Antisemitismus in Europa: Exodus jüdischer Bürger nach Israel – dem gelobten Land?

von , 9.2.15

Europas Juden erziehen ihre Kinder auf gepackten Koffern: „Wir packen unseren Koffer nicht aus, wir schlagen keine Wurzeln. Dann können wir einfach unseren Koffer nehmen und nach Israel gehen, sollte der Wahnsinn namens Antisemitismus Europa wieder befallen.“ So geht das Narrativ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Nun steht „Nächstes Jahr in Jerusalem“, der gute Wunsch, der alle jüdischen Feiertage beschließt, für viele vor einem Realitätstest. Denn immer mehr europäische Juden sind überzeugt, dass die Zeit zu gehen gekommen ist. Antisemitische Terroranschläge in Brüssel, Toulouse und nicht zuletzt die tödliche Geiselnahme in Paris sind für sie mahnende Ereignisse. die zunehmenden antisemitischen Übergriffe im europäischen Alltag, auch in Deutschland, nicht mehr zu ignorieren.

Dass das Judentum zu einer liberalen Gesellschaft dazugehört, ist europaweit nahezu geschlossen Staatsräson. Frankreichs Regierung versicherte nach den Anschlägen von Paris, dass die jüdische Gemeinde zum Land gehört und erhöhte die Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Schulen und Einrichtungen. Auch Großbritannien verspricht dieser Tage besseren Schutz. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete es öffentlich als Schande, dass Juden in Deutschland 70 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz Beleidigungen oder tätliche Angriffe befürchten müssen. Das tröstet viele, beruhigt aber nicht alle.

Vor allem in Frankreich hat das Attentat auf einen koscheren Supermarkt in Paris einen Trend beschleunigt. Bereits seit einigen Jahren schrumpft die jüdische Gemeinde in Frankreich stark, angesichts einer zunehmenden Anzahl antisemitischer Vorfälle. 2014 kamen mit 7.000 Neuankömmlingen mehr jüdische Zuwanderer aus Frankreich nach Israel als aus jedem anderen Land der Welt. Für 2015 rechnete Israel schon vor den Anschlägen mit mehr als 10.000 Neuankömmlingen aus Frankreich.

„Kein sicherer Ort“

Ein Trend, der zumindest der israelischen Regierung zu gefallen scheint. „Es ist so lächerlich, dass Benjamin Netanjahu die französischen Juden auffordert, zum sicheren Ort Israel zu kommen“, platzt es aus Meir Shalev heraus, noch bevor die Frage gestellt werden konnte. Der israelische Bestsellerautor und Publizist bezog sich in einem Gespräch, das ich mit ihm führte, auf die Beileidsbekundungen seines Premierministers Netanjahu nach dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt.

Netanjahu, der sich gerade im Wahlkampf befindet, beließ es nicht bei dem Appell. Den Familien der ermordeten Geiseln wurde umgehend ein Staatsbegräbnis angeboten. Joav Hattab, Philippe Braham, Johan Cohen und François-Michel Saada starben als Franzosen in Paris und wurden als Juden in Jerusalem beerdigt.

Sicherlich war das Mitgefühl mit den Familien und Freunden der Getöteten auch in Israel groß. Dennoch bleibt für viele Israelis die Frage offen, was genau sich die Zuwanderer von ihrer neuen Heimat erhoffen: „In Israel sterben bedeutend mehr Menschen durch terroristische Anschläge als in Frankreich“, bringt es Shalev auf den Punkt.

Nur Tage nach den Anschlägen kamen bei einem israelischen Luftangriff im syrisch kontrollierten Abschnitt der Golanhöhen sechs Iraner, darunter ein General, sowie sechs Kämpfer der libanesischen Hisbollah-Miliz ums Leben. Für die Nordgrenze Israels gilt seither höchste Alarmstufe aus Angst vor Vergeltungsschlägen. Wenig später sticht in einem Linienbus in Tel Aviv ein Palästinenser mit dem Messer auf Fahrgäste ein. Das sind die Vorfälle, von denen Meir Shalev spricht, das sind die Nachrichten, die die Auswanderungswilligen sehen, während sie ihr Paket schnüren.

Ohne Milch und Honig

Die Neueinwanderer erwartet ein Land, in dem Kriege und terroristische Anschläge zum Alltag gehören und kaum mehr Hoffnung auf ein friedliches Ende des Nahostkonflikts besteht. Ein Alltag, in dem die hohen Lebenshaltungskosten selbst Universitätsabsolventen zwingen, zwei bis drei Jobs nachzugehen. Eine Gesellschaft, die in politischer und religiöser Hinsicht derart gespalten ist, dass derzeit kein Dialog möglich ist.

Wird das Gefühl, sich endlich als Jude unter Juden zu fühlen, ausreichend die Angst dämpfen können, in einen Bus zu steigen? Wie werden die sephardischen Juden mit Wurzeln im Maghreb, aus denen sich die französisch-jüdische Gemeinde zu einem großen Teil zusammensetzt, in einer Gesellschaft bestehen, in der das osteuropäische Judentum, die Ashkenasim, überwiegend die Elite stellt?

Außerdem ist europäische Bildung eine gute Sache, aber Karrierenetzwerke werden in Israel immer noch vor allem während der Armeezeit geknüpft. Nicht zuletzt werden auch in Israel Neueinwanderer mit derselben Skepsis wie überall sonst auf der Welt betrachtet – nehmen sie uns nicht die Arbeit weg? Die Wohnung? Wird das Land gar französisiert? Uneingeschränkt freuen tun sich derzeit vor allem die Immobilienmakler, die sich ein „On parle français“ ins Schaufenster hängen.

Noch fühlen sich die meisten der frisch Ausgewanderten gut aufgenommen. Noch hat der alte Traum die meisten nicht enttäuscht. Bis zum ersten Krieg. Der ersten erfolglosen Jobsuche. Dem ersten Heimweh.

Das Interview mit Meir Shalev wurde für n-tv.de geführt. Darin spricht der Autor und Publizist u.a. über Netanjahus Appell gegenüber Frankreichs Juden, über das Gottesbild im Alten Testament, verletzte religiöse Gefühle und die zwei wohl unüberwindbaren Klippen im Nahostkonflikt.

 

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