#Bildung

Woanders is‘ auch scheiße

von , 25.6.17

Im Herbst 2009 stand ich das erste Mal auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. 20 Jahre nachdem dort die Studentenrevolte niedergewalzt wurde, sollte dort eine riesige Ausstellung zur Kunst der Aufklärung stattfinden, von einem deutschen Museumsverbund kuratiert, von deutsch-chinesischen Expertenkommissionen ausbalanciert, von staatlichen Beobachtern in Grenzen gewiesen. Am Tag nach der feierlichen Eröffnung wurde der chinesische Künstler Ai Wei Wei verhaftet während nebenan der erste deutsch-chinesischen Salons der Aufklärung lief.

Die Diskussionen in Peking über Aufklärung und was diese Europa und der Welt gebracht hat, waren hart und aufschlussreich. Nicht nur von kommunistischen Propagandisten gab es Kritik. War denn nicht das Zeitalter der Aufklärung eines der brutalsten und ungerechtesten in der Weltgeschichte, das uns ausbeuterischen Kolonialismus, ungerechten Kapitalismus, Militarismus und Faschismus gebracht hat, bis hin zum Holocaust? Warum hält Europa dies dem Rest der Welt als Bespiel vor? Was wäre, wenn China diesem Beispiel tatsächlich folgen würde, mit seinem 1,3 Milliarden Bürgern? Da musste man sich warm anziehen, um Kants Vermächtnis zu verteidigen. Und auch die glühendsten Aufklärer mussten eingestehen, dass dieses Europa mit ihrer aufgeklärten Geschichte reichlich imperfekt ist.

Trotzdem schätzen es die Chinesen, das Europa der frischen Luft, der funktionierenden Infrastruktur, der guten Bildung, der einklagbaren Gesetze und der echten italienischen Designerläden. Wer es sich leisten kann, erwirbt ein Haus in Europa, schickt die Kinder hier zur Uni oder kauft sich am besten gleich in eine europäische Staatsbürgerschaft ein. Weil sie wissen, was sie an Europa haben. Und weil aus ihrer Perspektive Europas Krisen keine echten Krisen sind. Griechenland ist aus chinesischer Sicht eine kleine Provinz, die man entweder aufpäppeln muss oder einordnen, aber auf jeden Fall stellt es kein systemisches Risiko dar. Flüchtlinge und Migration sind eine Herausforderung, aber im Vergleich zu Chinas 240 Millionen Wanderarbeitern, Chinas Migranten, hat Europa da noch viel Luft nach oben. Europa ist aus chinesischer Sicht ein machtvoller ökonomischer Handelsriese, mit dem nicht zu spassen ist. Was reden die Europäer eigentlich immer von Krise?

 

Wenn man in die Welt reist, wenn man mit den Menschen redet, über das Leben dort und hier, kann es sehr gut passieren, dass die hiesigen Krisen im Laufe des Gesprächs immer kleiner werden. Zum Schluss fragt man sich, warum man eigentlich manchmal den Eindruck hat, wir könnten das nicht schaffen.

 

Ich war oft und gern in China. Ein riesiges Land, mit einer großen Kultur, mit einer unvorstellbaren Dynamik, einer unbeschreiblichen Balance von Schnell und Langsam. Wenn ich aus Peking zurückflog nach Berlin Tegel fühlte sich das an, als wenn ich aus der Zukunft in die Vergangenheit flog. Dort alles jung und schnell und hier eher alt und langsam. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich diese Art Zukunft nicht will. Denn die kam mit einer Luft, die krank machte, einem Straßenverkehr, in dem man nicht vorankam, einem Staat, der alles und jeden permanent überwachen und orchestrieren ließ, mit einer Gesellschaft, die überkapitalistisch im Dauerstress war. Dann lieber etwas langsamer und älter. Es war ein schönes Gefühl, nach ein paar Tagen chinesisch verrücktem Schnell und Langsam, wieder nach Berlin, Deutschland, Europa zurückzukehren.

Wenn man in die Welt reist, wenn man mit den Menschen redet, über das Leben dort und hier, kann es sehr gut passieren, dass die hiesigen Krisen im Laufe des Gesprächs immer kleiner werden. Zum Schluss fragt man sich, warum man eigentlich manchmal den Eindruck hat, wir könnten das nicht schaffen. Und warum man nicht ein bisschen mehr zufrieden und stolz ist, auf das, was wir hier geschafft haben. Leicht haben wir es uns ja auch nicht gemacht, wir haben hart gearbeitet. Über Jahrhunderte war Krieg der Lieblingssport der Europäer. Das hatten wir soweit perfektioniert, dass zum Schluss Weltkriege daraus wurden. Europa war der Mittlere Osten der Welt. Nun sind wir schon seit 70 Jahren ein Hort von Frieden, Wohlstand und Stabilität. Wir sollten das ein bisschen mehr feiern. So sieht es jedenfalls aus der Perspektive von draussen aus.

Aber wir wollen ja Zukunft sein, nicht nur Vergangenheit. Wir wollen uns mit Stillstand nicht zufrieden geben. Wir nörgeln gerne. Wir lieben Krisenzeiten, weil es da was zu erzählen gibt. Analysten und Journalisten haben gut zu tun in Krisenzeiten und Politiker auch. Wenn es keine Krisen gäbe, müssten sie erfunden werden, denn sie sichern Arbeitsplätze und generieren Daten. Aber wenn man die Perspektive ändert, wird manchmal aus einer Krise eine Aufgabe, die man halt löst, in einem Umfeld, in dem man dauernd Aufgaben löst, und weil wir bisher eigentlich immer ganz gut waren im Lösen von Aufgaben.

Trotzdem, hört man europäischen Medien, Politikern und Thinktankern zu, hat man den Eindruck, Europa stehe permanent am Abgrund, man müsse schon mal über einen Plan B nachdenken, woandershin abhauen, weil es hier so schlimm sei, und nur noch schlimmer werden könne.

Wütende Zustandsbeschreibungen Europas haben ja was, ich hab auch einige geschrieben. Allerdings ziehe ich andere Schlüsse daraus als das wachsende Heer der Pessimisten und opportunistischen Schwarzmaler. Ich bin optimistisch, was Europa betrifft, oder sagen wir, ich habe mich entschieden optimistisch zu sein. Denn in schwierigen Zeiten pessimistisch zu sein, ist Mainstream, ist langweilig, das kann jeder. Europa hat die Krise, da schreibt sich schnell ein ‚Europa schafft sich ab‘.

 

Guckt euch Europa von draußen an, fangt es wieder an zu lieben. Kommt zurück und macht es besser.

 

Mein Optimismus erklärt sich aus meiner Geschichte. In meiner Jugend war ich eingesperrt in einer mittelmäßig schlecht funktionierenden Diktatur des Proletariats. Als das zu Ende ging, bin ich aus dem frischvereinigten Deutschland nach Europa abgehauen, mit dem Lada, erst nach Brüssel, dann London, dann Turin und Genf. Dann zurück nach Berlin.

Europa war grenzenlos, cool, aufregend, hoffnungsvoll. Es ging voran, Geschichte wurde gemacht. Sogar die Europafahne war anders, minimalistisch schön im Vergleich zu dem ganzen quer- und längsgestreiften Einheitsbrei der Nationalflaggen.

Und Europa hat wunderbar funktioniert, Südeuropa boomte, Osteuropa hat durch Europa eine Perspektive bekommen nach dem Zerfall des Ostblocks. Russland war mit sich selbst beschäftigt. Deutschland hatte nach der anfänglichen Vereinigungseuphorie den Blues. Die Deutschen mussten sich anstrengen, um nicht abgehängt zu werden von den neuen europäischen Tigern. Und haben es geschafft. Jetzt boomt Deutschland und die anderen müssen ackern. Antizyklisch zu sein, kann sich auszahlen.

Europa hat die Krise, angefangen hat es 2006 mit der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden. Dann kam Lehman Brothers, Europas Schuldenkrise, Russlands Krim Feldzug, die Flüchtlingswelle, Brexit und Terrorismus. Und im Hintergrund pocht immer noch die Klimakrise. Ich hab schon Schwierigkeiten alle Krisen im Kopf zu behalten, und wer weiß, was morgen kommt. Europa ist ein Ballungsgebiet von Krisen geworden.

Aber jetzt einfach abhauen, weil es ungemütlicher wird in dem bisher gut sortierten Europa-KaDeWe? Weil die rechten und linken Populisten ihre Stunde gekommen fühlen? Weil Millionen Kriegsflüchtlinge hier Schutz und eine Zukunft suchen? Weil Terroristen Angst verbreiten? Weil die Britten sich lieber Trump anbiedern als mit Europa gemeinsame Sache zu machen? Das ist zu einfach.

Abhauen ins atemlose China? Nach Trumpland der alternativen Fakten? Nach Russland, das wieder expandieren will? Nach Brasilien, das seine Bürger nur noch mit Müh und Not durch Fußball und Olympiade vom Zerschlagen des korrupten Systems abhalten kann? Nach Australien, das nur noch verwertbare Ausländer reinlässt? Nach Südafrika, das die Mandela-Mission schon zu vergessen scheint? Bleibt Kanada. Vielleicht sollten die ganzen pessimistischen Europäer alle nach Kanada gehen, und von da einen Blick zurückwerfen auf dieses Europa.

Woanders is auch Scheiße, sagt man so liebevoll im Ruhrpott. Oder anders, mit ein bisschen Perspektive werden wir ein immer noch ziemlich wunderbares Europa sehen, mit hoher Lebensqualität, mit toller Architektur, viel Urlaub, einem ausklügelten Rechtssystem, einer ganz gut funktionierenden Bürokratie, gutem Essen, Kaffeehäusern, einer Weltklasse Champions League, und vor allem im Frieden mit sich.

Guckt euch Europa von draußen an, fangt es wieder an zu lieben. Kommt zurück und macht es besser. Nicht nur durch Wirtschaften und Technologie, aber auch. Es gibt viel zu tun. Woanders auch. Aber warum abhauen, wenn man auch hier die Welt verbessern kann?

 

Andre Wilkens neues Buch „Der diskrete Charme der Bürokratie. Gute Nachrichten aus Europa“ (S. Fischer Verlag) ist seit Ende März im Buchhandel.

 


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