#Ägypten

Die „Facebook-Revolution“ – Gedanken zum Einfluss des Internets auf politische Umbrüche

von , 14.2.11

Inhalt:
→ Teil 1: Warum das Internet keine politischen Revolutionen macht

→ Teil 2: 37 Mechanismen des Internets zur Förderung gesellschaftlicher Veränderungen

→ Teil 3: Warum wir kein endgültiges Urteil über das Internet fällen können

→ Teil 4: Das Empowerment des Publikums und die Geschmeidigkeit der Demokratie

→ Post Scriptum – Der Viertelgeviertstrich

Die Diskussion um die „Facebook-Revolution“ hat viele Facetten. Die erste ist, ob dieses Wort tatsächlich überhaupt von Diskutanten ernsthaft benutzt wurde, denn SPIEGEL ONLINE schreibt zwar als eine der ersten Publikationen ausführlich darüber, nennt aber die Quelle nicht. So wollten auch wir es halten, bis wir auf einen Blogbeitrag der F.A.Z. stießen, der auf die Basler Zeitung Online verlinkt, welche sich auf den Nachrichtendienst dapd beruft, der eine Politologin namens Harders der FU Berlin als Ägyptenexpertin zitiert. Fragt man die Quelle dieses Nachrichtenflusses per Mail, antwortet Frau Professorin Cilja Harders, freundlich und prompt:

Das habe ich in der Tat gesagt, es war aber nicht alles. Es begann mit Facebook und dann war Al-Jazeera ganz wichtig und, solange die Telefone noch gingen, natürlich auch SMS und Telefon. Das Spannende ist, dass die ganze Bewegung ihr Momentum gehalten hat, auch nachdem Telefone und Internet abgeschaltet waren. Es wurde immer weiter gepostet, die Außenwelt blieb informiert. Intern wurden wieder die alten Festnetzleitungen aktiviert und  in der Kommunikationssperre war Al-Jazeera entscheidend. Nicht umsonst hat das Regime dem Sender die Erlaubnis entzogen für einige Tage. Jetzt senden sie wieder aus dem Kairoer Studio.“

Und so haben wir als erstes einen Nebenfund: Mehr als dass Facebook zu Beginn eine Rolle spielte, sagt Frau Prof. Harders nicht, mehr wollte sie zumindest nicht sagen. Ihre These ist nicht ganz so steil, wie sie uns gemeldet wurde, weil es schon Facebook-Gruppen gab. Warum hat niemand gefragt, der sie zitierte? Fast 7.000 Google-Treffer, davon so mancher in Leitmedien, sind kein Ruhmesblatt für ebendiese.

Teil 1: Warum das Internet keine politischen Revolutionen macht

Sogar für den größten Internet-Freund dürfte klar sein, dass das Internet  keine Revolution „macht“, es kann nur den Ausdruck entsprechender Äußerungen unterstützen. Auch Panzer „machen“ keinen Krieg, sondern Menschen machen ihn. Der Grund, dass Menschen politische Veränderungen fordern, ist nicht das schöne Internet, sondern die dem auftretenden Konflikt zugrunde liegende politische, wirtschaftliche und soziale Konstellation – einschließlich des Zustandes ihrer Freiheitsrechte, ob beschnitten oder nicht. Kommunikationstools sind Verstärker, nicht Auslöser sozialer Interaktion (Quelle). Das Paradoxon daran ist, dass die Abschaltung des Internets, die Abschaltung von Mobilfunk oder der SMS-Massenversand deutliche Symptome der Einschränkung von Freiheitsrechten sind, kausal konnten sie dennoch nicht sein für zeitlich vorhergehende Ereignisse der Massenbewegung mit digitalen Mitteln. Vermutlich können wir aber hier ein zweites lernen: Erst durch die Verbreitung moderner Kommunikationsmittel wird auch ihr Abschalten als Fanal sichtbar. „Da, seht Ihr!“ ruft der Bürgerrechtler, denn die Handlung (Abschalten) ist nicht mehr Ausfluss von Diktatur, sondern ihr bester Beweis. Das ist das Problem aller Internetsperren, von China bis Tunesien: Spürbarer kann man Informationsfreiheit nicht einschränken.

Welche Rolle das Web auch immer spielte, man sollte auch Mobiltelefonie nicht unterschätzen (Richard Gutjahr sprach ad-hoc von „Handy-Revolution“). Denn welches Werkzeug haben Menschen häufiger bei sich als Brille und Gebiss? Wir müssen uns nicht nur den modernen Businesskasper, sondern wohl auch den modernen, urbanen Ägypter – ein schönes Bild von Peter Glaser– als Statue vorstellen, die ein Handy am Ohr hat und so potentiell mit Menschen permanent „connected“ ist. Wir haben weltweit ca. 5 Mrd. Handys bei 7 Mrd. Menschen – eine Quote, die in etwa wohl auch Kenia findet. Ist mehr Symbolkraft möglich, als durch zentrales Abschalten dieses weltverbindenden Kopf-Fortsatzes?

Internet-Evangelisten wird die Antwort enttäuschen. Die größere Symbolkraft geht von Informationen über Spitzel, Hunger, Panzern und Tötungen aus, die sich auch ohne Internet wie ein Lauffeuer als Real-Life-Meme verbreiten. Eigentlich verbietet es sich sogar, hier von „Symbolkraft“ zu sprechen, da sich die Kraft dem ursprünglichen Opfer dieser Handlungen gegenüber durchweg unsymbolisch zeigt. Wer wagt es, ein Veilchen am Auge wegen seiner „Symbolkraft“ zu erwähnen? Nein, wer Panzer befiehlt, wer körperliche Gewalt ausübt, hat im Vergleich zum Internet das mächtigere Werkzeug. Das befremdliche daran: Der Mausklick durch normale Bürger führt nur zum „(Dis-)Like“, der Mausklick des Soldaten auch zum echten Tod.

So eingeordnet, darf man die „Macht des Internets“ nicht überschätzen. Die Bezeichnung „Facebook-Revolution“ führt wohl viele Leser in die Irre: Man schafft es auch mit alten Medien, Massen zu mobilisieren (mehr hier). Auch lässt sich nicht bestreiten, dass die Nutzung von Online-Diensten für Bürgerrechtler kontraproduktiv sein kann, vor allem in autoritären Regimes, die den Internetverkehr überwachen und sich geheimdienstlich in Online-Diensten bewegen. Je mehr sich die gesellschaftliche Kommunikation ins Web verlagert, um so empfindlicher kann sie durch Kill-Switches und Cyberbomben einerseits oder durch Abschalt- und Zensuranweisungen von Regierungen andererseits getroffen werden. Hier zeigt sich die Werkzeugeigenschaft des Internets, das Zweck und Absicht erst durch den handelnden Menschen erfährt. Auch der beste Hammer zeigt sich „böse“, wenn man uns mit ihm schlägt.

Überhaupt, meine ganz persönliche Meinung, ist es noch ein bisschen früh, von „Revolution“ zu sprechen. Gut, der Diktator musste gehen. Aber was kommt jetzt ? Nach den Glückwünschen mag ich erst feiern, wenn ich freie Wahlen sehe.

Teil 2: 37 Mechanismen des Internets zur Förderung gesellschaftlicher Veränderungen

Bevor wir die Folgen des Internet-Einsatzes beurteilen können, müssen wir seine Mechanismen und Auswirkungen auf die menschliche Kommunikation verstehen.

Es ist weit verbreitet, das Internet einfach nur als ein neues Medium anzusehen. Das ist schon nicht richtig, weil es andere Medien enthalten kann, man muss es daher als „Meta-Medium“ oder Container ansehen. Aber auch das Meta-Medium führt in die Irre, seit Menschen im Web (! – und nicht nur per Mail oder ICQ) miteinander kommunizieren. Ich denke, der Paradigmenwechsel von Inhalt zu Kommunikationsakten ist der eigentliche Wandel seit dem sog. „Web 2.0“ – dazu aber mehr an anderer Stelle. Durch diese Kommunikation ist es besser, das Internet als „verschachtelten Kommunikationsraum“ (etwa Chris Stöcker im SpOn) zu betrachten. Es zeigen sich nämlich etliche Besonderheiten dieses „verschachtelten Kommunikationsraumes“, der gesellschaftliche Veränderungen fördert, und zwar unabhängig von der Staatsform.

Gruppe 1: Internetkommunikation mit Text, Hypertext, Rich Media

  1. Kommunikation im Internet ist fast immer schriftlich repräsentiert. Dies führt dazu, dass die Information weniger flüchtig ist als in anderen Formen wie dem Radio oder dem Telefonat. (Das wird sich mit Voice-/Video-Diensten eventuell ändern). Hierdurch erreicht die Information mehr Menschen. Sie kann auch von diesen solange abgerufen werden, bis sie besser verstanden wurde (z.B. Replay-Funktion).
  2. Auch TV- und Radiosendungen werden mit dem Container Internet verbreitet – und sind im Unterschied zu den flüchtigen Originalen jederzeit als Konserve abrufbar. Auch hier gibt es also eine Tendenz zur dauerhaften Verfügbarkeit von Information.
  3. Schon nach kurzer Zeit liegen Nachrichten in unterschiedlichen Formaten vor. Durch die Wahl des Medientyps je nach generellen oder situativen Wahrnehmungsvorlieben hat der Nutzer bessere Chancen, die Nachricht zu verstehen. (Video, kurz? Oder Text, lang oder kurz? Oder doch Bildergalerie?)
  4. Eine Information wird häufig nicht durch Wiederholung, sondern als Referenz weitergegeben (technischer Link oder inhaltliche Referenz). Hierdurch bleibt sie in der Weitergabe-Kette gut erhalten, im Gegensatz zum verfälschenden „Stille-Post“-Effekt der nicht-digitalen Kommunikation.
  5. Durch die Ubiquität von Information werden die Innenverhältnisse einer Region nach außen sichtbar und umgekehrt die Reaktionen und Meinungen von außen von innen sichtbar. Dies führt zu einem wichtigen Effekt: Der Support aus dem Ausland bestärkt Bürgerrechtler auf ihrem Weg. Umgekehrt helfen Dienste von außen den Menschen innen, fragmentarisches Wissen zusammenzuführen und zu bewerten. Es gibt viele Dankes-Tweets aus Ägypten in diese Richtung, die „Sofa“-Aktivisten können durchaus Wirkung erzielen.
  6. „Verlängerung“ von Medien-Infrastruktur (klassische Medien): Das Internet als Container für Medien trägt den Inhalt von TV- und Radiostationen noch als Archiv „in“ einer Website, macht diesen bearbeitbar, „remixable“ und verbreitbar (z.B. via Videoplattformen wie Youtube).
  7. Abbildung von Medien-Infrastruktur (klassische Medien): wie oben, der Sender wird jedoch live gestreamt.
  8. Substitution von Medien-Infrastruktur: Bei Störungen der herkömmlichen Übertragungswege kann eine TCP/IP-basierte Parallelarchitektur die weitere Ausstrahlung der Inhalte sicherstellen. (Beispiel: Satellit einer TV-Station wird durch Regime gestört).
  9. Substitution von Medien-Infrastruktur (digitale Medien): Das Internet als Medien-Container hat eine weitere Eigenschaft. Fällt eine Komponente aus, kann das Internet sie mit ein bisschen Infrastruktur ersetzen, wie das Beispiel des Twitter-Accounts Speak2Tweet von Twitter und einer Google-Tochter gezeigt hat, der Anrufe auf Mailboxen via Twitter zugänglich und im Web abspielbar machte (siehe hier).
  10. Dezentralität von Daten gibt es an vielen Stellen im Web. Eine der wichtigsten ist: Während Statusmeldungen von Facebook und Twitter erstens nur zu den Bedingungen dieser Unternehmen zugänglich sind und zweitens diese beiden Systeme als zentrale System gut angreifbar sind, gibt es inzwischen offene Standards, die auch Backup-Funktion haben, falls ein anderes System ausfällt. Ein Beispiel ist http://doost.status.net/, entwickelt mit OStatus. Folge ist: Wenn Twitter von einem Regime blockiert wird, weichen Nutzer aus (falls es überhaupt noch eine feste Zuordnung zu Plattformen wie Twitter geben wird). Das Internet wird auch hier redundant.
  11. Dezentralität des Netzes. Noch ist es nicht soweit, dass man das Internet nicht „ausschalten“ könnte. Mit privaten Funknetzen (insbesondere größerer Reichweite) sowie einer Koppelung nach dem Freifunk-Prinzip wird jedoch irgendwann der Tag kommen, dass zumindest innerhalb eines technisierten Landes bzw. einer Region die Kommunikation möglich bleibt. Während das Handy-Mobilfunknetz zentrale Strukturen hat, die von einem Regime abgeschaltet werden können, wird es durch dezentrale Webtechnologie irgendwann nicht mehr möglich sein, diese Struktur zentral zu stören.

Gruppe 2 sind Änderungen in Kommunikationsstrukturen und –geschwindigkeit:

  1. Das Internet bietet n:n-Kommunikation, mehrere Personen können mehrere andere mit einer Information adressieren. Diese Peer-to-Peer-Struktur ist einer der wichtigsten Merkmale. Dennoch geht es zu weit zu sagen „Content was never king. Contact is.“ (typisch hier), weil es nur eines von vielen Merkmalen ist.
  2. Das Internet hat virale Mechanismen. Durch die Kombination von sozialen Beziehungen und Sharingfunktionen erreichen Inhalte durch Mausklick hohe Reichweiten.
  3. Vererbtes Vertrauen: durch Ketten von Personenbeziehungen wird die Glaubwürdigkeit von Quellen verstärkt. Dem algerischen Twitter-Freund meines besten Freundes traue ich sogar mehr als der BBC bei der Frage, ob Algerien das Internet gekappt hat, obwohl ich den Twitter-Freund nie gesehen habe.
  4. Echtzeit-Kommunikation führt zu einer ungekannten Verbreitungsgeschwindigkeit: Was eben in Kairo geschah, ist sofort an jedem Ort verfügbar. Das gilt anscheinend nicht nur für Bürger-Tweets, sondern für die gesamte Nachrichtenwelt, da sich der Prozess der Nachrichtenverarbeitung beschleunigt.
  5. Nachrichtenquellen sind keine Insiderquellen, sondern werden immer mehr jedermann zugänglich, seien es Breaking-News-Dienste, Nachrichtenagenturen,  Journalisten-Tweets und – last but not least – berichtende Bürger. Hierdurch findet eine Verkürzung der Nachrichtenkette statt, was nicht nur Zeitvorteile bietet, sondern auch Fehlerquellen und Rauscheffekte reduziert.
  6. Content-Aggregation ist schon lange bei Suchmaschinen, RSS-Readern und Portalen wie iGoogle/pageflakes/netvibes zu finden. Heute finden wir sie weit leistungsfähiger in Nischen, Beispiele sind tweetmeme/rivva, flipboard, commentarist und noch einige Dutzend mehr. Dadurch können Information von Absendern eher unbedeutender Reichweiten für jedermann sichtbar werden, der nicht viral angesprochen wird. Pointiert gesagt: Ein Bürgerkriegs-Dashboard entsteht für den beobachtenden Bürger, und er hat gleichzeitig die Chance, eigenen Inhalt auf dieses Dashboard oder fremden Inhalt hierhin zu befördern.
  7. Maschinelle Zugriffe (z.B. verschiedenen Tweetlisten mit verschiedenen Hash-Tags) auf alle Informationsquellen ermöglichen dem betrachtenden Bürger seinen eigenen „Gefechtsstand-Monitor“:  Auf zehn Browsertabs lässt sich eine Revolution besser verfolgen als die NASA Apollo 11 verfolgen konnte. Es wird spannend, was passiert, wenn sich diese Mechanismen nicht nur auf Text beziehen. Poppt dann die wichtige Fernsehsendung als „Trending TV“ oben rechts auf, neben den Videos meiner Freunde?
  8. Durch „Social TV“ (Chat, Twitter) wird die Diskussion um TV-Inhalte angestoßen und der gesamte Prozess zeitlich verkürzt. Das Auditorium sieht, was im TV wichtig ist und kann die Information zeitlich parallel diskutieren und bewerten. Chris Stöcker nennt das einen „Echo-Raum“. Zur Erinnerung: Zu einer Abendsendung fand früher die Meinungsbildung erst am nächsten Werktag statt. Heute glauben wir nach zehn Minuten zu wissen, ob eine Show gut ist.
  9. „Public by Default“: Bei Twitter gut zu beobachten, wie man nach einem einfachen Suchvorgang (Textsuche bzw. Hashtag) oder Lesen einer Personenliste (Followerliste und Empfehlungsliste, z.B. als Tweet „For <thema> follow @person1, @person2…“) direkt die Tweets einer unbekannten und weit entfernten Person beziehen kann.
  10. Internationalität. Das klingt trivial und ist es auch. Wie allerdings dann ganze Gruppen (von ausländischen NGOs, Politikern und Unternehmen bis zu verschiedenen inländischen Personen) übergreifend vernetzt sind, ist schon beeindruckend http://www.kovasboguta.com/1/post/2011/02/first-post.html.

Gruppe 3 sind neue Angebotsformen

  1. Zentrale Ad-Hoc-Inhalteangebote sind schnell aufgesetzt. Hierzu gehören natürlich die bekannten Angebote von Google und Tumblr (siehe hier), die unter „Public Relations“ einzuordnen sind und daher künftig über Millionenbudgets verfügen werden. Was gibt es besseres für ein kommerzielles Unternehmen, als mit der richtigen (trojanischen) Idee für eine Woche die Aufmerksamkeit der halben Webwelt zu erhalten?
  2. Jedermann-Ad-Hoc-Inhalt: ein WordPress-Blog, ein Micro-Blog, eine Website, ein (weiterer) Twitter-Account wie @Anonymous123, eine Facebook-Fanpage, ein Wiki sind schnell aufgesetzt. Hinzu kommen weniger bekannte Dienste, die auf Flüchtigkeit angelegt sind und verschlüsselte Kommunikation erlauben (Beispiele Pastee https://pastee.org/,  snipt.org oder One-Click-Microblogging-Dienste nach Machart von txt.io). (Einstieg in die Gattung der Pastebins hier und eine Liste hier). Hier kommt aus der Programmierszene etwas auf die Politik zu, was noch nicht gesehen wird: Das Jedermann-Wikileaks ist da.
  3. Instant-Kampagnen: Innerhalb weniger Stunden entstehen Kampagnen-Websites, Unterzeichnerlisten, Shitstorms, Live-Reportagen etc., also spezifische digitale Ausprägungen von politischem Aktivismus. In Deutschland sehen wir sogar schon, wie eine Kampagnen-Mechanik recycelt wird: http://undnucdu.de/ ist nun die schon mindestens dritte Version einer Website aus dem Umfeld von Nico Lumma, die nach immer demselben Prinzip funktioniert. Wie lange dauert es, bis es Instant-Kampagnen oder -Plugins gibt, die man sich wie WordPress-Templates aussucht? Gibt es bald den Jimdo-Baukasten in einer Amnesty-Edition? Die Entwicklung beim Voting zeigt den möglichen Fortschritt.

Gruppe 4 würde ich versuchsweise als Verdichtung und Verstärkung bezeichnen:

  1. Bei der Weiterleitung von Information findet eine Relevanz-Gewichtung mit Resonanz-Verstärkung statt: Der nach Lesermeinung wichtigste Tweet setzt sich durch (und je mehr Menschen votieren, desto stärker wird dieser Effekt),
  2. Das Internet hilft bei der Aggregation von Nutzer-Meinungen, ein Voting, das „Faven“ bei Twitter und das „Bewerten“ von Kommentaren oder eine Fanpage auf Facebook sind schnell und leicht eingerichtet und durchgeführt. Während oben noch die redaktionellen Inhalte aggregiert wurden, wird hier ein Stimmungsbild einer Personengruppe sichtbar.
  3. Sofern an vielen Stellen des Internets Meinungsäußerungen auftreten (Beispiel: 3 Leitkommentare in klassischen Medien, 7 in Blogs) entstehen durch die Bewertung, das Zitieren und Referenzieren und durch die Anzahl an Kommentaren übergreifende Kommunikationsräume, welche die Einzelplattform in den Hintergrund drängen. Wer einmal intensiv eine Netzdebatte verfolgt hat, kennt den Effekt. Erst sprießen Beiträge, dann beginnt Diskussion, es entstehen Repliken, Verweise etc. – bis eine Debatte nach ein paar Tagen zum Erliegen kommt. Das würde man wohl einen sich selbst organisierenden Kommunikationsraum nennen, den kein anderes Medium so bietet, dass jedermann daran teilnehmen kann. Am Ende entsteht ein Bild dessen, was wichtig war und welchen Beitrag und welchen Autor man sich merken sollte.
  4. Anonyme Kommunikation als eine weitere Dimension der Kommunikation führt zu einer Klarheit bei der Meinungsäußerung, wie wir sie nicht einmal in freiheitlichen Demokratien bisher kannten: Nicht nur fällt die Rücksichtnahme auf eventuelle Repressionen durch das politische System weg, es entfällt auch der Hang, auf eventuellen sozialen Druck Rücksicht zu nehmen. Radikale Positionen sind eben auch in Deutschland leichter gesagt, wenn man anonym spricht. „Tod dem König!“. Kein Wunder, dass ein U.S.-Senator inzwischen von Facebook fordert, anonyme Profile zuzulassen.
  5. Die verkappte Meinungsäußerung ist ein junges Phänomen des Social Sharing. Wer einen Link auf Facebook „teilt“, wer Links auf einem Bookmarking-Dienst sammelt, wer einen Tweet retweeted, nimmt inhaltlich keine Stellung, sondern verweist nur auf diesen Link beziehungsweise Tweet. Er wird aber meistens eine ihm genehme Meinung häufiger verteilen als eine ihm nicht genehme. Folge: Trotz der formalen Neutralität ist bei Sharing die Wahrscheinlichkeit von Zustimmung höher als die von Ablehnung. „Tod dem König“ von @Antagonist erzeugt auf Aggregationsebene (z.B. Top-Tweets) schnell den Eindruck einer bewegten Menschenmenge, die dem Tweet zustimmt. Dieser Eindruck muß nicht richtig sein, es genügt aber die Gewissheit, dass etliche Nutzer den Retweet jedenfalls nicht für eine bloße Weitergabe halten, die vollkommen neutral ist. Vielleicht muß man aufgrund des offenkundigen Empfängerproblems, der in seine eigenen Vorurteilsfallen tappt, hier auch von einer versehentlichen Meinungsbildung sprechen.
  6. Kurzinformation auf Diensten wie Twitter führt durch den Zwang zur Verkürzung noch zu drei weiteren Effekten: Erstens gibt es Kurzformen der Zustimmung, z.B. „+1“. Zweitens werden komplexe Aussagen zwangsläufig zu kurzen Statements reduziert, die für Differenziertheit wenig Raum lassen: Die Welt ordnet sich in die Polarität von Pro und Contra. Drittens hat die Sprache häufig appellhaften, imperativen Charakter.
  7. All dies führt beim einzelnen Leser zu einer vorurteilskonformen Wahrnehmung und damit insgesamt zu einem „Aufputscheffekt“: Nach zehn gleichartigen Tweets (sowohl neutral wie explizit zustimmend) zu einem Thema unterliegt man schnell dem Einfluss derer, die man für die vermeintliche Mehrheit hält. Es fühlt sich an wie das Beobachten eines digitalen Hammelsprungs: 7 links dagegen, 3 rechts dafür – auch ich bin dann dagegen.

Gruppe 5: Verschiedenes

  1. Datenbankgestützte Zugangswege auf alle Informationen ermöglichen sekundenschnellen Zugriff auf Daten. So entstehen beispielsweise mit Hashtags Zugriffsmöglichkeiten auf „Big Data“, wobei die Zuordnung von Hashtag und Inhalt durch Vereinbarung der Gruppe erfolgt und sehr dynamisch sein kann. Entsprechendes gilt z.B. für Fotos von Kriegsschauplätzen mit Geokoordinaten.
  2. Es scheinen neue Rollen zu entstehen: Zum Demonstranten gesellt sich der Supporter, der eine Website zum Thema baut, aber nicht demonstriert (Beispiel Women of Egypt <FB_Gallery_link>). Vielleicht werden sich unter den Online-Supportern weitere Rollen ausdifferenzieren: der Bürger-Reporter, der Promotor, der Pusher, der Bomber (mit seiner DDoS-Kanone) usw.
  3. Digitaler Klingelbeutel: Mit der Möglichkeit künftiger Handies, Micropayments vor allem via Near Field Communication abzuwickeln, werden Bewegungen in einer weiteren Dimension digitalisiert werden. Crowdfunding im Stile von spot.us, kickstarter, betterplace.org ist heute schon da, man wird jedoch „instant“ zu Spenden aufrufen und auch Spenden vornehmen können. „Wir brauchen eine Videokamera – spendet hier“ wird der neue digitale Klingelbeutel, flankiert von Facebooks virtueller Währung.
  4. Zusätzlich hilft das Internet noch bei der Organisation des Widerstands: Gruppen finden sich auf Plattformen, sammeln Informationen (z.B. über inhaftierte Demonstranten – in einem Wiki als Ad-Hoc-Angebot, siehe oben) und verabreden sich, um nur einige Beispiele zu nennen.
  5. Aktivisten-War-Room: Was einzelne können, können Gruppen erst recht. Die digitale Aktivistengruppe ist geboren, die aus dem Wohnzimmer heraus Kampagnen steuert und entwickelt (Beispiel aus Kairo, Video hier). Mit entsprechenden Kollaborationstools, etwa Google Docs, Skype etc. kann diese Gruppe sich auch virtuell managen.
  6. Alle Beteiligten bedienen sich echter Monitoring-Tools, um die Situation analysieren zu können und im eigenen Interesse in die Kommunikation einzugreifen. Das Internet ist also, weil (noch) dessen öffentliche Teile ungeschützt für die Kommunikation eingesetzt werden, transparenter als es Telefonie je war, weil jedermann die Kommunikation mit einfachen Mitteln beobachten kann.

Zwischenergebnis:

Durch das Internet verändern sich kommunikative Prozesse sehr stark. Betroffen sind Inhaltsformen, Vernetzungsstrukturen, Nachrichtenketten, Verdichtungsmechanismen, Beschleunigungseffekte, Meinungsfindung, Aktivismusformen, Beobachtung/Monitoring und Finanzierung, um nur die wichtigsten Schlagwörter zu nennen.

Wo und wie genau das Internet in Ägypten wirkte, ist noch nicht ganz klar. Es ist eine Übertreibung, von Facebook-Revolution zu sprechen. Angesichts von 20% Internetabdeckung, wird man wohl das Internet (insbesondere Facebook) mit seinen Äußerungs- und Vernetzungsform als ersten Schritt der Artikulation sehen müssen, ab kritischer Masse gefolgt von realem Protest auf dem Tarhir-Platz. Ab dieser Stelle hatte Al Jazeera mit seiner Live-Berichterstattung große Kraft, wohl eher verstärkt durch Twitter-Kommunikation als durch Facebook – und in Wechselwirkung mit dem TV-Streaming.

Teil 3: Warum wir kein endgültiges Urteil über das Internet fällen können

Ägypten zeigt: Das Abschalten, das Überwachen und das Versenden von Nachrichten sind auch heute noch das Repertoire von Diktatoren.

Was wir hier an Technik sehen konnten, steht so sehr am Anfang, dass sich ein Lob des „Internets an sich“ verbietet. Von einer Dystopie vom Stand der Technik her sind wir nicht allzuweit entfernt: Dass nämlich zusätzlich zu den heute erkannten Eingrifssgefahren die Anonymität der Internetkommentare von Spezialprogrammen zur Autorenerkennung aufgehoben wird, dass Maschinen zur systematischen digitalen Desinformation als digitale Nebelbomben eingesetzt werden, dass Software-Agenten anhand von Geokoordinaten hohe Personendichten erkennen können, dass künftig Mini-Drohnen Bürger überwachen. Wer sagt uns denn, dass ein hochtechnisiertes Unrechtsregime nicht eines Tages Facebook-Anfragen von Robots aus verschickt, Misstrauen schürende Inhalte verbreitet und die Tentakel des Internet of Things uns nicht in der eigenen Tiefgarage einsperren, weil wir am Nachmittag zuvor einer Facebook-Gruppe beigetreten sind oder etwas getwittert haben, was eine Sentinentanalyse nicht ganz so witzig fand?

Auch wenn diese Dystopie nicht eintritt, vieles ist schon heute möglich. Was wird denn aus der nächsten Revolution, wenn ein Regime ein zentrales Internet-Kommunikationssystem stört, ein Plattformanbieter heimlich eine Backdoor zum Monitoring anbringt oder gezielt in die Meinungsbildung eingreift – zum Beispiel durch Zensur von Statusmeldungen oder „Entfreunden“ von Menschen, die bestimmte Themenseiten mögen (Phantasie eines Senators) ? Warum sollte sich Facebook in Ägypten anders verhalten (müssen) als Vodafone, eine lokale Repräsentanz mit Vertriebsfunktion vorausgesetzt, deren Menschenleben gefährdet sind? Haben wir wirklich schon einen echten Cyberwar gesehen, eines Regimes gegen seine Bürger, und nicht nur von Regierung zu Regierung gegen ausländische Zentrifugen?

Wir müssen also diskutieren, was morgen werden soll. Es ist denkbar, dass das Internet für freie Meinungsäußerung überall auf der Welt eines Tages unbenutzbar wird, wenn wir Technokraten nicht gesellschaftlich in ihre Schranken weisen und von Sicherheitsfanatikern nicht immer wieder eine Rechtfertigung für ihre Eingriffe in Freiheitsrechte verlangen – was hierzulande wohl ungeheuer revolutionär klingt, aber schon immer unbestrittene Meinung in der Grundrechtsdogmatik ist, die „Verhältnismäßigkeit“ lässt grüßen. Hier geht es nicht um einen gesellschaftlichen Nebenschauplatz. Es geht zum ersten um das Primat des Sollens gegenüber dem Können, zum zweiten um Freiheit versus Sicherheit (Sicherheit ist kein gleichrangiges Rechtsgut!) und drittens um eine Betrachtung der ganzen Problematik aus einer historischen Perspektive (bedenkt man die Dauer möglichen Datenmissbrauchs: ein Menschenleben, von heute an). Was sollen wir in 80 Jahren dürfen, wenn jeder seine Videodrohnen hat? Steigt die Mißbrauchsgefahr des Internets, weil es weiter in die Wirklichkeit dringt, mit seinen Sensoren und Aktoren? Man muss kein „Matrix“-Fan mehr sein, um die Dystopie des digitalisierten Totalitarismus für möglich zu halten.

Die Worte von Angela Merkel, dass „es zunehmend schwieriger wird, Twitter und Facebook“ zu sperren, sind nicht glücklich gewählt. Erstens sind genau diese beiden Systeme jeweils ein „Single Point of Failure“ – sie zu sperren ist gegenüber den übrigen 95% der Webnutzung vergleichsweise einfach. Zweitens darf man hoffen, dass die Kanzlerin die beiden Dienste als Stellvertreter für „Web-2.0-Dienste“ verstand, als sie ihre Rede hielt, genauer: den Teil des Webs, in dem jedermann ungehindert, kostenlos, von überall und mit geringen Mitteln publizieren kann („WriteWeb“). Drittens zeugt die Zusatzaussage, es sei „auch … unser Verdienst“, dass diese Dienste nur schwer zu sperren seien, mindestens für mangelndes Feingefühl in der Diskussion um Netzsperren, Deep-Packet-Inspection, maschinelle Abmahnwarnungen, Kill-Switches und Vorratsdatenspeicherung. Im Kontext gemeint waren mit „unser“ vermutlich die Demokratien westlicher Prägung; aus der Perspektive eines Inländers mutet diese Aussage jedoch wie eine Provokation an. Wen, wenn nicht Facebook, kann man sperren – ein Unternehmen, das ausschließlich U.S.-Server hat, dessen Anschrift bekannt ist und dessen Gründers Privatleben von Hollywood verfilmt wurde? Wer Netzsperren erst gesetzlich festschreibt und danach durch die Exekutive kassiert, muss sie legislativ spätestens dann aufheben, wenn er öffentlich sagt, dass nicht einmal Facebook gesperrt werden kann. „Wir“, die freiheitlichen Demokratien, wären jedenfalls gut beraten, den möglichen Schaden von Sperrarchitekturen nicht nur auf die Gegenwart zu beziehen. Auch nach 60 Jahren Demokratie und Rechtsstaat können wir nicht sicher sein, was in Dekaden vor uns liegt. Wer weiß schon so genau, ob sich der Weltgeist immer nur zur Vernunft hin bewegt? Tunesien und Ägypten sind fast schon ein Beweis dafür, wie sich das Blatt 20 Tage später unerwartet wenden kann. Vielleicht hatte es doch Vorteile, einen Historiker zum Kanzler zu haben?

Es gilt also, langfristiger zu denken. Ich halte es für einen Fehler, aus aktuellen Ereignissen mit aktuellen technischen Möglichkeiten ausgerechnet in Afrika auf den Wert des Internets zu schließen. Über das Internet können wir vielleicht in 30 Jahren urteilen, wenn ein Despot die Hälfte seiner 50 Milliarden USD in die fünfte Generation von Überwachungstechnik gesteckt hat. Bis dahin heißt es: dezentrale und ausfallsichere Architekturen schaffen und den Austausch von Daten zu standardisieren und eventuell sogar als Anspruch zu regeln. Auch müssen wir mittelfristig darüber nachdenken, wie wir der Diskriminierung durch private Plattformen bei der Ausübung grundrechtsrelevanter Tätigkeiten vorbeugen. Privatunternehmen weltweit in dieser Weise zu verpflichten ist ein rechtsdogmatisches und wirtschaftliches Minenfeld und es besteht hier auch kein Grund zur Eile, zumal die schwarzen Schafe nicht Google, Facebook oder Twitter sind. Es geht auch nicht unbedingt um den „großen Wurf“, wie man an Kleinigkeiten sieht, ob etwa Facebook einen https-Account anbieten muss. Doch sollte man diese Gemengelage im Blick haben, bevor es wirklich einmal zu Problemen kommt. Wenn sich das Internet und seine Player weiter so entwickeln, wird irgendwann die Frage kommen müssen: Wie können wir sicherstellen, dass das Betriebssystem der Menschheitskommunikation auch im Notfall und diskriminierungsfrei funktioniert?

Teil 4: Das Empowerment des Publikums und die Geschmeidigkeit der Demokratie

Wir haben oben (2.) gezeigt, dass das Internet durch seine spezifischen Möglichkeiten die Kommunikation stark verändert. Um die Auswirkungen genauer zu betrachten, ist eine Erkenntnis hilfreich: „Das Web ist ein System, das es anderen Systemen ermöglicht, füreinander Umwelt zu sein.“ (Markus Spath, hackr). Dies bedeutet, dass man nicht nur die „Aktivisten“-Kommunikation betrachten darf, um die Folgen des Internets einzuschätzen. Man muss stattdessen einerseits die Interaktion zwischen Politik, Medien, Publikum und anderen Systemen betrachten, andererseits die Veränderungen jeweils innerhalb dieser Systeme – weil das Internet die Kommunikation innerhalb von Systemen und zwischen diesen trägt und verändert.

Diese Gesamtsicht taugt als Habilitationsthema, daher hier nur Grundgedanken:

Im totalitären System, das Regierung, Parteien, Medien gleichschaltet und hierdurch den gesamten Prozeß von a) Meinungsäußerung über b) Willensbildung und c) Verdichtung und d) Wahlentscheidung verhindert und manipuliert, kann das Internet das Publikum befähigen, sich wider Willen der Herrscher öffentlich zu äußern (WriteWeb, Twitter…), sich eine Meinung zu bilden (Diskussionen in Blogs, in sozialen Netzwerken, auf Twitter…), diese zu verdichten (Follower, Likes, RTs…) und sich zu organisieren und konkrete Aktivitäten im „Real Life“ zu entwickeln (Aktivismus-Beispiele oben 2.). Sobald im „Real Life“ Ereignisse stattfinden, wird die Systemgrenze zwischen Inland und Ausland überschritten, die das totalitäre Regime unter Kontrolle hatte: durch Handyaufnahmen im Inland und TV aus dem Ausland wird jedes Ereignis für jedermann sichtbar (und zwar über Internet UND andere Medien). Durch kommunikative Begleitung („Social TV“) entstehen Verstärkungseffekte mit großer Sprengkraft.

Dies bewirkt das Internet aber „nur“ im Publikum, da alle anderen Systeme kontrolliert, gleichgeschaltet, abgeschottet sind: Es ist das Publikum, das sich äußert, diskutiert, sich organisiert, entscheidet und letztlich „auf der Straße“ handelt. Hinzu kommt, wie eben gesagt, dass die Systemgrenze zwischen Inlands- und Auslands-Kommunikationsraum fällt.

In der Demokratie sind die Auswirkungen des Internets weitgehender und komplexer, da sich durch die Nutzung des Internets auch das politische System und die Medien verändern. Hier einige schon heute sichtbare Ansätze, die zusätzlich zu den Publikumseffekten (oben, Diktatur) auftreten:

  1. Politisches System: Das Innere und somit auch die Qualitätsmängel von Politik werden sichtbarer als bisher, und zwar von den Ergebnissen (z.B. Gesetzesentwürfen, die zum Teil recht kompetent in Blogs diskutiert werden, z.B. JMStV), Prozessen (Live-Streams von Parlamentssitzungen, Pressekonferenzen, Ausschüssen, Enquete…) und Personen (ich meine hier z.B. Tweets einiger Abgeordneter).
  2. Durch Digitalisierung verliert das Mediensystem an Leitkraft. Wer will, holt sich mit einem Klick mehrere unterschiedliche Meinungen ein, in jedem Fall aber sieht er fast immer kritische Leserkommentare. Schritt 1: Die Einzelpublikation verliert das Überschießende an Leuchtkraft, mitunter sogar ihre Glaubwürdigkeit. Schritt 2: Die Meinungsvielfalt über alle Publikationen hinweg wird sichtbarer. Schritt 3: Der natürliche Wille zur eigenen Identitätsbildung verschiebt die eigene Meinungsbildung vom Muster, fremde Wertungen zu übernehmen, zum Muster, sich selbst zwischen divergierenden Meinungen entscheiden zu müssen. Das Selbstvertrauen des Publikums steigt, zumal echte oder scheinbare Experten die Szene mitbestimmen.
  3. Die Trennung von Medien und Publikum wird durch das WriteWeb aufgehoben: es kann ja jeder schreiben und wird zum Publizisten. (Heutige Reichweiten der Nachrichtenportale bestätigen das noch nicht.) Auch dies kann dazu führen, dass das hergebrachte Mediensystem an Wirkung verliert. Vielleicht läßt es sich auch irgendwann vom Publikum nicht mehr trennen: ein Teil schreibt, und ein Teil liest und kommentiert – der Rest ist Technik zur Distribution, Aggregation, Bezahlung?
  4. Publikum: Das Publikum erlebt Entfremdung zur Politik, da erstens das professionelle Mediensystem die Leitkraft verliert (s.o.). Die Entfremdung steigt, wenn sich zweitens das politische System nicht kommunikativ reformieren kann, indem es inhaltsleer-appelative, sinnlose und rituell erstarrte Kommunikationsartefakte wiederholt („Die Fraktion hat sich aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen“, „FDP statt GRÜNE“, „Ich bilde kein Schattenkabinett.“,„Bin beim Schützenfest“-Tweet). Kommt es drittens zu Ergebnissen, die für einfache Bürger ohne die Vermittlung der Medien recht skurril aussehen, steigt die Entfremdung: Hätte nicht schon Pooh der Bär gefragt, wieso man eine Enquete einsetzt, wenn man zeitgleich eine Kakophonie der skurrilsten Gesetzesvorschläge und Vorgehensweisen von Politikern und Ministern bzw. Senatoren in der Presse lesen muß? Muss man Vulkanier sein, um den Widerspruch zwischen der grundgesetzlich verankerten Volkssouveränität einerseits und „EU-Vorgaben“ bei der Vorratsdatenspeicherung andererseits zu erkennen? Hätte ALF keine Entschuldigung von seinen Pflegeeltern verlangt, wenn diese ein verfassungswidriges Gesetz zu seiner Überwachung erlassen hätten?
  5. Die Kommunikationskanäle zu bespielen wird für die Politik möglicherweise schwieriger: Das strukturierte, hergebrachte Mediensystem wird zunächst ergänzt (und vielleicht auch ersetzt, siehe z.B. newsgrape.com) durch eine dynamische Ad-Hoc-Struktur mit einer Vielzahl von „Input-Stellen“. Hier ändern sich möglicherweise Schnittstellen zwischen Politik und Medien (von alt zu neu.)
  6. Der umgekehrte Kanal von Publikum zu Politik wird immer direkter und schneller: Gremien und Mandatsträger sehen durch moderne Social Media Monitoring Tools den Meinungsstand im Publikum zu allen relevanten Themen. Wir sind keine 10 Jahre entfernt von einer Realtime-Demoskopie, bei der Stabsstellen morgens in Berlin ein umfassendes, gleichförmiges Reporting über die Volkesstimmung ihren Entscheidern vorlegen. Wenn hier noch herkömmliche Medien berichten – und das werden sie! – entsteht ein neuer Echtzeit-Echo-Raum.
  7. Leak-Plattformen sind darauf ausgerichtet, dass kein System mehr eine Innensicht mit Sicherheit annehmen kann. Die Kommunikation dringt entweder nach aussen oder findet nicht mehr digital statt (oder muss verschlüsselt werden.)

Es sieht alles danach aus, als würde das Publikum erstens tiefer in Medien- und Politik-System „hineinsehen“ können (mit ersterem langfristig vielleicht sogar verschmelzen?), sich zweitens stärker von den etablierten Playern in Medien und Politik distanzieren und drittens stärker innerhalb (untereinander) zusammenrücken. Das kann man Empowerment oder Partizipation nennen und als Weg zur gelebten Volkssouveränität feiern, der durch das Internet geebnet wird. Dabei wirkt die Strukturlosigkeit und die Unvorhersagbarkeit des Publikums mitunter bedrohlich, kann jedoch kurzfristig – weil nicht legitimiert zu Rechtsetzung und Gewaltausübung – nichts „anrichten“, weil es personell von der Legislative entkoppelt ist. Für die Synchronisierung zwischen Publikum und  Politik sorgen die nächsten Wahlen –  und die Politik nimmt dies künftig durch ihre Bestrebungen vorweg, die Bewegungen des Publikums möglichst in Realtime-Demoskopie nachzubilden, am besten in Facebook, damit die Distanz sich eben nicht vergrößert. Doch hat nur die Politik in demokratischen Systemen diese „Geschmeidigkeit“ zum Machterhalt. Dem Diktator, der sich nicht anpassen will, wird dieses Empowerment des Publikums zum Ver-Hängnis.

Post Scriptum – Der Viertelgeviertstrich

Nun wissen wir also, dass es eine „Revolution durch Facebook“ nicht gab und eine „Facebook-Revolution“ auch nie behauptet wurde. Trotzdem fanden sich neben den Abschreibern, welche die These kolportierten, auch wieder einmal Protestanten, die gleich die Antithese an die Tür nagelten, beispielsweise im Blog der SPD.

Es ist faszinierend zu sehen, wie 16 Buchstaben und ein Strich das Mediensystem in Schwingung bringen. Gibt es ein unklareres Wort als „Facebook-Revolution“? In welchem Verhältnis standen „Facebook“ und „Revolution“? Revolution bei Facebook (wie bei Winter-Schlussverkauf), Revolution von Facebook (wie bei Hosen-Träger) oder Revolution zum Zwecke von Facebook (wie bei Killer-Tomate)? Ein Blick in die Wikipedia zeigt: Die Koppelung durch den Viertelgeviertstrich hat gar keine Semantik, die Teile sind auf geheimnisvolle Weise einfach nur verbunden, wie zwei Dinge mit Klebstoff. Es ist ein Kreuz mit dem Bindestrich. Profi- Journalisten hätten hier noch stutziger werden müssen als beim Satz „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, weil letzterer ja immerhin mit „gehört-zu“ die Beziehung zwischen „Islam“ und „Deutschland“ in überhaupt irgendeiner Weise zu beschreiben versucht.

Nun hätte man die unklare Wortwahl freundlich ignorieren, den Umständen zuschreiben oder bei der Professorin nachfragen können. Der Reflex ist aber Kritik. Das verwundert, denn auch zur Bezeichnung „November-Revolution” sind seit 1919 und zur „Mai-Revolution“ seit 1810 keine kritischen Beiträge vernommen worden. Es findet sich auf Anhieb auch niemand, der die Bezeichnungen „Prager Frühling“, „Singende Revolution“, „Tulpenrevolution“ und „Nelkenrevolution“ als zu euphemistisch kritisiert. Bei der georgischen Rosenrevolution genügte ein wunderschöner Satz, ihr den Namen zu geben: „Wir werden Rosen statt Kugeln auf unsere Feinde werfen.“ Hat damals jemand im SPD-Blog geschrieben: „Das ist keine Rosen-Revolution“? Willy Brandt hätte zu Lebzeiten tagelang sein Zimmer nicht verlassen, und das völlig zu recht.

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.