#Amazon

ver.di: Amazon-Boykott? Auf keinen Fall…

von , 9.8.17

CARTA: Amazon ist der weltweit größte Onlinehändler. Der Onlinehandel bedrängt seit langem den Einzelhandel und vernichtet dort Arbeitsplätze. Würden Sie als Gewerkschafter Amazon-Kunden zu einem Boykott aufrufen?

Thomas Voß (ver.di): Nein, auf keinen Fall. Erstens: Das ist zwar eine gefährliche Entwicklung. Aber wir werden sie nicht aufhalten. Sie ist halt von Kundeninteressen getrieben. Der andere Grund: Wir organisieren einen erheblichen Teil der Beschäftigten im Onlinehandel. Und die haben ein berechtigtes Interesse, dass wir dabei helfen, ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Ein Aufruf zum Boykott wäre also das Dümmste. Also versuchen wir, die Leistungsfähigkeit dieser Unternehmen zu erhöhen. Und das machen wir, indem wir dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter verbessert werden.

Amazon wird seit Jahren kritisiert. Dennoch ist es in vielen Ländern der beliebteste Online-Händler. Schert Konsumenten die Kritik nicht? Gibt es da den schizophrenen Konsumenten?

Den gibt es sicherlich. Die beiden Seelen wohnen ja in unser aller Brust. Aber die Vorteile des Onlinehandels liegen auf der Hand. Die beruhen auf mehr als nur auf Bequemlichkeit des Konsumenten. Das Online-Einkaufen geht zu beliebigen Zeiten, es funktioniert einfach, die Lieferung kommt schnell. Und man bekommt meist, was man will, gleich welche besondere Farbe, Größe oder Ausstattung man will.

Das hört sich schon fast wie eine Werbung für die Dienste von Amazon an …

Das soll keine Werbung sein. Das ist eine realistische Darstellung dessen, was beim Online-Einkauf passiert. Ich denke aber auch: Der Einzelhandel hat Stärken, die er nicht ausspielt. Die wichtigste: eine fachkundiges Beratung, die Amazon nicht bieten kann.

Das ist personalintensiv und kostet Geld.

Aber es schafft Kundenvertrauen. Momentan konkurrieren die Unternehmen aber gegeneinander auf dem Rücken der Beschäftigten und versuchen nur, durch möglichst billige Preise zu punkten. Und nicht durch hochwertige Dienstleistung.

Amazon stellt sich bei uns als Logistikunternehmen dar. Obwohl es ein Groß- und Einzelhändler ist. Wie gelingt es Amazon, diese widersinnige Kategorisierung aufrecht zu erhalten?

Der Unterschied zum herkömmlichen Einzelhändler ist ja nicht zu bestreiten. Und der wird von den Medien betont: Da werden Hallen gezeigt, die mehrere Fußballfelder groß sind, wo Millionen Produkte in Regalen stehen und Menschen wie Ameisen hin- und herwuseln und kleine Päckchen packen. Das ist erfolgreiche Public Relation. Das schafft Amazon vor allem in Deutschland. Ganz anders Italien: Da wurde nie darüber debattiert, dass Amazon zum Groß- und Einzelhandel gehört. Und hören Sie sich mal eine Rede von Amazon-Chef Jeff Bezos an: Der ist stolz darauf, dass Amazon der größte Online-Händler der Welt ist. Vom größten Logistikunternehmen spricht der nicht.

Das Spiel mit dem Etikett „Logistik“ ist reine Tarnung. Zu uns sagt Amazon ganz klar: Wir wollen keine Tarifverträge, wir wollen keine Gewerkschaften. Die sind für uns ein Spaltkeil zwischen Belegschaft und Management. Wir wollen eine große Familie sein. Jeder Amazon-Mitarbeiter kann zu uns kommen und mehr Geld verlangen. Und dann erklären wir ihm ganz persönlich, warum das nicht geht. Die wollen um keinen Preis kollektiv mit der Belegschaft konfrontiert werden. Ein Kollektiv ist für das Management das Böse schlechthin. Das sagen sie nicht in der Öffentlichkeit. Aber uns gegenüber. Amazon verweigert daher jedes Gespräch über Tarifverträge.

Nochmal: Der Streit um Logistik und Einzelhandel ist nur Fassade. Amazon hält sich ja auch nicht an die Tarife der Logistik. Sie „orientieren“ sich nur daran. Das heißt: Amazon entscheidet selbstherrlich über die Bezahlung. Und zwar wann sie wie viel zahlen und wo sie wie viel zahlen. Die Folge: An jedem Standort in Deutschland wird für die gleiche Arbeit unterschiedlich viel bezahlt.

Was wir aber merken: Amazon zahlt da besser, wo gestreikt wird. Und daher gibt es nach und nach Verbesserungen beim Lohnniveau und bei den Arbeitsbedingungen.

Eine Streikpolitik der Nadelstiche führt also zu punktuellen Verbesserungen. Und nach und nach wird es flächendeckend besser. Störfeuer also als Streikstrategie?

Wir stören nicht nur. Wir haben auch erfolgreich am Image von Amazon gekratzt. Wir haben die Arbeitsbedingungen transparent gemacht. Wir haben Missstände so skandalisiert, so dass Amazon reagieren muss.

Amazon versucht dem Druck von Streiks auszuweichen. Eine langfristige Strategie ist der Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz – technologische Entwicklungen, die laut Studien zwischen 40 und 50 Prozent unserer Arbeitsplätze bedrohen sollen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Die Prognosen fallen sehr unterschiedlich aus, und manche sehen längst nicht so schwarz. In den USA sind in der Tat einige Amazon-Standorte mit Robotern ausgestattet. Auch in Polen wird das seit Ende 2015 getestet. Was Picker und Packer machen, also die Arbeiter, die Waren aus den Regalen nehmen und in Päckchen verpacken, das sollen irgendwann Roboter machen. Bisher ist aber kein Roboter in der Lage, die Fingerfertigkeit eines Menschen zu ersetzen.

Aber schon heute kommt Amazon nicht ohne Computer aus. Denn die Lagerhaltung funktioniert chaotisch. Alles wird da einsortiert wo gerade Platz ist. Das kann sich kein Mensch merken, nur ein Computer. Daher sind menschliche Arbeiter schon heute eigentlich nur die Assistenten von Computerprogrammen, die bis ins kleinste bestimmen, wie die Lagerbestände sortiert werden. Menschen werden also von Handscannern dirigiert, die jeden Schritt vorgeben. Selbst der Vorgesetzte ist also schon weitgehend durch Software ersetzt. Zugespitzt: Der Mensch ist nur der vorläufige Ersatz für einen verbesserten Typ von Roboter. Wir leihen dem Computer eigentlich nur unsere Hände und Füße.

Bis zu 20 Kilometer Fußwege bewältigt ein Amazon-Arbeiter in einer Schicht, dazu Tausende monotoner Handgriffe. Ist Lagerarbeit in einem Logistikunternehmen, das Massenkonsum organisieren muss, überhaupt human zu gestalten? Haben Sie da eine Vision?

Eine vage Vision. Zum Teil sind es Alpträume, zum Teil positive Visionen. Wenn Menschen vom Computer gesteuert werden und acht Stunden ihren Kopf ausschalten müssen, das macht mit diesen Menschen etwas. Dazu kommt hoher leistungsdruck und viel zu wenig Erholungszeit. Das ist eher der Alptraum. Was helfen kann, ist z. B. individuelle Ergonomie. Menschen sind unterschiedlich stark, groß, beweglich. Wenn Packtische und Regale normiert sind, dann führt das zu vermeidbaren Belastungen. Amazon weigert sich aber konsequent, an diesen gesundheitlichen Gefährdungspotenzialen etwas zu verändern, weil es mit Kosten verbunden ist.

Die Krankenstände bei Amazon sind hoch. Das Unternehmen versucht gerade, durch Gruppen-Bonuszahlungen Druck auf Arbeitsgruppen auszuüben. Ist der Krankstand niedrig, gibt es mehr für allen. Wer sich krankschreiben lässt, zieht also vielleicht die Ablehnung der Kollegen auf sich. Was können Sie gegen solche Methoden machen?

Einerseits setzen wir auf Skandalisierung. Das muss öffentlich bekannt gemacht werden. Dann geht es auch um konstruktive Vorschläge. Wir wollen Amazon konkret vorschlagen, Regelungen gegen Gesundheitsgefährdungen in einem Tarifvertrag festzuschreiben. Es geht schließlich um gute und gesunde Arbeit. Amazon geht aber im Moment einen typischen Weg: Sie verneinen jeden Zusammenhang zwischen Krankenstand und Arbeitsbedingungen. Wer krank ist, lebt wohl ungesund, ernährt sich ungesund, lässt sich nach Wegen von 20 Kilometern nach Feierabend auf die Couch fallen, statt intensiv Sport zu treiben. Leute essen demnach wohl auch zu wenig Obst. Also sind wir ein guter Arbeitnehmer und stellen den Mitarbeitern eine Schale mit Äpfeln hin.

Der jetzt debattierte Gesundheitsbonus für eine Gruppe kann bis zu sechs Prozent des Monatslohns betragen. Der wird dem Einzelnen bezahlt, wenn er im Moment keinen Tag fehlt. Der ist aber gekoppelt mit einem Arbeitsgruppen-Bonus. Danach dürfen beispielsweise neun Prozent in einer Gruppe krank sein. Wenn es darüber geht, gibt es keinen Bonus mehr.

Amazon geht also entweder davon aus, dass Menschen krank spielen. Oder dass es sinnvoll ist, wenn Menschen krank zur Arbeit gehen. Der Gruppenbonus führt schlicht dazu, dass Kollegen gegeneinander aufgehetzt werden.

Gelingt das, oder wehren sich Einzelne und Gruppen gegen diesen Druck?

Es ist unterschiedlich. Zum einen nehmen Langzeiterkrankungen zu – Krankheit als Abwehrmaßnahme. Dann gibt es Einzelne, die sagen: Ist mir egal, hier werde ich eh nicht alt. Aber zunehmend formiert sich Widerstand. Immerhin wächst der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Über alle deutschen Amazon-Standorte sind es schon dreißig Prozent der Belegschaft. Solche Sätze sind im Handel nicht weit verbreitet.

Das nächste Weihnachtsfest kommt bestimmt, damit die Hochphase der Umsätze und die größte Angreifbarkeit durch Streikmaßnahmen. Wer wird cleverer reagieren: Ver.di mit seiner Nadelstichstrategie oder Amazon mit seinen Optionen, Warenflüsse über das Ausland umzuleiten?

Nadelstiche gibt es nicht nur Weihnachten, sondern ständig. Wir haben am 7. April, dem Welttag der Gesundheit, an den fünf großen Standorten in Deutschland gestreikt. Am 10. April waren ebenfalls zwei Standorte im Streik. Solche Nadelstiche bringen die Arbeitsvorgänge wegen ihrer Unberechenbarkeit nachhaltig durcheinander. Manchmal täuschen wir auch Streiks an, um Amazon zu aufwendigen Gegenmaßnahmen zu bringen. Da starten dann auf Knopfdruck Ausweichpläne, mit denen Waren über Polen geleitet werden, die von dort dann per benachbartem DHL-Fuhrpark nach Deutschland ausgeliefert werden. Die polnischen Amazon-Standorte arbeiten eh nur für den deutschen Markt.

Und wie lässt sich so etwas unterbinden?

Wir haben enge Kontakte mit den polnischen Gewerkschaften und den Vertretern bei Amazon geknüpft. Wir unterstützen die Kollegen. Und ähnlich machen wir es bei den Kollegen in Frankreich, Spanien oder Italien. Wir sind da europaweit gut vernetzt. Unser Ziel: Wir müssen aus den punktuellen Streiks einen gemeinsamen europäischen Arbeitskampf machen. Dann kann sich Amazon nicht mehr entziehen.

 

Teil 1 des CARTA-Schwerpunkts zum Thema Amazon: Amazon: Shopping total

Sterben unsere Innenstädte? Wann haben sie je gelebt? Teil 2 unseres Amazon-Schwerpunktes behandelt die Auswirkungen des Online-Handels und den Mythos der „belebten City“. Am Wochenende bei CARTA.

 


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