#Bildung

Beiläufig

von , 25.2.09


In der Dämmerung sieht das menschliche Auge Dinge, die von außen in den Rand des Blickfelds geraten, in einer rätselhaften Schärfe – eine Überlebensfähigkeit aus ferner, stammesgeschichtlicher Vergangenheit. Heute finden so Intuitionen ihren Weg ins Bewußtsein. Während die Aufmerksamkeit auf etwas anderes fokussiert und abgelenkt ist, kann sich beiläufig Neues einschleichen.

Der Computer ist die mächtigste Ablenkungsmaschine der Geschichte. Für die einen ist er ein Schrecknis, für die anderen ein Potential voller Schöpfungskraft. Wenn das Feuer im digitalen Zentrum der Aufmerksamkeit manchmal für einen Moment nachläßt, sehen wir staunend, dass nicht mehr der Weg das Ziel ist. Nun ist der Rand die Mitte.

Wohin uns diese neuen, zentrifugalen Kräfte lenken, ist umstritten. Marc Fisher, Kolumnist der Washington Post, hält das Jagen und Sammeln von Informationen für eine Oberschicht-Angelegenheit. “Der Fokus liegt … immer auf solchen Personen, die so viel Zeit und Kompetenz haben, Informationen im Netz überhaupt aufzuspüren. Menschen, die selten Zeitung lesen oder Nachrichten im Fernsehen sehen, sind die eigentlichen Verlierer des derzeitigen Medienwandels, denn sie sind weit davon entfernt, selbst die Initiative zu ergreifen und zehn verschiedene Sichtweisen einer Story im Internet zu lesen.”

In einem Interview beklagt Fisher sonderbarer Weise, dass wir mit dem Aussterben der gedruckten Zeitung die Möglichkeit verlieren, “beim Überfliegen der Seiten zufällig über Nachrichten zu stolpern.” Fisher weiter: “Dieses beiläufig erworbene Wissen ist meiner Meinung nach essentiell für die Demokratie, weil es die Massen erreicht. Wenn uns diese Möglichkeit genommen wird, ist das ein wirklich schlimmer Verlust für unsere demokratische Gesellschaftsordnung.”

Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt im Netz eine neue Qualität von beiläufigem Informations- oder Wissenszufluß, für die es im Deutschen noch gar keinen Begriff gibt, aber ein konsistentes Gefühl. Im Englischen gibt es ein Wort dafür: Serendipity. Interessante Dinge zu finden, die man gar nicht gesucht hat. Zum Einzigartigen einer jeden Bibliothek gehört diese Mischung aus Flanieren und Suchen, dieses Eintauchen in kleine, verschlungene Zufälligkeiten. Serendipity ist fast so etwas wie die natürliche Art, sich durchs Netz zu bewegen. Wer Information auf Rundumblicke auf die Nachrichtenwirklichkeit reduziert, hat eine sehr beschränkte Auffassung der Welt im 21. Jahrhundert.

Die Verkündung zu Internet-Frühzeiten, das Wissen der Welt stünde uns nun zur Verfügung, war eher einer Euphorie geschuldet als einer neuen Tatsache. Bibliotheken und damit den Zugang zum Wissen der Menschheit gibt es seit Jahrtausenden. Fortschritte hat nicht primär die Technik – also der Zugriff auf die Bücher – gebracht, sondern die Verbesserung der Bildungs-Chancen, Ideenreichtum und der menschliche Kulturwille. Zwar wird ein Lesemuffel auch heute durch die bloßen Informationsfluten im Netz nicht bibliophil werden. Aber durch die verschwenderische Überfülle im Netz zu stolpern, die natürlich nicht nur aus ausgewogenen Leitartikeln und solidem Lexikonwissen besteht, macht mehr Menschen neugierig auf Wissen im allerweitesten Sinn als je zu vor.

Peter Glaser bloggt auf Glaserei, wo auch dieser Beitrag erschienen ist.

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