#Verkehrswende

Bullerbü im Kopf

Berlin müsse eine »freie Stadt« bleiben, verwahrte sich Giffey vor einigen Monaten gegen die Idee einer City-Maut sowie die Vision einer autofreien Innenstadt. »Freie Fahrt für freie Bürger« also.

von , 4.7.21

Franziska Giffeys populistische Vorstellungen von Stadt und Verkehr zeigen einmal mehr, was außerhalb Berlins eh jeder weiß: Provinzialität ist eine Frage der Einstellung, nicht der Herkunft.

Nicht, dass es eines weiteren Beweises bedurft hätte, aber das »heute-show«-Spezial zur Klimapolitik Ende Juni hat es wieder einmal gezeigt: Franziska Giffey und fortschrittliche Verkehrspolitik – das passt nicht wirklich zusammen. Von Fabian Köster auf die Gefahren des Radfahrens in Berlin angesprochen, stellt sie in einem Ausschnitt, der auf Twitter die Runde macht, lapidar fest, dass Berlin »nicht Bullerbü ist«. Dass Radfahrer*innen in Berlin mit erschreckender Regelmäßigkeit zu Schaden kommen, manchmal sogar ihr Leben verlieren – man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Franziska Giffey das nicht sonderlich beunruhigend findet. Bei der Sicherheit der Radwege gebe es »noch Luft nach oben«, räumt Giffey ein, die ehrlich überrascht wirkt (»wirklich«?), als Köster mit einer Statistik um die Ecke kommt, wonach Berlin als die gefährlichste Fahrradstadt Europas gilt (zu ihrer Verteidigung sei angemerkt, dass bei weitem nicht alle Studien zu diesem Ergebnis kommen). Doch auf Kösters Frage, warum man nicht die allgemeinhin als vorbildlich geltende Verkehrspolitik der Niederlande »kopieren« könne, ist ihr nicht mehr zu entlocken, als dass jede Stadt und jede Zeit ihre eigenen Antworten brauche (»hat schon Willy Brandt gesagt«) und der kryptische Hinweis, Konzepte aus einer holländischen Kleinstadt ließen sich nicht auf eine deutsche Großstadt übertragen.

Giffeys Haltung zur Verkehrswende: Bremsen statt beschleunigen.

Streng genommen hat Giffey recht: Berlin ist nicht Bullerbü und Verkehrskonzepte lassen sich nicht eins zu eins von einem Kontext auf einen anderen übertragen. Außerdem ist es möglich, dass Dinge aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Vielleicht hat Giffey vor oder nach diesen Aussagen ein leidenschaftliches Plädoyer für eine fahrradfreundliche Politik gehalten, das den Zuschauern vorenthalten wurde? Auszuschließen ist das nicht, aber auch nicht wirklich wahrscheinlich, wenn man sich den bisherigen verkehrspolitischen Kurs von Giffey in Erinnerung ruft. Ihre Haltung zur Verkehrswende ist einfach auf den Punkt gebracht: Bremsen statt beschleunigen. Während viele Expert*innen Druck machen und der Meinung sind, dass der Stadtumbau für die Verkehrswende gar nicht schnell genug gehen kann, macht Giffey keinen Hehl daraus, dass ihr bereits das überschaubare Tempo des rot-rot-grünen eine Nummer zu schnell ist. Sie warnt in CDU oder FDP-Manier vor »Symbolpolitik gegen Autofahrer« und spricht davon, dass das seit 2016 grün geführte Verkehrsressort wieder in SPD-Hände müsse, damit Autofahrer*innen nicht benachteiligt würden.

Natürlich steht es Giffey frei, sich von der Politik politischer Mitbewerber*innen abzugrenzen und – und darum geht es offensichtlich – mit Sympathiebekundungen für Autofahrer*innen auf Stimmenfang zu gehen. Irritierend ist jedoch ihr verzerrtes Verständnis davon, was eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik für Großstädte im 21. Jahrhundert ausmacht und ihre Ignoranz gegenüber dem, was in anderen Großstädten verkehrspolitisch längst an der Tagesordnung ist. Giffey, die selbsternannte Berlin-Versteherin, kann noch so oft behaupten, dass sie anders als ihre Mitbewerber*innen »Großstadt« kann. Ihre Einlassung verraten – sofern sie wirklich glaubt, was sie da sagt – vor allem eines: dass sie herzlich wenig Ahnung davon hat, wie moderne Großstadtpolitik anderswo aussieht.

Dass die Niederlande nicht mit »Verkehrskonzepten für Kleinstädte«, sondern vor allem durch eine mutige Politik in Städten und Ballungsräumen zum Vorbild in Sachen nachhaltiger Mobilität geworden sind – und im Übrigen längst damit begonnen haben, das Fahrrad durch intelligente Maßnahmen zu einer echten Alternative für die Fortbewegung zwischen Städten und Ballungsräumen zu machen: geschenkt. Es mag sein, dass Giffey Amsterdam in einem Anfall Berlin-typischer Großspurigkeit mal eben zur Kleinstadt degradiert hat. Wirklich bizarr ist jedoch, dass sie aus der Größe Berlins zu schließen scheint, die Niederlande taugten nicht als Vorbild für die hiesige Verkehrspolitik.

Zahllose Städte auf der ganzen Welt, darunter viele, die größer und bevölkerungsreicher sind als Berlin, zeugen vom Gegenteil; viele von ihnen sind durch ihr mutiges Handeln längst selbst zu Vorbildern geworden. Giffey mag der Auffassung sein, Berlin treibe die Verkehrswende zu schnell voran. Vergleicht man jedoch das, was hier in den letzten Jahren tatsächlich passiert ist, mit den radikalen Veränderungen, die in anderen Metropolen im gleichen Zeitraum stattgefunden haben, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass Berlin eher einen Gang höher als einen runter schalten muss. Das 2018 verabschiedete Mobilitätsgesetz, das als erstes Gesetz dieser Art bundesweit ÖPNV, Fuß- und Radverkehr Vorrang in der Verkehrsplanung einräumt, war sicherlich ein Meilenstein, und das Tempo, mit dem Senat und Bezirke die Mammutaufgabe »Verkehrswende« angehen, hat in den vergangenen zwei Jahren unbestreitbar an Fahrt aufgenommen. In Summe ist jedoch in den vergangenen Jahren zu wenig und zu wenig wirklich Überzeugendes passiert. Ein paar zusätzliche Kilometer (Pop-up-)Radwege hier, ein paar Fahrradstraßen dort und hier und da mal mehr, mal weniger gelungener Pilotprojekte, die darauf abzielen, den öffentlichen Straßenraum grundlegend neu zu denken, reichen eben nicht, um mitzuhalten im immer offener zu Tage tretenden Wettbewerb der Großstädte um die Entwicklung und Umsetzung neuer Lösungen für urbane Mobilität. Zu Recht stellte der Verein »Changing Cities«, dessen Volksentscheid Fahrrad wesentlich dazu beitrug, dass das Mobilitätsgesetz auf den Weg zu gebracht wurde, der Berliner Verkehrspolitik erst letzte Woche ein »verheerendes« Zeugnis aus.

Statt wie angekündigt den Sommer mit Wähler*innen beim Grillen ihrer Neuköllner Gartenlaube und ähnlichen Volkstümeleien verstreichen zu lassen, täte Giffey gut daran, die Zeit vor den Abgeordnetenhauswahlen im September zu nutzen, um sich Städte wie Paris, London oder Brüssel, Mailand oder Barcelona genauer anzusehen. Was diese Städte gemeinsam haben? Statt zu kleckern, wird hier geklotzt, und das trotz mitunter massiver Widerstände und Konflikte, die dem verkehrspolitischen »Kulturkampf« in Berlin in nichts nachstehen. Während in Berlin um jede Straße, ja jede Fahrspur, die dem Autoverkehr entzogen werden soll, ein riesiger Wirbel gemacht wird, wurden in London allein seit 2019 an die hundert neue Low Traffic Neighbourhoods (LTNs) eingeführt und das ist nur eine Maßnahme von vielen, um den Verkehr und den öffentlichen Raum der Stadt umzugestalten. In Paris geht die Zahl der Parkplätze, die großzügigeren Bürgersteigen, Radwegen und Grünflächen weichen müssen, derweil in die Zehntausende und auch Politiker*innen in Brüssel, Mailand und Barcelona haben längst verstanden, was Giffey nicht verstehen oder zumindest nicht öffentlich zugeben will: den Wandel hin zu nachhaltiger Mobilität und mehr urbaner Lebensqualität gibt es nicht, ohne Autofahrer*innen auf die Füße zu treten.

Was diese Städte außerdem verbindet, ist, dass man sich noch vor wenigen Jahren nicht hätte vorstellen können, dass ausgerechnet sie einmal mit einer mutigen und vorausschauenden Verkehrs- und Stadtumbaupolitik von sich reden machen würden. Auch sie haben noch viel Arbeit vor sich, bevor sie von sich behaupten können, den Wandel zu menschen- und umweltfreundlichen Stadträumen und Mobilitätsformen erfolgreich gemeistert zu haben. Aber sie zeigen, was auch in Berlin möglich wäre, wenn, ja wenn Politiker*innen wie Giffey oder ihr SPD-Ko-Vorsitzender Raed Saleh die Verkehrswende nicht aus wahltaktischen Gründen zum politischen Spielball machen würden.

»Freie Fahrt für freie Bürger«

Richtiggehend perfide ist, dass sie dabei offenbar nicht davor zurückschrecken, die Argumente derer aufzugreifen, die versuchen, den konsequenten Umbau des Straßenraums zugunsten von Fußgänger*innen und Radfahrer*innen als Elitenprojekt zu diskreditieren und innere und äußere Stadtteile gegeneinander ausspielen. Als ob nur privilegierte urbane Milieus ein Interesse an besserer Infrastruktur für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen, an attraktiveren öffentlichen Räumen sowie an sauberer Luft und einem Beitrag zum Klimaschutz hätten. Oder als ginge eine diesen Zielen verpflichtete Politik automatisch zu Lasten derjenigen Menschen, die nicht in der Innenstadt leben wollen oder können.

Ja, es stimmt, dass viele Menschen ihr Auto immer noch für die Arbeit und für private Zwecke benötigen, und natürlich muss eine intelligente Verkehrspolitik berücksichtigen, dass der Umstieg auf umweltfreundliche Verkehrsmittel für einige Gruppen leichter zu bewältigen ist als für andere. Dies aber als Argument gegen die überfällige Korrektur des jahrzehntelang dominierenden Modells der »autogerechten Stadt« ins Feld zu führen, ist ebenso unsinnig wie es durchschaubar ist zu behaupten, eine solche Politik würde bürgerliche Freiheiten gefährden. Berlin müsse eine »freie Stadt« bleiben, so verwahrte sich Giffey vor einigen Monaten gegen die Idee einer City-Maut sowie die Vision einer autofreien Innenstadt. »Freie Fahrt für freie Bürger« also – das klingt nicht nur eher nach FDP als nach SPD sondern letztlich auch mehr nach Provinz als nach Metropole. Im übertragenen Sinne, natürlich. Denn – das ist die eigentliche Pointe – auch dort, dem sprichwörtlichen Bullerbü, über das sich Giffey erhebt, sind viele Politiker*innen neugieriger, offener und besser darin, Mobilität sowie die Zukunft öffentlicher Räume und Art und Weise, wie wir uns in ihnen bewegen, neu zu denken. Womit sich mal wieder zeigt, was außerhalb Berlins eh jeder weiß: Provinzialität ist eine Frage der Einstellung, nicht der Herkunft.

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