#digitaler Wandel

Druckstückfremdeln

von , 23.4.15

Diese Woche besuchte ich einen Redakteur an seinem schiffsähnlichen hamburger Arbeitsplatz und er drückte mir zur Begrüßung das neue Heft einer Wochenzeitschrift mit den Worten „Hier, das neue Heft“ in die Hand, nicht ahnend, dass ich seit Jahren Wochenzeitschriften nur unfallhaft lese. Da ich es aber nun mal in den Händen hielt, begann ich nach unserem netten Termin das Heft zu lesen, stellte dann allerdings fest, dass es mir eigenartig fremd vorkam. Zwar ging mir das Blättern leicht von der Hand, eine tief im Gehirn verankerte Bewegung wie eine Schwimmbewegung oder das Balancieren beim Fahrradfahren. Aber auf allen Seiten war ich für Sekundenbruchteile verloren, wußte nicht wohin mit dem Blick. Mal war ein Kasten links wichtig, mal eine Headline im unteren Drittel oder auch etwas oben rechts. Ich kann es kaum in Worte fassen, aber die Kombination aus Bildanzahl und frei layouteten Textmengen macht mir zu schaffen, strengt mich an, machte mich irgendwie ungehalten. Und wenn ich ein beeindruckendes Bild sehen wollte, war ein verzerrender Knick in der Mitte.

Obwohl ich seit Jahren der Meinung bin, dass Lesen im Web von der Medienindustrie (un)dank Werbefinanzierung systematisch zur Zumutung entwickelt wird, kam mir das Lesen professioneller Webangebote vergleichsweise angenehm vor. Ich kann die Webangebote von oben nach unten lesen und muss nicht entscheiden, an welchem Kasten ich einen Anleseversuch unternehme. Alle Headlines sind online links bündig, ich kann mir neue erscrollen, ohne die Augenposition zu verändern – im gedruckten Magazin führt hingegen die striktere räumliche Trennung von Index und Inhaltsseiten dazu, dass ich im Lesefluss nicht mehr über den Index geführt werde, sobald ich zu lesen begonnen habe (Vielleicht hätte ich mir angewöhnen sollen, einen Finger immer vorn zwischen den Seiten des Inhaltsverzeichnis als Pointer einzusetzen?). Und die Marginalspalte ist online als das zu erkennen, was ihr Name sagt: sie ist marginal, ein Angebot am Wegesrand. Werbung, die mir online störend vorkommt, irritiert mich weniger als von Art Directoren handverlesene stylische Kästen. Sogar an dysfunktionale lexikalische Wortunterstreichungen habe ich mich gewöhnt, obwohl ich mir immer wieder gedanklich an den Kopf fasse (SichgedanklichandenKopffassen: Wort aufheben, escherhaftes Bild).

Ich habe also verlernt, Magazine zu lesen. Und noch mehr: das Teilen (sharen) ist mir eine so selbstverständliche Handlung geworden, dass ich gar nicht weiß, warum ich Print lesen soll, kann ich doch diese wichtige Funktion damit gar nicht vornehmen. Warum soll ich lesen, was ich nicht teilen kann? Warum soll ich lesen, was ich nicht kopieren kann, was ich nicht kommentieren kann, was ich nicht als pdf auf meinem Server ablegen kann und so weiter? Wie mache ich es im Print, mir schnell eine Artikelauswahl wie per Browser-Tab zurechtzulegen, um sie später zu lesen oder auch zu entscheiden, dass ich sie doch nicht lesen möchte – diesen Filter- und Wiedervorlageprozess hat das gedruckte Produkt nicht. Mein gesamter Prozess der Informationsverarbeitung erlaubt mir online so viel mehr als das lineare Printprodukt. Entscheidend ist eben nicht einfach die “Digitalisierung” von analog zu digital, sondern die Änderung der Informationsorganisation, des Zugriffes auf sie und ein leistungsfähigerer Prozess.

Und da wurde mir schlagartig etwas klar: Die Erfahrung aus vielen Digitalprojekten, dass eine Migration eines Lesers von Online zu Print selten möglich ist, hat sich nun auch bei mir verwirklicht. Bücher lese ich besonders gern, weil sie (gedruckt wie digital) so klar strukturiert und linear sind, und typische Online-Publikationen nutze ich wegen der Vieldimensionalität und Vielfalt der Zugriffsmöglichkeiten.  Aber für Print-Magazine bin ich wahrscheinlich verloren

(Der Text schildert übrigens eine tatsächliche subjektive Erfahrung, die mich selbst eher verstört, er ist nicht als verallgemeinerbares Print-Bashing gemeint.)

 

Der Text ist zuerst auf christophkappes.de erschienen.


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