#Flüchtlingskrise

79,5 Millionen auf der Flucht: Hinter den Zahlen stehen Menschen

von , 19.6.20

Die Zahl der Geflüchteten hat einen neuen Rekordstand erreicht: Fast 80 Millionen Menschen zählt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Das Ausmaß des Elends darf uns nicht gleichgültig sein, kommentiert der Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni.

Wenn wir das Wort Flüchtling hören, kommen uns sofort die Bilder von notdürftig geflickten, überfüllten Schlauchbooten auf dem Mittelmeer in den Sinn. Wir denken an die zahlreichen Debatten in Deutschland über die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. An die Kinder und Jugendlichen, die immer noch in den griechischen Aufnahmelagern warten und innerhalb Europas endlich Ihr Leben wieder mit einer Perspektive verbinden können. 

Diese Eindrücke, die unser Bild von Menschen auf der Flucht prägen, sind Teil einer unvorstellbar großen Dimension. Nur ein winziger Bruchteil der Geflüchteten weltweit schafft es in unser Blickfeld und die mediale Berichterstattung. Die meisten Krisen und mit ihnen Millionen Schicksale sind in Vergessenheit geraten. 

Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni gibt der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, die neuen Flüchtlingszahlen bekannt. In diesem Jahr verkündete er die traurige Zahl von 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht und warnte vor einer sich drastisch verändernden Realität. Vertreibung betreffe aktuell nicht nur viel mehr Menschen, sondern sie sei zudem kein kurzfristiges und vorübergehendes Phänomen mehr. 

Hinter uns liegt ein ganzes Jahrzehnt der Krisen und Fluchtbewegungen. Rund 100 Millionen Menschen mussten in den letzten zehn Jahren fliehen, entweder innerhalb ihres Herkunftslandes oder über Landesgrenzen hinweg. Hauptursache für diese unvorstellbar hohen Zahlen ist die Kombination aus Langzeitkonflikten wie etwa in Syrien, Afghanistan oder Südsudan und neueren Krisen wie in Venezuela oder Myanmar.

Der Jemen zählt zu den vergessenen und dauerhaftesten Krisen – ein Land, das eine der weltweit ältesten Zivilisationen besitzt, und heute selbst Schutz für knapp 300.000 Flüchtlinge bietet – die meisten aus Somalia. Gleichzeitig ist es tief gespalten und aufgrund von jahrelangen, bewaffneten Auseinandersetzungen völlig zerstört. 24,3 Millionen Jemeniten sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Knapp 3,7 Millionen Menschen wurden seit März 2015 vertrieben, 375.000 waren es allein in 2019. Jenseits des anderen Ufers am Roten Meer wächst eine weitere humanitäre Katastrophe. Ihr Schauplatz: die zentrale Sahelzone – eine in Ost-West-Richtung gestreckte, semiaride Übergangszone zwischen der Sahara im Norden und der Feuchtsavanne im Süden Afrikas. Zu ihr zählen Länder wie Burkina Faso, Mali und Niger. Mehr als 3 Millionen Menschen wurden dort bislang zur Flucht gezwungen, blieben entweder an anderen Orten im eigenen Land oder überquerten die Grenzen der Nachbarländer. 

Die Ursache: Bewaffnete Gruppen töten wahllos, terrorisieren die Zivilbevölkerung, zerstören Schulen und jegliche Bleibeperspektive. Viele Menschen finden zunächst Schutz in benachbarten Regionen und werden letztlich erneut vertrieben. Das Ausmaß der Verzweiflung ist so groß, dass einige sich entscheiden, trotz der unsicheren Lage in ihre Heimat zurückzukehren. Die Situation droht nun auch auf die benachbarten Staaten Benin, Côte d’Ivoire, Ghana und Togo überzugreifen.

Den Konflikten liegen verschiedene Ideologien bewaffneter Gruppen und ihre illegalen Finanzierungsmethoden zu Grunde. Die Sicherheitslage ist durch das breite Spektrum der Waffenakteure undurchschaubar geworden. Die anhaltende Unsicherheit und gewaltsame Eskalation zwischen den Konfliktparteien, sowie das Fehlen einer funktionierenden Infrastruktur, Überschwemmungen und unwegsames Gelände machen den Zugang der humanitären Hilfe in dieser Region kaum mehr möglich.

Die Situation wird durch die COVID-19-Pandemie zusätzlich verschärft. Sie hat bereits Gebiete erreicht, in denen Flüchtlinge und Binnenvertriebene Schutz gefunden haben. Der kontinuierliche Anstieg der Infektionsraten deutet auf eine bevorstehende Katastrophe hin, unter der das nationale Gesundheitssystem völlig zusammenbrechen würde.

Hinzu kommen die schleichenden Auswirkungen des Klimawandels: Der Sahel gehört zu den Regionen, die weltweit am meisten vom Klimawandel betroffen sind. Prognostiziert wird hier eine Temperatursteigerung von 3 Grad Celsius bis 2050, während sie im Schnitt weltweit bei 1,5 Grad liegen soll. Also das Doppelte. Schon jetzt sind aufgrund der Erwärmung etwa 80 Prozent des Farmlandes im Sahel in Mitleidenschaft gezogen worden. Ganze Landstreifen sind dabei zu verdorren. Damit verbunden sind ethnische Konflikte, die wegen der immer weiter schwindenden Ressourcen verstärkt aufflammen. 

Die unmittelbaren, sozioökonomischen Auswirkungen werden längerfristige Folgen für die Ernährungssicherheit und die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen in der gesamten Sahelzone haben, die sich unverhältnismäßig stark auf die Vertriebenen auswirken und die Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte erhöhen werden. 

Die Bilder in unseren Köpfen von treibenden Schlauchbooten und ertrinken Menschen auf dem Mittelmeer werden also nicht verschwinden. Im Gegenteil: Es werden mehr Bilder hinzukommen, die uns zutiefst erschüttern und sie werden sich in Regionen abspielen, die so lange vergessen waren und sich nun mit aller Macht in Erinnerung rufen. 

Die UNO-Flüchtlingshilfe ist als nationaler Partner des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) aktiv, um gemeinsam mit der Zivilgesellschaft in Deutschland, diese Menschen zu schützen.

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