-Drive in der Gesellschaft kommen konnte, ist eine andere Frage. Ein Ursachenfaktor ist die Veränderung des Parteiensystems, zuerst durch die Grünen, dann durch PDS/Linke und die vom Westen abweichende Wählerschaft im Osten. Ob Angela Merkel eine – im Hinblick auf Machtgewinnung bessere – Alternative zu ihrem Kurs der Sozialdemokratisierung gehabt hat, mag dahin gestellt bleiben. Tatsache ist jedenfalls, dass Helmut Kohl und seine Mannen es besser verstanden, nationalkonservativ bis dezidiert reaktionär gesinnte Wähler mit einem (sehr) moderaten Modernisierungskurs zu versöhnen. Merkels Projekt der Austrocknung des sozialdemokratischen Wählerreservoirs machte diese Wähler führungslos, überließ sie dem eigenen volatilen Missmut – und machte sie für das Parteiprojekt der Euro-Kritiker um Bernd Lucke verfügbar.
Ursachenfaktor Nummer zwei findet man allem Anschein nach in dem zur EU-Krise ausgewachsenen Euro-Debakel. Es sind nicht nur die objektiven Missstände in der Regulation der gemeinsamen Währung, der vermeintlich allein von Griechenland verursachten milliardenschweren Bankenrettung, und schließlich der Zusammenbruch EU-interner Kooperation bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Erst vor dem Hintergrund des überlauten Europa-Gedöns, an dem buchstäblich alle demokratischen Parteien – von der CSU bis zu den Grünen und den Linken – Anteil hatten, kam es zur schockhaften Frustration, dass „mehr Europa“ zumindest temporär auch mehr Probleme und weniger Lösungen bedeutet. Die viel beschworene „europäische Idee“ entpuppte sich als ferne Utopie eines kleinen, überwiegend in Deutschland beheimateten Politikerklubs.
Der dritte Ursachenfaktor für die überraschende Stärke der rückwärts gewendeten Bewegung ist dem SED-Regime und seiner dumpf-nationalistischen Gesellschaftspolitik anzulasten. Die (seit dem Mauerbau 1961) buchstäblich eingesperrten DDR-Bürger waren nicht nur an eigenen Erfahrungen mit anderen Kulturen, Entwicklungen und dem Optionenspektrum offener Gesellschaften gehindert, sondern wurden zusätzlich mit dezidiert nationalchauvinistischen Parolen und verlogenem staatlichen Selbstlob berieselt. Auf diesem Nährboden überlebten nicht nur Sprachbilder und Denkweisen des Nazi-Rassismus, sondern es entstand ein hohes Niveau an Deutschtümelei samt dem Spiegelbild weithin geteilter Xenophobie. Davon wussten u.a. Afrikaner und Polen zu berichten. Wie wenig der proklamierte Internationalismus tatsächlich das Denken bestimmt, enthüllte kürzlich die Linken-Fraktionsvorsitzende Wagenknecht, als sie in Reaktion auf die eingewanderten Flüchtlinge eine Besserstellung deutscher Sozialhilfe- und Rentenempfänger forderte.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Faktoren, die den Aufstieg der AfD begünstig(t)en, scheinen von ähnlicher Stärke und Dauerhaftigkeit wie jene, von denen die Grünen profitier(t)en. Deshalb besteht wenig Aussicht, dass die neue Partei sobald wieder das Parteiensystem verlassen wird. Ob die verbreitete Neigung zur Isolierung der AfD, wenn nicht gar zur Kommunikationsverweigerung, die langfristig beste Option ist, darf bezweifelt werden. Nüchtern betrachtet, wäre es vorteilhafter, würde sich die Partei dem Realitätsschub einer Regierungsbeteiligung unterziehen, solange sie noch einer exklusiven Ideologie ermangelt und von interner Pluralität und demokratischen Ambitionen geprägt zu sein scheint. So ist den anderen Parteien etwas mehr Mut zur Interaktion mit den „Fremden“ im Parteienspektrum zu wünschen.
Dieser Beitrag ist zuerst auf dem Blog von Helmut Wiesenthal erschienen.
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