#EU

Die Flüchtlinge und wir – eine Frage der Identität

von , 21.6.15

Auf meiner letzten Reise besuchte ich einen Bauernhof im Südosten Georgiens, wo ich für zwei Wochen Freiwilligenarbeit leisten sollte. Zuvor hatte ich Mailkontakt auf deutsch mit dem Leiter des kleinen Hofes. Er hatte einen eindeutig französischen Namen. Ein deutschsprechender Bauer in Georgien mit französischem Namen. Jean-Jacques begrüßte mich dann auch auf deutsch. Wir wechselten ein paar Worte und ich fragte schließlich: „Bist du nun Deutscher oder Franzose?“ Jean-Jacques lachte und antwortete: „Nun ja, ich bin zunächst einmal ein Mensch.“

Von der in vielerlei Hinsicht prägenden Begegnung mit Jean-Jacques ist mir vor allem dieser Satz in Erinnerung geblieben. Ist es wichtig, woher jemand kommt? Was hat es für eine Bedeutung, ob man Franzose oder Deutscher ist? Was ändert es? Jean-Jacques schneidet alles mit seinem Opinel, das er immer bei sich trägt. Jean-Jacques verwendet auch in Georgien nur Meersalz aus der Bretagne. Wie französisch von ihm. Doch auch mein Reisemesser ist ein Opinel und das französische Meersalz steht bei mir zuhause im Küchenschrank. Nur in dem Wissen, dass Jean-Jacques Franzose ist, erscheint alles an ihm französisch. Und man kann natürlich fragen, was daran falsch ist, Franzose zu sein. Für den Franzosen selbst, scheint es von erheblicher Bedeutung zu sein. Da wird der junge Mann aus Mali, der mehrere Franzosen während des Charlie-Hebdo-Terrors in einem Kühlraum versteckte, im Eilverfahren zum Franzosen gemacht. Er ist ja schließlich ein Held. Und Helden müssen französisch sein. Warum Lassana Bathily es zuvor nicht wert war, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten, danach fragt keiner mehr. Er ist jetzt einer von uns Franzosen. Der Hashtag #jesuischarlie erlaubte es sogar einem jeden, sich für einen Moment als Franzose zu fühlen.

 

Das Wort Flüchtling verkommt zu einem Label, zu einer Kategorie, zu einer semantisch entwertenden Version des Wortes Mensch.

 

Die Frage nach der eigenen Identität, die der Mensch sich mindestens seit der Aufklärung fortwährend stellt, ist Ausdruck eines Bedürfnisses nach Zugehörigkeit. Das Wort „Identität“ stammt von lateinisch îdem, „derselbe“. Ich bin derselbe wie du und dadurch nicht allein. Dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit manifestiert sich heute zunehmend in einer Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität. Die schwindelerregende Geschwindigkeit der Globalisierung, eine dem Bürger übergestülpte europäische Identität, mit der er sich nicht eindeutig identifiziert, hat den Menschen das Gefühl von Zugehörigkeit genommen. Die rechtsnationalen Strömungen, die sich überall in Europa ausbreiten, sind nur der offenkundigste Ausdruck dieser Entwicklung. Die Symbolkraft, die eine Identität entfaltet, wird benutzt, um zu mobilisieren. Doch werden die sich hinter der Identität verbergenden Wertemodelle kaum expliziert, selten reflektiert und noch seltener gelebt. In den Reihen von Pegida jedenfalls war niemand christlich oder nächstenliebend. Und hat man auf den Pegida-Märschen irgendjemanden die Flagge Europas schwenken sehen? Dennoch fand diese Bewegung Zulauf und beachtliches Medienecho. Auch dieses Echo war um Identität bemüht. Identität durch Abgrenzung. So sind wir Deutschen nicht. Die Welt zu Gast bei Freunden ist doch unser Motto. Pegida zerfiel dann schließlich in seine jämmerlichen Einzelteile.

Das Bestreben vieler tausend Menschen nach Europa zu gelangen, stellt uns wiederum vor Fragen nach Identität. Diese Menschen, die sich da lebensmüde über das Meer kämpfen, sind auf der Suche nach einer neuen Zugehörigkeit. Zunächst einmal erhalten sie aber eine neue Identität als Flüchtling. Das Wort Flüchtling verkommt zu einem Label, zu einer Kategorie, zu einer semantisch entwertenden Version des Wortes Mensch. Von Flüchtlingen wird fast ausschließlich im Plural gesprochen. Ein Flüchtling kommt selten allein. Ist er daher weniger wert? Ist er, dadurch, dass er zwangsläufig Teil eines Kollektivs ist, weniger Mensch?

Europa, das einfach so tut, als hätte es eine Identität, grenzt sich ab. Ungarn baut einen Zaun an der Grenze zu Serbien. In Melilla steht schon länger einer. Europa handelt und beschließt, Schlepperboote zu bombardieren und die Schleuserbanden zu bekämpfen. Die Rechnung ist einfach: Boot + Schlepper = Flüchtlinge. Man streiche die Variablen Boot und Schlepper und erhält: Flüchtlinge = 0. So funktioniert weder Mathematik noch demütige Politik. Um Demut sollte es aber gehen in dieser Frage. Demut vor der Geschichte Europas und den Grauen der Kolonialzeit. Demut eben vor der Frage nach der europäischen Identität. Stattdessen wird verkannt, dass die Schlepper an ihren Wirkungsorten als Helden verehrt werden. Sie verkaufen den Traum nach einer neuen Identität, einer neuen Zugehörigkeit. Das geht nur da, wo es nicht alles im Überfluss gibt – wie hierzulande. Natürlich, die Schlepper bereichern sich am Leid Anderer und es ist verwerflich, was sie tun. Doch die Schlepper sind nicht der Kern des Problems. Wenn sie es nicht machen, macht es halt ein Anderer. Der Kern des Problems liegt in den Herkunftsländern. Für die Situation dort sind die Länder selbst, sowie eine gescheiterte Entwicklungs- und Außenpolitik der Industriestaaten verantwortlich.

Die Menschen, die nach Europa wollen, kommen aus Kriegsgebieten, aus Ländern, in denen sie Hunger leiden, aus Ländern, in denen sie verfolgt werden. Sie kommen mit der Aussicht auf ein besseres Leben. Besser, das ist in ihrem Fall: ein sicheres Dach über den Kopf, kein ständiges Gefühl der Angst, manchmal treibt sie auch nur der Wunsch danach regelmäßig etwas zu essen oder eine feste Arbeit zu haben. Sie kommen nicht, um unser Leben schlechter zu machen. Und vor allem sind sie nicht sie. Da kommt kein Kollektiv, das man sprachlich negieren kann. Da kommen tausende Einzelschicksale, die erschüttern sollten wie die Geschehnisse um Charlie Hebdo. Das sind weder Franzosen, noch Deutsche. Das sind zunächst einmal Menschen. Menschen auf der Suche nach Zugehörigkeit. Solange unsere Identität sich aber zunehmend über Nationalität definiert, entfernen wir uns von diesen Menschen und mithin dem eigenen Menschsein.

 


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