von Robin Meyer-Lucht, 17.12.08
Der Medienbericht soll Kernpunkte des politischen Handlungsbedarfs identifizieren. Er ist sozusagen Vorfeldforschung für konkrete Medienpolitik und Thematisierungsapparat für die Ministerien. Er soll verstanden werden als die explizit politische Bewertung der Bundesregierung des Medienwandels. Der Bericht bilanziert die wichtigsten Tendenzen der Digitalisierung in 16 Punkten – eine in ihrer Gewichtung und Tonalität lesenswerte Sammlung, die Carta hier in gekürzter Form dokumentiert (vollständiger Bericht hier; Hervorhebungen: Carta):
Die 16 Tendenzen der Digitalisierung
- Neue Kommunikationsmöglichkeiten und Freiheitsräume
Die Digitalisierung hat die Menge der zur Verfügung stehenden Informationen und Quellen in einem bislang unvorstellbaren Ausmaß vervielfältigt und diese zugleich leicht zugänglich gemacht. Dies eröffnet für Individuen und Gesellschaft Dimensionen der Kommunikation, die im analogen Zeitalter unvorstellbar waren.
- Neue Kommunikationsformen und Verwischung der Grenze zwischen Individual- und Massenkommunikation
Die Digitalisierung hebt das für das analoge Zeitalter typische „Sender-Empfänger-Schema” aus den Angeln. Die Mediennutzer sind nicht mehr auf die bloße Rolle als Rezipienten bzw. Konsumenten vorgefertigter Angebote festgelegt. Es ist fortan nicht mehr das Privileg von Verlagsunternehmen und Sendern, allein Themen zu setzen und mit Angeboten zu unterlegen.
3. Verspartung der Medienangebote, Ausdifferenzierung der Publika, Nutzergruppen, Nutzerinteressen und Tendenz zur Entfremdung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen
Der Nutzer stellt sich in vielen Bereichen „sein” Programm selbst zusammen und kann sich so tendenziell von vorgegebenen Inhalten und Rezeptionsroutinen emanzipieren. Dies fördert die Informationsfreiheit, weil Angebotsfülle und -breite wachsen können. Allerdings geht damit auch eine zunehmende Zersplitterung und Spezialisierung der Nutzerinteressen und Publika einher. Dies hat die Wahrnehmung und Bedeutung massenkommunikativ ausgerichteter Informations- und Kulturangebote geschwächt.
4. Von Nutzern selbst produzierte Inhalte („user generated content”) konkurrieren mit professionell gestalteten Angeboten
Laien treten bewusst in Konkurrenz zu professionellen Journalisten bzw. unternehmensabhängigen Redaktionen und Medienmachern.
5. Entwertung von Inhalten, sinkende Aufmerksamkeit und Gratismentalität der Mediennutzer
Quantitatives Wachstum, bei allerdings zunehmender Gleichförmigkeit der Medieninhalte, uneingeschränkter Zugriff auf beliebige Inhalte, steigende Konkurrenz von Medienangeboten und Endgeräten um die begrenzten Medienbudgets der Nutzer und – in weitem Umfang auch illegale – digitale Kopiermöglichkeiten der Nutzer sowie der per saldo steigende Medienkonsum haben Wert und Aufmerksamkeit für einzelne Inhalte bei den Nutzern gesenkt. Auch ist weiterhin nur eine geringe Bereitschaft der Nutzer festzustellen, für Medieninhalte zu bezahlen.
6. Herausbildung neuer „Meta-Medien” und „Gatekeeper”
Das onlinegestützte Medienangebot ist angesichts seiner Fülle und Unübersichtlichkeit de facto nur mit Hilfe spezieller Suchmaschinen erschließbar. Diese werden damit nicht nur zu neuen, im analogen Zeitalter unbekannten Verwaltern von Nutzungsprozessen und -gewohnheiten, sondern spielen auch eine ganz entscheidende inhaltliche Rolle, indem sie nach vorgegebenen Algorithmen Suchergebnisse auswerfen und damit das Rezeptionsverhalten der Nutzer tief greifend beeinflussen.
7. Anonymisierung der Kommunikation
Die onlinegestützte Individual- und Massenkommunikation vollzieht sich – anders als in der analogen Welt – weitgehend anonym. Der Umstand, dass die Menschen im Dialog damit nicht mehr „ihr Gesicht zeigen” müssen, um wahrgenommen zu werden, führt zwar einerseits zu einer erfreulich freien und offenen Kommunikation. Andererseits verändern sich Inhalte und Form der Kommunikation aber auch negativ. Denn in Weblogs, Chatrooms und sonstigen Internetforen werden zunehmend Beiträge veröffentlicht, die verleumderisch sind oder in ihrer Form Respekt gegenüber anderen Menschen vermissen lassen.
8. Enormer Zuwachs des Medieneinflusses auf Individuum, Gesellschaft und Politik
Aufgrund eines – letztlich technisch bedingten – hohen quantitativen Wachstums der Medienangebote und eines per saldo steigenden Medienkonsums haben die Medien ihren Einfluss auf das Denken und Handeln der Menschen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen signifikant gesteigert. Die Anforderungen an das Individuum sind im Hinblick auf die Fähigkeit zur Selektion von Informationen und zur Meinungsbildung enorm gestiegen.
9. Extreme Beschleunigung des Medienbetriebs
Durch den technischen Fortschritt der Übertragungstechnik ist der Abstand zwischen Echt- und Berichtszeit kaum mehr bemerkbar. Fundierte, abwägende und distanzierte Berichterstattung ist schwieriger im Markt zu platzieren als bisher. Das gilt besonders im Onlinebereich.
10. Herausbildung neuer Leitmedien
Printmedien und Fernsehen werden zumindest bei jungen Menschen mehr und mehr aus ihrer traditionellen Rolle als Leitmedien verdrängt. Netzgestützte, interaktive und individuell abrufbare Angebote werden besonders für junge Nutzer zunehmend attraktiver und werden mitunter bereits intensiver genutzt als traditionelle Medienangebote. Computerspiele übernehmen bei Kindern und Jugendlichen immer stärker eine identitätsstiftende Funktion und treten damit zur Musik und zum Film in Konkurrenz.
11. Neue Wertschöpfungsketten und Unternehmensallianzen; Globalisierung und Konzentration in der Medienwirtschaft
Insbesondere die zunehmende Internationalisierung der Beteiligungsverhältnisse hat die früher stark national und regional geprägte Medienwirtschaft strukturell grundlegend verändert. Die Neustrukturierung der Wertschöpfungsketten bringt „integrierte” Medienunternehmen hervor. Sie ist auch ein wesentlicher Treibsatz für die zunehmende Medienkonzentration. Dennoch sind die Märkte für die Inhalte kultur- und sprachbedingt im Schwerpunkt national und regional geblieben. Dies gilt für klassische Medien ebenso wie für Onlineangebote.
12. Ökonomisierung der Medien
Im Vordergrund der Tätigkeit vieler Medienunternehmen stehen zunehmend nicht mehr bestimmte Inhalte und deren Qualität, sondern der ökonomische Erfolg. Hier spielen in erster Linie die besonders hohen Wachstumspotentiale und Gewinnerwartungen eine Rolle, die Investoren in der Digitalisierung der Medien und der Integration der Wertschöpfungsketten sehen. Zudem führt der durch die Digitalisierung bedingte gestiegene Kapitalbedarf der Medienunternehmen zunehmend zu Beteiligungen branchenfremder und rein ökonomisch orientierter Investoren Dies wirkt dem klassischen Modell des eine bestimmte politische Haltung oder Weltanschauung verfolgenden „Tendenzmediums” entgegen.
13. Von der Vielfalt zur Vervielfältigung des Gleichen
Quantitatives Wachstum und Ökonomisierung der Medien gehen im Bereich der Massenkommunikation mit einer zunehmenden Uniformierung und Verflachung der Inhalte in Richtung Unterhaltung und „Mainstream” einher. Die inhaltliche Vielfalt des Medienangebots ist damit latent gefährdet.
14. Entpersonalisierung und Anonymisierung der Medien
Standen bislang exponierte Verleger-, Journalisten- oder Intendantenpersönlichkeiten für die Identität einzelner Medienangebote und -unternehmen, werden diese zunehmend durch Erbengemeinschaften, Holdings, Manager oder Finanzinvestoren ersetzt.
15. Beeinträchtigung der Transparenz von Medienangeboten
Insbesondere bei Online-Angeboten gehen redaktionell gestaltete Inhalte, private Meinungsäußerungen und Werbung häufig fließend ineinander über (z.B. über Verlinkungen oder als redaktionelle Beiträge ausgegebene Public Relations), sodass die Verantwortlichkeiten für die Beiträge für den Nutzer nicht mehr durchschaubar sind. Dies gilt insbesondere für „user generated content” (z.B. Chats, Blogs oder Wikis), der zum Teil verdeckte Werbeplattformen darstellt oder indirekte bzw. unterschwellige kommerzielle Kommunikation enthält.
16. Neue Sicherheitsfragen durch elektronische Individual- und Massenkommunikation
Der Bedarf an Sicherheit und Vertrauen sowie Transparenz insbesondere der Onlinenutzer ist proportional zu den Gefahren in diesem Bereich (strafbare und jugendgefährdende Inhalte, technische Risiken, z. B. durch Hacker oder Phishing, Vertrauenswürdigkeit von „Metamedien” wie Suchmaschinen etc.) gestiegen. Der Schutz der Privatsphäre wird im digitalen Zeitalter vor völlig neuartige Herausforderungen gestellt.