Der Fall Assange ist erstaunlich. Im Jahr 2010 kürten ihn die Leser des »Time Magazine« zur »Person of the Year«. Heute hat er den Status einer heißen Kartoffel.
von Stefan Heidenreich, 23.10.19
Sie wissen nicht mehr, wer Julian Assange war? Dann befinden sie sich wohl leider in einer großen und wachsenden Gesellschaft. Denn der Mann ist auf dem Weg in die Vergessenheit. Am 21. Oktober hatte er eine Anhörung vor Gericht in London. In Deutschland wurde darüber nur sehr spärlich berichtet. Dabei sollten Journalisten durchaus ein Interesse an dem Fall haben. Es geht einen ihrer Kollegen. Nils Melzer, UN-Beauftragter, meinte im Sommer, die Behandlung von Assange in britischer Haft käme Folter gleich. Craig Murray kommt in seinem ziemlich krassen Bericht von der Anhörung zu dem gleichen Schluss.
Assange machte offenbar einen recht verworrenen Eindruck und war anfangs nicht einmal in der Lage, seinen eigenen Namen laut und deutlich zu sagen. Er saß hinter Glas. Der britische Staat hält ihn wie einen Terroristen in Einzelhaft. Er hat keinen Internet-Zugang. Lange konnte er nicht einmal Briefe empfangen. Das hat sich nun geändert.
Der Fall Assange ist erstaunlich. Im Jahr 2010 kürten ihn die Leser des »Time Magazine« zur »Person of the Year«. Heute hat er den Status einer heißen Kartoffel. Dass viele Leute Assange nicht leiden können, ist bekannt. Nicht nur bei den einschlägigen US-Geheimdiensten und beim Pentagon. Assange war der mit der Vergewaltigung in Schweden (unbewiesen, Anklage zurückgezogen). Der mit den Mails von Clintons Wahlkampfbüro, die zeigen, wie sie die Kandidatur von Sanders untergraben haben, was diesen möglicherweise den Wahlsieg gekostet habe (Verdacht auf russischen Hack, unbewiesen. Laut Assange ein Leak. Auch unbewiesen)
Unter den linken Blättern lehnte sich die JungleWorld, kaum saß Assange in britischer Einzelhaft, mit ihrer Abneigung besonders weit aus dem Fenster – »Assange ist Antisemit und Sexist«. Mittlerweile scheint es sich um eine konzertierte Aktion gegen eine ganze Reihe von Whistleblowern zu handeln. Eigentlich sollten Journalisten ein Interesse daran haben, für ihren eigenen Schutz und den ihrer Informanten zu kämpfen.
Vor diesem Hintergrund gleicht die Behandlung des ehemals prominenten Gefangenen einer Ohrfeige für eine freie Presse. Hier exekutiert ein Staat ein Exempel. Wer noch ein wenig Glauben an das bewahrt hat, was einmal »westliche Werte« hieß, kann sich nur in Grund und Boden schämen. Mit Rechtsstaat und einem fairen Verfahren hat die Behandlung von Assange jedenfalls nichts mehr zu tun. Gar nicht auszudenken, was los wäre, wenn Russland einen politischen Gefangenen auf diese Weise vorführen würde. Menschenrechte! Schurkenstaat! Folter! Aber wir sind ja in London, im Herzen des westlichen Liberalismus. Bitte weitergehen. Hier gibt es nichts zu sehen.
Die nächste Anhörung findet am 25. Februar statt. Sie soll in einer winzigen Gerichtskammer im Hochsicherheitsgefängnis in Belmarsh stattfinden. So gut wie unter Ausschluss der Öffentlichkeit also. Wenn der Staat damit durchkommt, wissen wir wo der Hammer hängt. Dann können wir Assange vermutlich vergessen, und unsere liberalen »westlichen Werte« gleich mit.