von Laurent Joachim, 6.5.16
Die sozial-gesellschaftliche Rolle einer kurz vor der Rente stehenden Altenpflegerin im Krankenhaus oder einer Putzfrau ohne Schulabschluss an der Autobahnraststätte sollte gesellschaftlich als genauso relevant erachtet werden wie die eines Bankers oder eines Informatikers. Schließlich wollen die meisten Menschen nicht nur, dass kundige Fachleute über ihre Ersparnisse wachen oder ihnen gute Unterhaltung auf den Mobiltelefonen bereitstellen, sondern auch, dass ihnen im Krankheitsfall von kompetentem Krankenhauspersonal geholfen wird oder sie auf der Fahrt in den Urlaub saubere Toiletten vorfinden.
Jede Arbeit, die eine sinnvolle sozial-gesellschaftliche Funktion hat, berechtigt zu einem entsprechenden Leistungstransfer des Begünstigten an den Ausführenden, selbst wenn eine besondere Not- oder Zwangssituation die Ableistung dieser Arbeit zu unlauteren Konditionen erzwingen könnte. Daher gehört zu den Primäraufgaben der Regierung eines Staates – als Vertretungsorgan der Gesellschaft -, dafür Sorge zu tragen, dass Spielregeln, also Gesetze, definiert und implementiert werden, damit jeder von seiner Arbeit, d.h. von seinem anteiligen Mitwirken am Gemeinwohl, leben kann.
Ludwig Erhard (CDU), der „Erfinder“ der sozialen Marktwirtschaft, war der Ansicht, die Interessen des Einzelnen seien dem Gemeinwohl unterzuordnen. Er schrieb in seinem Buch „Wohlstand für Alle“ (1957), dass
(…) jedes Einzelinteresse seine Rechtfertigung nur dadurch finden kann, dass es geeignet ist, auch dem Interesse des Ganzen zu dienen. Es kommt eben nur darauf an, den Ausgleich dieser Interessen in Bahnen zu zwingen, die mit dem Wohl aller letztlich in Einklang stehen.
In vielen Branchen wird der Konkurrenzkampf nämlich vollumfänglich über die Lohnhöhe der Arbeitnehmer ausgetragen, in Ermangelung adäquater Regulierungen des Arbeitsmarkts. Dazu gehören oft die wenig qualifizierten Tätigkeiten der Dienstleistungsbranchen, bei Reinigungsfirmen, bei Sicherheitsdiensten, bei Pflegediensten oder auch bei Post- und Kurierdiensten. Aber nicht nur. Lohndumping findet auch dort statt, wo sehr hohe Qualifikationen erwartet werden.
Alt gegen Jung
Der Spiegel berichtete bereits Ende 2012 über „Hungerlohn im Cockpit“. Weil zunächst eine teure Ausbildung finanziert werden muss, sitzen die ausgebildeten Piloten danach in der Schuldenfalle:
Mit allerlei Tricks drückt Air Berlin die Gehälter der Piloten und Co-Piloten, die die rot-weißen Maschinen fliegen. Und zwar so weit, dass den Co-Piloten im Extremfall kaum mehr als das Existenzminimum bleibt. Das Lohndumping läuft vor allem über eine Gesellschaft, an der Air Berlin selbst nicht beteiligt ist, die aber im Liniendienst ausschließlich für Air Berlin fliegt: Die Luftfahrtgesellschaft Walter (LGW). (…) Die Lohnbuchhaltung erledigt Air Berlin, auch die Uniformen und die Lackierung der Maschinen entsprechen jenen der Kerngesellschaft. (…) Netto bleiben dem jungen LGW-Angestellten monatlich rund 1.635 Euro. Die Summe sieht auf den ersten Blick nicht nach Dumpinglohn aus. Doch von diesem Geld müssen die Piloten noch ihren Ausbildungskredit abbezahlen, denn der Weg ins Cockpit führt in der Regel über die Pilotenausbildung bei einer Fluglinie. Schülerkostenanteil: 75.000 Euro bei Air Berlin. (…) Wenn dann von 1.635 Euro rund die Hälfte für die Rückzahlung aufgewendet werden muss, sinkt das Einkommen bisweilen nahe ans Existenzminimum.
Zum Vergleich verdienten die Lufthansa-Piloten 2012 im Durchschnitt 188.000 Euro (Brutto) im Jahr. Am Ende der Karriere und mit allen Zulagen waren es 260.000 Euro, dazu kommen großzügige Sozialleistungen: „40 Prozent der gesamten Versorgungsaufwendungen, die die Lufthansa für rund 84.000 aktive oder frühere Mitarbeiter im Inland leistet, kommen den rund 8.400 Piloten zugute“, schrieb der Spiegel im April 2014, denn Lufthansa-Piloten erhalten zwischen ihrem Ausscheiden mit 55 Jahren und dem Eintritt ins gesetzliche Rentenalter 124.000 Euro Übergangsgeld pro Jahr.
Solche „Klassenunterschiede“, sind für junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte besonders bitter, weil sich die kostenintensive Investition in die eigene Ausbildung nicht in einem hohen Lohn niederschlägt und sich unter Umständen finanziell einfach nicht gelohnt hat. Nicht nur junge Piloten müssen Abstriche hinnehmen. Viele Akademiker haben gleich nach dem Studium oder nach dem Verlust des Arbeitsplatzes Schwierigkeiten, eine geeignete Stelle zu bekommen.
So sieht die Welt am Sonntag im Januar 2014 viele (Jung-)Akademiker in der “unterbezahlten Hölle“, denn:
Allein ein Studium reicht nicht, um später einmal zur Mittelschicht zu gehören. Es kommt vor allem darauf an, was man studiert. So bekam nahezu jeder zehnte Akademiker (…) 2012 nicht mehr als 9,30 Euro brutto in der Stunde. (…) Hinzu kommt, dass viele Akademiker weit mehr Stunden arbeiten, als es ihre Arbeitsverträge vorsehen – was die effektive Entlohnung pro Stunde drastisch drücken kann.
Im Zuge der Arbeitsmarktreformen und der gesellschaftlichen Veränderungen des letzten Jahrzehnts verschärften sich die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt. Die Kluft zwischen den Gehältern „Neu-im-Betrieb“ und „Alt-im-Betrieb“ bzw. „Neu-Vertrag“ und „Alt-Vertrag“ wurde größer. Die Hauptlast der angestrebten Modernisierung der Wirtschaft wurde überwiegend den jüngeren Schultern aufgebürdet.
Das Problem hinter dem Problem der jüngeren Niedriglöhner ist, dass die Geburtsjahrgänge ab etwa 1975/1980 enorme Schwierigkeiten erfahren werden, um Vermögen aus eigener Betriebsamkeit zu bilden. In den nächsten Jahrzehnten wird eine weitere gesellschaftliche Kluft entstehen, denn wer kein Geld beiseitelegen kann, kann weder für seine Rente vorsorgen noch eine Eigentumswohnung zur Absicherung als Vermögensbildung erwerben.
Die gesellschaftliche Spannungslinie wird deshalb zukünftig zwischen den Bessergestellten, die Vermögen erben werden, und den Menschen aus bescheideneren Verhältnissen, die weder erben noch ein Vermögen aus eigener Kraft erwirtschaften können, verlaufen.
Das Erbe von Hartz IV
Im Sog den Agenda-2010-Reformen fand eine besorgniserregende Verarmung von ungefähr einem Viertel der Bevölkerung statt. Im Jahr 2010 waren insgesamt 25% der Arbeitnehmer – also knapp 10 Millionen Menschen – mit einem Verdienst von unter 9,54 Euro brutto pro Stunde Niedriglöhner. Erst die Einführung des Mindestlohns schaffte Abhilfe, denn “die niedrigen Löhne beruhten überwiegend auf Arbeitgebermacht”, sagte Gerhard Bosch, Direktor des IAQ an der Universität Duisburg-Essen, der Wochenzeitung Die Zeit 2016: “Sie haben einfach zu wenig bezahlt, obwohl sie sich mehr hätten leisten können.”
In Berlin, der (Hartz-IV-) Hauptstadt, beziehen 2016 nicht weniger als 20,3% der Bevölkerung unter 65 Jahren Hartz IV. Fast jedes dritte Kind wächst hier in einem Hartz-IV-Haushalt auf. Die vorhersehbare Auswirkung ist, dass ein Großteil dieser Kinder in wenigen Jahren enorme Schwierigkeiten haben wird, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Die allermeisten werden wohl auch nie studieren können, obwohl Deutschland in Zukunft mehr kluge Köpfe als billige Hände brauchen dürfte, um im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig zu bleiben. Die allerwenigsten dieser Kinder werden wohl von ihren Eltern oder Lehrern gefördert werden. Und wenn sie dennoch das Glück haben sollten, studieren zu können, werden sie kaum bezahlte Dauerpraktika über sich ergehen lassen, um dann in ihrem Berufsleben mit fünfstelligen Bafög-Schulden den ersten Arbeitsplatz anzutreten. Dann erst, wenn diese Schulden getilgt sind, werden diese Menschen finanziell in die Situation versetzt, eine eigene Familie zu gründen – oft genug so spät, dass die Familie, wenn überhaupt, nur ein einziges Kind zählen dürfte. Dieser Umstand ist nicht nur ungerecht, er bedeutet für Deutschland einen enormen volkswirtschaftlichen und demographischen Leistungsverzicht trotz vorhandener Ressourcen.
Zutreffend beschrieb Matthias Krupa bereits 2012 in der Zeit das Generationsproblem:
Die Jungen, die heute keine Arbeit finden (…) sind die Leidtragenden einer Krise, die sie nicht verschuldet haben; sie werden später, wenn sie Arbeit finden, für Schulden bezahlen, mit denen andere ihre Sorgen verdrängt haben; und sie werden immer weniger sein als die Alten, die immer älter werden. Jugendarbeitslosigkeit in einer alternden Gesellschaft ist nicht irgendein politisches Problem. Sie ist ein Wahnsinn.
Mit Fug und Recht meldetet sich Altbundespräsident Roman Herzog schon 2014 zu Wort und mahnte in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, „die Interessen der jungen Generation nicht [zu] vergessen“.
Arbeitslohn als Basis gesellschaftlicher Teilhabe
Ähnlich den Gesetzen des Tauschhandels sollten Arbeitslöhne in einer funktionierenden Gesellschaft ein faires Verhältnis zwischen erhaltener und veräußerter Leistung widerspiegeln. Lohn ist nichts anderes als eine Vergütung in eintauschbarer Währung für eine Leistung, die von einem Individuum anteilig zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles eingebracht wurde. Somit ist es, wenn eine Sozialisierung der Anstrengung stattfindet, nur logisch und gerecht, dass auch eine Sozialisierung der Erlöse erfolgt. Löhne sollten das primäre Instrument des Umverteilungsmechanismus sein und somit primär zur Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe beitragen.
Der Ökonom Heiner Flassbeck erklärte 2014 in einem Telepolis-Gespräch einfach und verständlich, wie Niedriglöhne den Inlandskonsum zugrunde richten und somit schädlich für die Binnenwirtschaft sind:
Der Lohnsenkungsidee liege eine irrige Annahme mit üblen Konsequenzen zugrunde, (…) nämlich die Analogie zu Kartoffelmärkten. Die Regel ‚Gibt es viele Kartoffeln, so fallen die Preise‘ werde schlicht auf den Arbeitsmarkt übertragen: ‚Gibt es viele Arbeitskräfte, dann sinken die Löhne.‘ Allerdings fragen Kartoffeln keine Güter nach…
Die soziale Teilhabe des unteren Fünftels der Gesellschaft wird teilweise ausgehebelt oder zumindest stark eingeschränkt. Die Pauperisierung eines so großen Teil der Bevölkerung rührt also an der verfassungsmäßigen Ordnung des Staates, welche den Bürgern das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz garantiert, denn: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG). Im Übrigen fragt es sich, inwiefern das verfassungsgarantierte Recht auf die „Freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1 GG) eingelöst werden soll, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus ökonomischen Gründen sich de facto keine soziokulturelle Teilhabe leisten kann.
Am unteren Ende der Gesellschaft ist in den letzten Jahren tatsächliche eine verfestigte Parallelgesellschaft entstanden. Die bundesweit mittlerweile 919 Tafeln sind ein gutes Beispiel dafür. Pro Monat werden von der Berliner Tafel nach eigenen Angaben (2016) 660 Tonnen Lebensmittel verteilt und damit 125.000 Menschen erreicht. Bundesweit werden 2016 etwa 1,5 Millionen Menschen (darunter 23% Kinder und Jugendliche sowie 24% Rentner) von dieser Einrichtung versorgt.
Auch für viele Menschen, die einer Arbeit nachgehen, ist der Sozialabstieg oft nur einen einzigen Kontoauszug entfernt. Niedriglöhne, von denen man kaum leben kann – und bis zur Einführung des Mindestlohns Subniedriglöhne, von denen man gar nicht leben konnte – kosten den Staat einen Großteil seiner Ressourcen im Sozialbereich, die sich unter Umständen zukunftsorientierter etwa in Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur investieren ließen.
Niedriglöhne führen außerdem zu einer Verfestigung der sozialen Ungleichheiten, indem jegliche soziale Mobilität unterbunden wird, da keine Möglichkeit besteht, sich selbst oder seine Kinder aus der Armut zu befreien. Konsequenterweise wird die soziale Vielfalt in den Unternehmen graduell abnehmen. Der Niedriglohn von heute ist außerdem für viele die Armutsrente von morgen, welche die Staatskasse weiter belasten wird.
Das Damoklesschwert der Armut
Was hinter dem Begriff „Armutsgefährdung“ steckt, beschreibt ein Artikel des Spiegels vom Mai 2014, in dem offizielle Zahlen des Statistischen Bundesamtes genannt werden:
Unerwartete Ausgaben für Reparaturen oder größere Anschaffungen von mindestens 940 Euro waren für ein Drittel der [Gesamt-]Bevölkerung [Deutschlands] im Jahr 2012 nicht aus eigenen Finanzmitteln zu stemmen. Aus finanziellen Gründen verzichteten demnach zudem knapp 22 Prozent der Bevölkerung auf Urlaubsreisen. (…) Unter der armutsgefährdeten Bevölkerung in Deutschland (…) musste rund ein Viertel (24,8 Prozent) aus finanziellen Gründen häufiger auf vollwertige Mahlzeiten verzichten. Fast drei Viertel (73,2 Prozent) der Armutsgefährdeten konnten unerwartet auftretende Ausgaben nicht aus eigener Kraft finanziell bewältigen. Mehr als die Hälfte von ihnen (57,6 Prozent) konnten aus finanziellen Gründen nicht einmal für eine Woche in Urlaub fahren.
Dem Armutsbericht 2016 zufolge ist die Armutsquote 2014 leicht gesunken, doch sind weiterhin mehr als 12 Millionen Menschen in Deutschland arm oder armutsgefährdet. Hauptrisikogruppen seien Alleinerziehende und Erwerbslose sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Armutsquote sehr stark gestiegen sei und erstmals über dem Durchschnitt liege. Eine besorgniserregende Entwicklung, die sich in nächster Zukunft fortsetzen wird, weil mehr Menschen in Rente gehen, die ungünstige Erwerbsbiographien (jahrelange Arbeitslosigkeitszeiten, Niedriglohnbezug über Jahrzehnte) vorzuweisen haben. Laut einer aktuellen Recherche des WDR droht um das Jahr 2030 gar jedem zweiten Bürger eine Armutsrente, wenn das System nicht reformiert wird.
Heute schon ist unübersehbar, dass die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt die jüngere Generation am härtesten trifft, da diese einerseits längere Ausbildungszeiten durchlaufen und andererseits niedrigere Löhne bzw. häufigere Zeiten der Arbeitslosigkeit über sich ergehen lassen muss.
Zwar wird von der Bundesregierung ständig hervorgehoben, dass die Jugendarbeitslosigkeitsquote sich auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung befände und dass Deutschland mit einer Jugendarbeitslosenquote (18 bis 24) von nur 6,9% im März 2016 im europäischen Vergleich hervorragend da stünde, denn in Griechenland beträgt die Quote 51,9%, in Spanien 44,5%, in Italien 36,7% und in Frankreich 24%. Doch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mahnte schon 2013 ausdrücklich zur Vorsicht, denn die Verbesserung der Lage sei „weniger strukturellen Verbesserungen oder der günstigen Arbeitsmarktentwicklung zu verdanken als dem demographischen Wandel: Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hängt vor allem mit der schrumpfenden Zahl Jugendlicher zusammen“[1].
Hinzu kommt, dass bei der Altenpflege Kinder für ihre Eltern haften. In den ökonomisch schwachen Bevölkerungsgruppen können die Eltern oft nicht für die eigene Alterspflege vorsorgen. Geht man davon aus, dass aus Mangel an Soziomobilität ihre Kinder größtenteils auch im Niedriglohnsektor beschäftigt sein werden, wird von der heranwachsenden Generation ein schier unzumutbares Opfer abverlangt: Aus dem eigenen kargen Lohn die Altenpflege der älteren Generation abzusichern. Zudem muss die arbeitende Bevölkerung erhebliche Steuern entrichten, damit die fälligen Ansprüche aus den umlagefinanzierten Renten befriedigt werden können, während vom Staat auch noch erwartet wird, dass diese Bevölkerungsgruppe in eine private Rentenvorsorge für sich selbst investiert. Alles in allem eine unlösbare Aufgabe, die nicht nur die Ärmsten in der Gesellschaft, sondern auch große Teile der Mittelschicht in die Armutsfalle im Alter befördern dürfte.
Hier ist die Politik gefragt, um fiskalisch entgegen zu steuern: eine wesentlich höhere Besteuerung der Spitzenverdienste, Besteuerung der Aktengewinne, höhere Erbschaftsteuer auf private Vermögenswerte ab einer relativ niedrigen Freigrenze, Wiedereinführung der seit 1997 nicht mehr erhobenen Vermögensteuer und eine umlagefinanzierte Bürgerrente wären Möglichkeiten, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verkleinern.
Dennoch ist ein Großteil der freiverfügbaren Ressourcen in der Gesellschaft eher bei der älteren Generation zu finden. Betrachtet man die Verteilung des „real verfügbaren“ Nettoeinkommens privater Haushalte nach sozialer Stellung, kann man nicht generell von Altersarmut sprechen – im Gegenteil. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) von 2014 zeigte:
Das höchste durchschnittliche individuelle Nettovermögen besitzt die Gruppe der 66- bis 70-Jährigen mit knapp 175.000 Euro. Hierbei kommt dem Aufbau von Nettovermögen in Form von Immobilien besondere Bedeutung zu, da diese vielfach bis zum Rentenalter abgezahlt sind.
Beim Nettoeinkommen sind deutliche Unterschiede nach Sozialstellung zu erkennen, wie das durchschnittlich verfügbare Monatseinkommen 2014 zeigt:
- Beamte: 4.138 Euro, davon 2.444 Euro verfügbar
- Pensionäre: 3.850 Euro, davon 2.436 Euro verfügbar
- Selbstständige: 4.065 Euro, davon 2.334 Euro verfügbar*
- Angestellte: 3.224 Euro, davon 1.735 Euro verfügbar
- Arbeiter: 2.801 Euro, davon 1.212 Euro verfügbar
- Rentner: 1.961 Euro, davon 872 verfügbar
- Arbeitslose: 1.431 Euro, davon 340 Euro verfügbar
- Studenten: 1.039 Euro, davon 215 verfügbar
*In dieser Gruppe gibt es starke Schwankungen zwischen sehr niedrigen Einkommen (z.B. Solo-Selbstständige in künstlerischen Berufen) und hohen Einkommen (z.B. Kaufleute, Ärzte, Anwälte, Finanzberater, etc.).
Im Bevölkerungsdurchschnitt ist ein Einkommen von 1.345 Euro verfügbar.
Diese Entwicklung enthält sozialen Sprengstoff: Vermögen entsteht immer seltener durch Arbeit, sondern stammt häufig aus Kapitalerträgen. Reichtum wird zunehmend vererbt und in erster Linie auf den Finanzmärkten vermehrt, ganz nach dem Motto „Wer hat, dem wird gegeben“.
Armut bringt Krankheit und verkürzt das Leben
Es bedarf keiner Kristallkugel für die Vorhersage: Wenn der Staat nicht korrigierend eingreift und Lösungen zum Wohl der Allgemeinheit – und nicht nur von favorisierten Wählergruppen – implementiert, ist zu befürchten, dass eine ganze „Arm-geboren-und-nix-dazu-verdient“-Generation heranwächst, auf die Jahrzehnte verfehlter sozialökonomischer Politik abgeladen wird.
Eine alarmierende Entwicklung, denn Studien zeigen, dass Kinder aus ärmeren Haushalten oft weniger leistungsfähig sind. Es ist belegt, dass die Kinder, die in Hartz-IV-Haushalten aufwachsen, aufgrund der Armut ihrer Eltern – im wesentlichen aus gesellschaftlichem Verschulden also – intellektuell und physisch besonders leistungsschwach sowie in erhöhtem Maße krankheitsanfällig sind. In einer parlamentarischen Antwort der Bundesregierung von 2011 heiß es dazu:
Die Chance eines Kindes aus sozial schwachen Verhältnissen, einen guten Gesundheitszustand zu haben, [ist] um die Hälfte geringer als die eines Kindes aus gut situierten Verhältnissen. (…) Das Aufwachsen in sozial benachteiligter Situation vermindert somit die Chancen auf ein gesundes Leben.
Aktuell leben 19 Prozent oder 2,47 Millionen aller Mädchen und Jungen in Deutschland in Familien, die arm oder armutsgefährdet sind. Die Gier weniger, begünstigt durch eine Dysfunktion des Wohlfahrtsstaates, versetzt sie in eine unnötig prekäre Situation. Angesichts der verfügbaren Reichtümer der Bundesrepublik insgesamt ist dies nicht nur moralisch beschämend, sondern bringt die gesellschaftliche Erneuerung auf lange Sicht in Gefahr. Deswegen muss der Wohlfahrtsstaat nicht als Kostenfaktor, sondern als Entwicklungsinstrument der Gesellschaft und des Standorts Deutschland gesehen werden.
Europaweite Studien zeigen überdies einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg von Arbeitslosigkeit und dem von Selbsttötungen. Und auch zwischen der Lebenserwartung und dem Einkommen gibt es eine direkte Verbindung.
Laut einem Artikel[2] im Ärzteblatt von 2013 ereile auch Langzeitsarbeitslose in Deutschland ein früherer Tod und aktuelle Studien zeigen seit Jahren auch, dass es nicht nur einen direkten Zusammenhang zwischen Einkommen und Gesundheit sondern auch Lebenserwartung gibt. So läge der Lebenserwartungsunterschied zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe bei Männern bei 10,8 Jahren und bei Frauen unterscheide sich die Lebenserwartung um 8,4 Jahre.
Der entfesselter Kapitalismus erzeugt eine ungerechte Gesellschaft, und die – könnte man plakativ sagen – verlangt nicht nur mehr Fleiß und Schweiß von den Ärmeren als von den Bessersituierten, sondern langfristig auch einen höheren Blutzoll.
[1] Karl Brenke, Jugendarbeitslosigkeit sinkt deutlich – regionale Unterschiede verstärken sich, DIW Wochenbericht, 09/2013, S. 03-13
[2] Gesundheitliche Situation von langzeitarbeitslosen Menschen, B. Herbig, N. Dragano, P. Angerer, Dtsch Arztebl Int 2013; 110(23-24): 413-9
Laurent Joachim beschäftigte sich in seiner Studie „Friss oder Hartz – Warum Hungerlöhne unser Land zerstören“ (2014) damit, wie die stets größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich der Gesellschaft schadet und langfristig schaden wird, wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. CARTA bringt einen Auszug daraus, heute Folge 2 von 4. Bereits erschienen: Neue Arbeitswelten – Allein unter Börsenwölfen.
Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei? Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: „Ausbeutung 4.0? Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?“
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