von Bernhard Pörksen, 19.1.11
Immanuel Kant war kein freier Journalist. Und die Frage, ob das iPad die Zeitungsverlage erlöst, ob mit Sascha Lobos Frisur in leicht verrätselter Form auch ein Rezept für freie Journalisten vorliegt, ob Jeff Jarvis Recht hat, wenn er einen unternehmerischen Journalismus fordert – dies alles hat ihn nicht beschäftigt, als er in einem früheren Jahrhundert die zentrale Frage nach dem richtigen Handeln traktierte.
Sie lautet: Was soll ich tun? Der Philosoph würde sich, um sie zu beantworten, in sein Zimmer einschließen – und dort in der Stille einen Imperativ für alle Fälle formulieren. Der Autor dieser Zeilen möchte da nicht zurückstehen – und einen kategorischen Imperativ für freie Journalisten präsentieren, der da heißt: Handle stets so, dass Deine Form der Publizität unverwechselbar wird.
Aber wie erreicht man Unverwechselbarkeit? Wie wird die eigene Publizität zur Marke? Es sind, so lässt sich zeigen, sieben Strategien, die erfolgreiche Freie auszeichnen und die sie bewusst oder unbewusst verfolgen – und die den kategorischen Imperativ umsetzen.
1.
Die erste Strategie läuft auf folgende Aufforderung zu: Finde Deine Rolle! Wer den Markt der erfolgreichen freien Journalisten beobachtet, der sieht, dass viele von ihnen einem Rollenscript folgen, dass sie einen Typus verkörpern. Zum Beispiel: Es gibt den Scout; er ist der Experte für fremde Welten und trägt die Erkennungszeichen der Subkultur. Seine Autorität verdankt er der Tatsache, dass diejenigen, die ihn bezahlen, vermuten, dass er irgendwelche Geheimnisse hat. Geheimnisse etwa, die sie – ein paar Übersetzungsvorgänge später – in Marketingideen des Establishments übersetzen lassen.
Es gibt den Trendforscher, der Zeitstimmungen in kreativer Weise auf den Begriff bringt und die Unternehmen und Verlagsbürokratien mit dem nötigen intellektuellen Sauerstoff versorgt, sie gleichsam konzeptionell beatmet. Und es gibt den Experten, der aufgrund seiner Bücher und Artikel als Spezialist gefragt ist. Man entdeckt den Stilisten, der wegen seiner Schreibe einkauft wird. Und natürlich den routinierten Produzenten, der einfach weiß, wie man Geschichten anlegt, die sich rasch recherchieren, schnell schreiben und gut verkaufen lassen. Sie und viele andere arbeiten stets als Meta-Kreative, die ihren Namen mit einer Zusatzbotschaft versehen und ihre Rolle gefunden haben: Seht her, dafür stehe ich! Das ist, so scheint es, eine kluge Strategie auf dem Weg zur Unverwechselbarkeit.
2.
Die zweite Strategie heißt: Erweitere Deinen Markt! Nur-Journalismus funktioniert nicht mehr, zumindest nicht für Freie. Die Form der unverwechselbaren Publizität braucht unterschiedliche Foren, Medien, Gattungen und Abnehmer, die nicht mehr nur im klassischen Journalismus angesiedelt sind. Der Bildungsjournalist setzt eben auch den großen Kongress zum Thema ins Werk, hält die Dinner Speech in interessierten Kreisen, vertreibt seine Film in Eigenregie als DVD, moderiert und betreut Veranstaltungsreihen. Der Netzscout bloggt und macht eine Medienseite, schreibt Bücher, die auf seinem Blog promotet. Der Inside-Outsider verfasst vielleicht irgendwann mal eine bestellte Politiker-Biographie oder wird wieder zum Berater. Und so weiter.
Diese Markterweiterung kann man als Hybridisierung und Entgrenzung der Profession attackieren, aber sie ist inzwischen wohl einfach eine ökonomische Notwendigkeit. Vermutlich ist die Ideologie der journalistischen Reinheit tatsächlich empirisch gescheitert – übrigens auch bei den Festangestellten, deren Medien sich in Handelsunternehmen und Kongresshäuser verwandelt haben, die für ihre eigenen Werke trommeln oder für Botschaften ihrer Dienstherren. Und vermutlich muss man die oft allzu absolut und prinzipiell formulierte Ideologie der Reinheit durch die pragmatischere Ideologie der Transparenz und der konkreten Sphärentrennung ersetzen, die besagt: Offenlegung der eigenen Rollenkombination, gesteigerte Sensibilität für Interessenkonflikte, keine unmittelbare Vermischung von eigenen journalistischen Themen mit PR-Aufträgen, Primat des journalistischen Aufklärungs-Ethos, wenn es zum Schwur kommt.
3.
Die dritte Strategie besagt: Kombiniere Imagemedien und Honorarmedien! Diese Strategie ist rasch erläutert. Erfolgreiche Freie bedienen sich oft einer Kombinationsstrategie, einer Mischkalkulation. Sie arbeiten für Imagemedien, pflegen z.B. ihren Blog, sie schreiben schlecht bezahlte Artikel für die Zeit, sie verfassen Bücher und Studien, sie kreieren Zeitschriften, die sich u.U. kaum verkaufen bzw. keine Markterfolge werden – aber die sich doch sekundär und in zweiten Schritt nutzen lassen: als Etikette der Unverwechselbarkeit, als symbolisches Kapital, das sich am Ende des Tages wieder in echtes Geld verwandeln lässt.
4.
Die vierte Strategie ist eher eine Beobachtung, die sich zu folgender Formel verdichten lässt: Kreiere das Milieu, in dem Du selbst gerne arbeiten möchtest! Erfolgreiche freie Journalisten sind oft auch Milieugründer, Erfinder ihres eigenen Arbeitsumfelds. Es gibt das faszinierende, außerordentlich stabile Kommune-Modell der Agentur Zeitenspiegel, die Zentrale Intelligenz Agentur und das Netzwerk um Markus Peichls Lead Award, mehr oder minder virtuelle Zusammenschlüsse von freien Autoren und Gesinnungsgenossen, Bürogemeinschaften wie Plan 17 – vielleicht ist diese Neigung der Milieugründung der Erkenntnis geschuldet, dass Kreativität ein institutionelles Minimum braucht, ein Anregungsfeld aus Individualität und Organisation, das Vereinzelung verhindert. Ob es hier um eine soziale oder um eine ökonomische Notwendigkeit oder um beides geht, ist vermutlich unentscheidbar.
5.
Die fünfte Strategie lautet: Agiere nachhaltig! Ein zu rascher Themen- und Rollenwechsel zerstört natürlich die erst einmal mühsam erarbeitete Reputation und gefährdet die einmal gewonnene Unverwechselbarkeit. Manche freie Journalisten haben sich daher regelrecht einem Lebensthema verschrieben; sie bauen ihre Position immer weiter aus, legen nach dem Erstlingserfolg auf dem Buchmarkt nach, begleiten die Thesenproduktion durch Blogs und durch ein ausdifferenziertes System von Aktivitäten. Unter den Bedingungen einer massiven Aufmerksamkeitskonkurrenz ist das gewiss sinnvoll. Kurz und knapp: Nachhaltigkeit schafft Unverwechselbarkeit.
6.
Die sechste Strategie heißt: Experimentiere! Nur beim Thema bleiben reicht nicht. Viele interessante Innovationen, die vielleicht über manchen Umweg einmal robuste Geschäftsmodelle und in anderer Weise auch profitable Großprojekte werden, kommen im Moment aus dem freien Journalismus: Hier experimentiert man besonders intensiv in der gatekeeper-freien Zone, geht oft einfach konzeptionell in Vorleistung, entwickelt Videoblogs und Slideshows, neue Vertriebsmodelle für Bücher ohne Verlag, Micropayment-und Abo-Varianten für Artikel, Recherchestrategien der Live-Dokumentation, Online-Magazine. Und so weiter.
7.
Die siebte und letzte Strategie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Erkläre Dich zum Propheten! Es ist ein Faktum, dass gerade freie Journalisten in ein avantgardistisches Zeit- und Wirklichkeitsbewusstsein regelrecht hineingezwungen werden. Manchmal ist das schön, manchmal schrecklich. Was ist damit gemeint? Damit ist gemeint, dass sie – oft vor den anderen, oft vor dem Rest der Gesellschaft – erleben dürfen und erleben müssen, wie radikal sich die Arbeits- und Medienwelten verändern. Die entsprechenden Trenddiagnosen lauten: Beschleunigung und Transformation der Geschäftsbeziehungen durch moderne Medientechnologien, Informatisierung und Entgrenzung der eigenen Arbeitskraft, Erosion des Berufsprinzips, Zwang zur Selbstständigkeit, Entwicklung von neuen Kooperationsformen. Eine ganze Reihe von Journalisten haben diese avantgardistische Zwangs-Position benutzt, um sich selbst die Rolle des Propheten zu geben; gestützt durch private Feldforschung im Freundeskreis oder im eigenen Milieu – eine Art der schmutzigen, aber doch sehr produktiven Soziologie, die ohne die Distanzformeln klassischer Wissenschaft auskommt. Sie haben passende Schlagworte und smarte Neologismen kreiert. Sie alle liefern Scoops of interpretation – und verkörpern in einem durchaus lukrativen Deutungsgeschäft die Rolle des Propheten, der mit ziemlicher Sicherheit sagen kann oder doch meint sagen zu können, was kommen wird.
Das heißt im Sinne einer verallgemeinernden Bilanz: Die Frage nach dem richtigen Handeln im real existierenden Journalismus läuft – ohne dass man gleich in die Rhetorik kleiner, marktradikaler und inzwischen vom existentiell bedrohter Splitterparteien verfallen muss – auf ein unternehmerisches Selbstverständnis zu: Der einzelne freie Journalist wird, um eine Formulierung des Industriesoziologen Günther Voß aufzugreifen vom Angestellten zum Unternehmer der eigenen Arbeitskraft; er muss sich, das ist die paradoxe Herausforderung, immer wieder neu erfinden, ohne die Identität der Profession zu beschädigen.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Kürzlich veröffentlichte er – gemeinsam mit Wolfgang Krischke – das Buch „Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien.“ Der hier veröffentlichte Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den Pörksen beim 1. Zukunftskongress des Berufsverbandes Freischreiber e.V. gehalten hat.