#AfD

Müssen wir Deutschen wieder unseresgleichen fürchten?

von , 13.1.16

„Das Grundübel unseres ‚Vaterlandes’, das Gustav Heinemann ein schwieriges nennt, scheint mir die durch nichts zu unterbrechende Fortsetzung des deutschen Idealismus zu sein. Totale Ansprüche, ob von links oder rechts vorgetragen, sind nach wie vor vom deutschen Idealismus geprägt, verdanken ihm seine übermenschlichen Maße. Es sind jeweils idealistische Schwierigkeiten, die es den Heilsaposteln unmöglich machen, die Widersprüche der Wirklichkeit auszuhalten und dem eigenen Unvermögen konfrontiert zu bleiben.“

Das Zitat stammt aus dem Jahre 1969. Angesichts der ersten großen Völkerwanderung dieses Jahrhunderts und der Frauenjagden an Sylvester fragen sich manche, ob dieser Idealismus, der irgendwo im deutschen Volkswesen still vor sich her glühte, nun wieder hervorbricht. Martin Mosebach bejaht es in einem schönen Text über sein Deutschsein in der Süddeutschen Zeitung: In der ihm eigenen Eleganz und Gewitztheit verzichtet er auf einen eigenen Blick, sondern beruft sich auf Hölderlin, nach dem die Deutschen „Handwerker, Kaufleute“, aber „keine Menschen“ seien. Und beschwört den Fluch des Konservativen Rudolf Borchardt aus dem vergangenen Jahrhundert, „das deutsche Volk en masse“ habe „die europäische Kultur, die ihm importiert worden“ sei, „nie wirklich recipiert und sich vielmehr immer in stummer Auflehnung gegen sie“ befunden. Während sich der konservative Mosebach aufs Raunen verlegt, reagiert die Grüne Renate Künast in der letzten Talkshow Hart, aber fair pragmatisch politisch, aber durchaus ähnlich wie Mosebach: Wenn sie sich beharrlich weigert, eine Beziehung zwischen der Herkunft, der Religion und den Taten der Kölner Frauenjäger herzustellen, geschieht dies aus Furcht davor, dass die Deutschen dann wieder den Traditionen ihrer Großväter und Urgroßväter anheim fallen. Beide fürchten unseresgleichen.

So sinnvoll es ist, die Traditionen eines Volkes nicht außer Acht zu lassen, so notwendig ist es, die Gegenwart genau zu studieren. Gerade die Völkerwanderung und die Übergriffe an Sylvester haben gezeigt, dass Staat und Gesellschaft funktionieren. Denn zum Funktionieren gehört auch ihr Versagen, jede andere Erwartung wäre eben idealistisch. Ausschlaggebend ist, dass und wie Versagen behoben wird.

Der Vorwurf des Verschweigens der Vorgänge durch die Medien hat sich mittlerweile als reine Propaganda erwiesen. Trotz der Blockade durch die Polizei haben die Kölner Medien bereits am Neujahrsabend berichtet und das bis heute mit engagierten eigenen Recherchen fort gesetzt, wie Jan Bielicki in der Süddeutschen richtig notiert. Dass sich die Nachrichten darüber anfangs langsamer verbreiteten, ist eher einer gewissen Hochnäsigkeit überregional orientierter Journalisten gegenüber ihren Kollegen in den Lokalredaktionen zu verdanken als dem Versuch, etwas unter den Tisch zu kehren. Die überregionalen Zeitungen und Fernsehsender zeichnen ein differenziertes Bild, tragen Widerspruche aus, streiten und reagieren auf Kritik an ihrer Berichterstattung.

Eine gravierende Schwäche ist allerdings durchweg zu beobachten. Die Fragen, Ängste, auch der Zorn vieler Menschen finden zu wenig Raum in den Traditionsmedien. Natürlich kommt der bürgerliche Unwillen nicht Talkshow-geschliffen daher, sondern im Zweifel unbeholfen, unsachlich und ungerecht. Die Unfähigkeit, ihn aufzunehmen und ihn ernst zu nehmen, wird sich auf Dauer als Gefahr erweisen. Dieses Problem in Angriff zu bekommen, ist mindestens so wichtig wie alle Proteste gegen AFD und Pegida, eher wichtiger. Bürger die meinen, kein Gehör zu finden, radikalisieren sich. Aber auch hier gilt, dass sich erkannte Fehler korrigieren lassen.

Landes- und Bundesregierung reagieren, bemühen sich, die Gefahr einzudämmen, und streiten über das angemessene Maß der Reaktionen. Nebenher versuchen die Parteien, ein wenig parteipolitischen Vorteil zu ziehen, wie es in der Demokratie üblich und zulässig ist. Im übrigen sind die Frauenjagden an Sylvester vielleicht eine der wenigen Fälle, die auf die Notwendigkeit von Gesetzesnovellierungen und Strafverschärfungen verweisen, hier gibt es offensichtlich nicht nur ein Vollzugsdefizit.

In Plasbergs Talkshow berichtete der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt eindrucksvoll über die Anpassung der Polizeiberichte an die vermeintlichen Erwartungen ihrer Vorgesetzten in der Weise, dass möglichst wenig Nachteilhaftes über Flüchtlinge und Immigranten berichtet werden solle. Man hätte sich von einem Gewerkschaftschef schon früher mehr Zivilcourage gewünscht, aber auch späte Offenbarungen sind besser als gar keine. Ansonsten ist es nicht verwunderlich, dass in Organisationen wie der Polizei, die sinnvollerweise autoritär strukturiert sind, solche inakzeptablen Anpassungen an die vermuteten Wünsche der Führung auftreten. Mit der Veröffentlichung ist der erste Schritt zur Korrektur getan.

Krisen und Bedrohungen, so unerfreulich sie sind, bergen Chancen in sich. In diesen von Erregung nicht freien Tagen sind viele Illusionen verflogen, sicher hätte man sich einen besseren Anlass dafür gewünscht. Der Blick auf die nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge ist klarer geworden. Zugleich bleiben die Erfahrungen der vielen Menschen, die ehrenamtlich in den vergangenen Monaten tätig waren. Die beim BILD-Chefredakteur untergekommenen Flüchtlinge haben eine eigene Wohnung gefunden, aber die Kinder kommen weiter mittags zum Essen. Dieses Beispiel ließe sich durch viele bescheidene und nicht öffentlich gewordene ergänzen. Es gibt zudem eine große Übereinstimmung, die in Deutschland gewachsenen, umstrittenen und erkämpften Werte zu verteidigen, von denen manche noch gar nicht so alt sind. Dass sich die deutsche Gesellschaft als eine zutiefst beunruhigte zeigt, ist verständlich, alles andere wäre viel beunruhigender. Aber sie zeigt sich souverän angesichts einer solch historischen Herausforderung wie dieser Völkerwanderung. Sie verfügt über einen Staat und Institutionen, die auf die Herausforderung verständlicherweise nicht eingestellt waren, sie aber bewältigen können. Zusammen genommen macht all das die Unterschiede zu 1969 und früher aus. Der eingangs zitierte Idealismus existiert, wird nie verschwinden, aber er dominiert nicht mehr.

Literaturfreunde werden sofort erkannt haben, dass das Zitat aus einem im übrigen von Eitelkeit nicht freien Text von Günter Grass stammt, in dem er sein politisches Engagement erläutert. Von Grass stammt auch der schöne Satz, dass der Fortschritt eine Schnecke sei. Heute ist festzustellen, dass die Schnecke ziemlich weit gekrochen ist. Ob Grass das selbst so sähe, ist eine andere, aber nicht wirklich wichtige Frage.

 


 

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