von Katharina Nocun, 20.7.14
Diese Jugend, heißt es dort, sähe die Welt als „Erlebniszoo“, uns fehle es an Dissens, und wir legten in Bewerbungsgesprächen angeblich bevorzugt „Schwadronierpausen“ ein, um zu verschleiern, dass wir keine Weltanschauung hätten.
Im Klartext lautet die Anklage: Wir sind kleine Spießer, die nach der Verbeamtung statt nach der Weltrevolution streben. Der lebendig gewordene Albtraum unserer hippen 68er-Eltern. Aber ehrlich – jeder bekommt, was er verdient.
Die Welt als Erlebniszoo?!
„Der öffentliche Dienst ist die ideale Basis, um den Erlebniszoo, als den wir die Welt erkannt haben, bewahren zu können“
Letztens saß ich mit Freunden in der Kneipe, als einer meinte, „ich wurde verbeamtet“. Rufe wie „du hast es geschafft“ und anerkennendes Zuprosten waren die Reaktionen. Am Tisch saßen keine Karrieristen, sondern Langzeit-Geschichtsstudenten.
Sind die Kinder der Babyboomer zu kleinen erbärmlichen Spießern geworden, die den Marsch durch die Institutionen tatsächlich nicht wegen der revolutionären Unterwanderung verkrusteter Strukturen, sondern aus profanen Gründen wie der üppigen Pension antreten? Unbefristete Arbeitsverträge, sichere Rente und familienfreundliche Arbeitsverträge, die jeder Wirtschaftskrise und jeder Sozialkürzungsorgie trotzen: Wer wundert sich da, wenn viele Studis heute Beamte werden wollen?
Wie sieht denn die rosige Alternative aus? Während der Rentenanspruch bei allen anderen nach und nach auf 43 Prozent des Durchschnittseinkommens abschmilzt, winken Beamten immer noch zahlreiche Boni für Heirat und Kinder, und die Pensionsansprüche orientieren sich immer am letzten – also höchsten – Gehalt. Auf den Rest wartet ein rasant steigendes Risiko, später in die Altersarmut zu rutschen.
Es stimmt, während unsere Eltern und Großeltern sich für die Rente mit 63 entscheiden, bewerben sich viele von uns für den öffentlichen Dienst. So what? Wir sind kleine Spießer und einfach nicht locker genug? Kann schon sein, aber vielleicht liegt das auch daran, dass andere allzu locker davon ausgehen, dass es schon okay ist, einfach mal Geld auszugeben, das man nicht hat.
Die Message, die einen aus der Tagesschau anlacht, ist doch eindeutig: Banken sind systemrelevant, Bildung und Jugend nicht. Und wer es wagt, die Rente mit 63 zu kritisieren, ist ganz schnell ein nach Selbstverwirklichung süchtiger Hyper-Individualist ohne Sozialgewissen.
Kürzungen bei der Bildung sind natürlich was ganz anderes. Wer glaubt, dass Investitionen in Pleite-Banken mehr Rendite für die Gesellschaft abwerfen als Investitionen in Bildung, der lebt auch ein wenig in seiner eigenen Traumwelt. Dort werden Probleme nicht über einen Horizont von fünf Jahren hinaus verfolgt. Im Gegensatz zum Jungspießer ist man da sicher viel gelassener.
Es gibt einfach Probleme, die an uns hängen bleiben werden: explodierende Rentenansprüche unserer Eltern, immer weniger Einzahler und steigende Gesundheitskosten. Wir zahlen jetzt schon mehr ein, als wir jemals rauskriegen werden. Weil uns der Generationenvertrag schon vor langer Zeit einseitig gekündigt wurde, schaut halt jeder, wo er bleibt.
So viel zum Vertrauen in den stabilen Sozialstaat. Wer sich einen Platz im letzten Refugium der guten Arbeitsverträge wünscht, ist ein kleiner Spießer? SRSLY?
„Aber irgendwie fehlt angelesener Dissens“
„Niemand bereitet sich mehr auf die Dozenten vor, um sie zu widerlegen“, schreibt etwa Jürgen Kaube.
Die Reform von Bologna hat aus dem Studium ein Selbstoptimierungs-Drillprogramm gemacht, in dem wir nach Credit Points jagen, statt Adorno zu lesen. Schließlich besorgt uns Adorno keinen begehrten Master-Platz oder gar einen unbefristeten Arbeitsvertrag.
Wer neben dem Studium arbeitet und sich sogar noch politisch engagieren will, hat meist keine Zeit für Scheingefechte im Elfenbeinturm. Die intellektuelle Selbstverwirklichung findet in Zeiten des Internets außerdem nur noch selten in der Vorlesung statt. „Aber irgendwie fehlt angelesener Dissens“, heißt es wehmütig. Als hätten früher alle Studis zu Hause gesessen und sich nächtelang Literatur zum Zerlegen des Profs angelesen.
Protestieren fällt leicht, wenn man Teil einer Bildungselite mit Jobgarantie ist. 1968 hat ziemlich jeder mit Studienabschluss einen einigermaßen vertretbaren Job bekommen. Damals haben auch weniger studiert. Zu den größten Demos der legendären 68er-„Massenproteste“ kamen damals 12.000 Studierende. Der von den 68ern als nicht revolutionär genug belächelte Bildungsstreik von 2009 brachte bundesweit mehr als 270.000 Menschen auf die Straße. „Abschaffung von Studiengebühren“ war wohl nicht abstrakt genug als Kapitalismuskritik.
Ich habe damals abwechselnd in meinem Büro im AStA Münster und in einer Hängematte im Hörsaal gepennt. Die SPD-Rektorin war dermaßen erfreut über unseren nicht nur angelesenen, sondern auch gelebten Dissens, dass sich die Hundertschaft der Polizei erst einmal mit Pfefferspray bedankte. Unsere Besetzungen wurden selbstverständlich geräumt. Und auch, wenn wir dadurch vielleicht in den Augen unserer Eltern kleine Spießbürger sind: Es gab bei jeder Sitzblockade Durchsagen, damit diejenigen, deren Jobaussichten durch eine Vorstrafe gefährdet werden, rechtzeitig gehen konnten. Das haben alle mitgetragen und verstanden. Jura-Studenten, die früher gegangen sind, haben dafür bei der Bearbeitung der Anzeigen für die Festgenommenen geholfen. Vielleicht ist das spießig, vielleicht haben wir uns aber auch einfach an unsere Umwelt angepasst.
An die angebliche Wertschätzung von Widerworten Jüngerer glauben vor allem ältere Jahrgänge gerne. Irgendwie ist es auch Eigenlob. Wenn es konkret wird, wird Kritik der jüngeren Kollegen oft genug als arrogant, unverschämt oder „nett, aber dumm“ oder „süß, aber ahnungslos“ abgetan. Oder, im Fall des Professors, hat man sich eben nicht genug vorbereitet oder nicht die „richtige“ Literatur gelesen, um zu kritisieren. Daher lassen es eben viele sein, schlucken die Kritik runter und nicken mit dem Kopf. Wie sonst soll man im deutschen System einen Doktorvater bekommen?
Die meisten Menschen stehen nun einmal darauf, gesagt zu bekommen, was für ein toller Hecht sie sind. Das war früher so, das ist heute so. Wir denken uns oft genug unseren Teil. Gegen Altersstarrsinn anzureden hat sich noch nie gelohnt. Der Klügere gibt nach. Wir haben Zeit, wir sind jung.
Ganz ehrlich: Politische Debatten in der Uni zu führen ist eine nette Vision. Mit den vollen Lehrplänen nach der Bologna-Reform wird das von den meisten Profs nur als störend abgetan. Mag sein, einige Professoren sehen in uns Speichellecker, aber ich denke, jeder Doktorvater bekommt den Doktoranden, den er sich aussucht.
„Lebensmarsch im Stechschritt“
„Eigentlich ist es eher ein Lebensmarsch, im Stechschritt über drei bis vier Seiten“, schreibt Friederike Haupt herablassend über den Stapel Bewerbungsmappen auf ihrem Schreibtisch.
Auf diesen Stapel wurden wir unser Leben lang vorbereitet. Egal, ob Schule, Uni oder Elternhaus – immer dasselbe Mantra: „Die Globalisierung schläft nicht!1 Eure Arbeitsplätze werden outgesourct!!1 Wer nicht gut genug ist, wird durch Polen oder Maschinen ersetzt!!!1“.
Wer glaubt, die Selbstausbeutung durch unbezahlte Praktika würde uns Vergnügen bereiten, der irrt. Allein während meiner Studienzeit habe ich zwei Weltwirtschaftskrisen erlebt. Die unsichtbare Hand des Marktes hat viele Träume und Hoffnungen vom Tisch gefegt. Die von der Politik immer wieder an die Wand gemalte „Alternativlosigkeit“ sozialer Einschnitte haben wir als Folge der ganzen Misere verinnerlicht. Rot-Grün führte Hartz IV ein; einige Freunde landeten in 1-Euro-Jobs und mussten für demütigende Schulungen jeden Tag morgens um 8 auf der Matte stehen: Grundkurs Computer, wie benutzt man eine Maus – für jemanden, der sich seinen Rechner selbst zusammenbaut.
Wir sind nicht im Wirtschaftswunder aufgewachsen. Uns ging es nicht schlecht, je nach Elternhaus. Aber an uns nagt die Gewissheit: Wir könnten die erste Generation sein, der es nicht besser, sondern schlechter als ihren Eltern gehen wird.
Mein Studiengang war voller Wirtschaftsflüchtlinge aus Ländern wie den USA oder Australien, die in ihrer Heimat die Studiengebühren nicht aufbringen können. Der Anteil von Spaniern und Portugiesen in meinem Freundeskreis wächst beständig: Alle fliehen vor der Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Ich kenne durchaus Leute, die ganz entspannt 18 Semester Maschinenbau studieren. Aber als Sozialwissenschaftler rennen einem Headhunter nicht gerade die Bude ein.
Oft genug schreiben dieselben Leute, die sich über die stromlinienförmigen Bewerber ohne Ecken und Kanten beschweren, selbst entsprechende Anforderungskataloge für Jobs. Jaja, man selbst ist immer vollkommen antiautoritär und will nicht, dass die jungen Leute sich selbst ausbeuten. Angestellt werden aber oft genug doch diejenigen, die in Praktika bereits Berufserfahrung gesammelt haben. Unbefristete Verträge sind selten wie ein Jackpot. Und der Kündigungsschutz wurde ja erfolgreich gelockert, nicht ohne für ältere Jahrgänge Ausnahmen zuzulassen.
„Hoch gestapelt mit dem Lebenslauf“, heißt es herablassend aus Arbeitgebersicht in der FAZ, aber vielleicht sind wir auch keine Hochstapler, sondern einfach darauf gedrillt worden, dass uns niemand etwas schenken wird. Wir wissen genau, dass diejenigen, die am antiautoritärsten tun und den Kapitalismus in den 68ern extrem glaubwürdig und berechtigt geißelten, heute selbst Anzug tragen und unsere Bewerbungsmappen nach Gammelsemestern aussortieren.
Weckruf? Zzzz!
Das letzte, was die Studis von heute brauchen, ist ein Weckruf. Auch, wenn es einige noch nicht gemerkt haben: Wir sind längst von zu Hause ausgezogen. Unsere Lebenswirklichkeit ist 2014, und nicht 1968. Ich habe während meiner Studienzeit Verschlüsselungspartys gegeben, statt Ho Chi Minh zu rufen.
Früher war vielleicht tatsächlich einiges nicht ganz so schlecht. Ihre Rente ist sicher, Ihr Kündigungsschutz ist noch nicht aufgeweicht und Ihr Sozialsystem noch nicht kollabiert. Ich wäre an Ihrer Stelle auch deutlich entspannter, lockerer und weniger spießig. Stattdessen lese ich Hate-Mails von Rentnern, die mir schreiben, ich „solle mal arbeiten gehen“ und weniger „Sozialschmarotzer sein“, statt mich zu erdreisten, die Rente mit 63 zu kritisieren.
Es ist an der Zeit, zu fragen, was der Marsch durch die Institutionen aus den Marschierenden gemacht hat – und was aus den Institutionen. Die Joschka Fischers und Gerhard Schröders hinterlassen ihren Kindern den globalisierten Turbokapitalismus, die Eurokrise, einen Staatshaushalt, der selbst im Wirtschaftsboom durch Schuldzinsen in den roten Zahlen landet, Gorleben, gescheiterte Klima-Abkommen, ein verwanztes globales Kommunikationsnetz, ein kollabierendes Sozialsystem und ganz viele gute Ratschläge, wie wir genauso locker werden können wie sie.
Echt Kinners, werdet mal erwachsen.
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