von Klaus-Peter Schöppner, 5.1.10
Wir sind im Jahr 2010, im Agenda-Jahr, im Jahr, in dem wir eigentlich auf ein Deutschland, das fit für die Zukunft ist, schauen sollten. Doch die Deutschen rechnen mit einem Jahr ziemlicher Schwierigkeiten: Der positive Teil ihres Ausblicks für dieses Jahr: „Ich komme schon durch, vielleicht sogar etwas besser als derzeit“ glauben immerhin 37 Prozent von Ihnen, vor einem Jahr waren es nur 29 Prozent.
Das Vertrauen in die eigene Stärke nimmt also zu, trotz weiterhin mauer Wirtschaftserwartungen: Gerade mal jeder Zehnte rechnet mit einer Erholung, 50 Prozent hingegen, dass die deutschen Unternehmen weiterhin große Schwierigkeiten haben, im internationalen Wettbewerb zu bestehen – und die Bürger weiterhin den Konsum verweigern.
Zugleich spüren die Wähler zunehmend, dass diese Krise auch eine Zäsur darstellt: Vieles werde wohl nach der Krise nicht mehr so sein, wie es mal war. Das Jahr 2010 werde auch ein Jahr des Abschieds vom so manch’ Liebgewonnenem werden: 85 Prozent halten die Politiker-Parolen vom gestärkten Hervorgehen aus der Krise, vom „Du-darfst-so-bleiben-wie-Du-bist“ für unglaubwürdig.
In der Folge verdüstern sich in keinem Bereich die Erwartungen der Bürger so stark, wie beim inneren Zusammenhalt hierzulande. Mehr als jeder Zweite erwartet beispielsweise dieses Jahr mehr Streiks und Verteilungskämpfe. Nur fünf Prozent rechnen mit einem Rückgang.
Die Reihe alarmierender Signale und Umfragedaten ist beliebig fortsetzbar: Für nur neun Prozent wird es unseren Kindern in 10 Jahren besser gehen als heute. An bessere Lebensumstände für die Alten glaubt jeder Dreißigste. Dass die Unternehmer von der Krise profitieren hingegen 55 Prozent. 2010 droht das Ende friedlichen Miteinanders.
Die zentrale Politikfrage 2010: Wie will Deutschland den inneren Zusammenhalt trotz Globalisierung, Demografie und Staatsverschuldung meistern? Wie kann man die Kluft zwischen Notwendigem und Wünschbarem noch befrieden und erklären? Das geht an die Substanz der Identität: Wofür steht Deutschland eigentlich: Für Wirtschaft oder Wirtschaftskritik? Wut oder Neuanfang? Starke Wirtschaft oder Staatsfürsorge?
Vieles spricht dafür, dass dieser Konflikt nicht über gemeinsame Antworten, sondern über das Prinzip „Jeder hat seine Welt!“ aufgelöst wird. Ein solcher Zeitgeist fehlender gemeinsamer Werte, die Gefahr der „Atomisierung“, also des Zerfalls der Gesellschaft in unterschiedlichste Kleinstinteressen, wird zur größten Herausforderung der Parteien in 2010.
Um diese zu bestehen, werden sie Abschied nehmen von ihrer Lieblingsrolle als „Partei der Mitte“, weil die Wähler ihre Eigeninteressen gerade in Zeiten des Wandels schützen wollen: Profil statt Verwässerung, Stärken stärken, statt Stärken dem Mittelmaß preiszugeben. Auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen, statt sie gleichzuschalten. Nicht „Mitte für alle“, sondern „Auch Deine Interessen zählen“ wird zur Erfolgsbotschaft: Nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die dicke Klammer um begründbare Anliegen wird das politische Ziel für 2010.
Sowohl-als-auch-Politik wird also zum Weg aus der Politfrustfalle. Beispiel Bildungspolitik, eines der zentralen Politfelder 2010: Nicht nur Eliteförderung oder nur Integration bildungsferner Schichten, beides zusammen dient dem langfristigen Wohl des Staates. In der Wirtschaftspolitik ist es nur vernüftig, wenn die Wachstumsbedingungen der Unternehmen an die Sicherheitsinteressen der Arbeitnehmer gekoppelt werden. In der Ausländerpolitik sind Integrationsbedürfnisse und -anforderungen gleichrangige Ziele für Deutsche und Ausländer. Und in der Sozialpolitik haben Steuerzahler und Sozialempfänger Rechte und Pflichten. Wer nimmt, muss sich Bedingungen unterwerfen, wer gibt, hat das Recht auf Einhaltung dieser Regeln.
2010 werden die Parteien Abschied nehmen von der „It’s-the-economy, stupid!“-Mentalität der letzten Jahrzehnte: „Allein die Wirtschaft zählt“ hat ausgedient, die Deutschen fordern die „gute“ Wirtschaft. Nicht mehr nur gute Bedingungen für Unternehmen, sondern gleichzeitig soziale Mitverantwortung. Der „Rheinische Kapitalismus“, der beide Teile der Sozialen Marktwirtschaft gleich bewertet, erlebt eine Renaissance.
2010 wird Politik zum ersten Mal nach „Fairness“, also dem fairen Interessenausgleich bei sich verringerndem Wohlstand bewertet. Wenn schon nie wieder „Wohlstand für alle“, dann bitte eine sozial faire Verteilung des Mangels. Inwieweit es den Parteien gelingen wird, die Gesellschaft wieder zu versöhnen statt zu spalten, davon wird ihr Erfolg im berühmten Agenda-Jahr und die Sonntagsfrage 2010 entscheidend abhängen. Gesucht wird nicht weniger als ein neuer „Gesellschaftsfairtrag“ unter den Bedingungen abnehmender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ressourcen.