#Effekthascherei

Wozu gibt es eigentlich STERN.de?

von , 4.7.14

Stefan Niggemeier nannte stern.de schon im Mai 2011 „eine Attrappe“: „Es ist der Versuch, mit überwiegend eingekauftem Allerweltsmaterial durch geschickte Verpackung ein eigenständiges Medium zu simulieren. Relevanz ist dabei verzichtbar, solange die Reichweite stimmt.“

Seit Niggemeiers Befund hat sich nichts gebessert. Journalistische Qualität ist nach wie vor abwesend. Trotzdem ist die Reichweite kräftig gestiegen. „Stern.de greift Spiegel Online an“, titelte kürzlich meedia.de, bezog sich damit aber bloß auf die Reichweite beider Dienste bei Twitter. Denn wie absurd wäre es, wenn man stern.de und Spiegel Online anhand journalistischer Kriterien vergleichen wollte?

Tatsächlich scheint man bei stern.de Inhalte vor allem auf ihre Funktion als Impulsauslöser für Klicks zu reduzieren. Die kunterbunten Meldungen werden nach allen Regeln der Kunst suchmaschinenoptimiert und erfolgreich im Social Web gestreut. Das treibt in summa die Abrufzahlen hoch und freut die Vermarkter. Wer sich allerdings mit dem Inhalte-Konfetti nicht zufriedengibt und mal die Startseite von stern.de aufruft, dem offenbart sich in schonungsloser Härte, wie Reichweitenoptimierung eine Medienseite bis zur Unkenntlichkeit ruiniert.

Greifen wir eine Schlagzeile vom gestrigen frühen Nachmittag heraus. „Tötet Deutschland bald per Joystick?“ heißt es über einer Topmeldung mit Drohnen-Foto in der Bühne. Welche Information birgt diese Überschrift? Keine. Im Stil der vereinnahmenden und emotionalisierenden BILD-Titelei zielt die Schlagzeile einzig auf Effekt und Klick. Wie Journalisten titeln würden, macht z.B. tagesschau.de vor: „Von der Leyen setzt auf bewaffnungsfähige Drohnen“. Liest sich langweilig, ist dafür aber informativ und sachlich angemessen.

Dass sich der stern.de-Autor seinen ganzen Artikel eigentlich auch hätte sparen können, gibt er im Schlusssatz indirekt selbst zu. Sein Resümee: „Auch wenn von der Leyen sich jetzt hinter die Bundeswehr gestellt hat, bis zur Deutschen Kampfdrohne ist es noch ein weiter Weg.“ Warum dann diese dramatisierende Schlagzeile, überhaupt dieser ganze Text? Ganz einfach: weil beides Klicks bringt und ein, zwei Stunden Präsenz in der Trefferliste bei Google.

Bezeichnenderweise kommen Politikthemen in der Regel ohnehin bei stern.de kaum vor. Im Rampenlicht des oberen Startseitenbereiches finden wir: „Frau bringt Tochter in Fußgängerzone zur Welt“, „Polizei nimmt nackten Mann fest und findet Toten“, „In Japan eröffnet erstes Altersheim für Hunde“. Weiter geht es im „Frisurentutorial“ mit der Video-Folge „Der einfache Weg zum Fischgrätenzopf“ mit „Beauty-Redakteurin Jana“ (die vermutlich eine Kunstfigur des Dienstleisters ist, weil zumindest im Impressum von stern.de keine Redakteurin namens Jana auftaucht).

Da auch Umfragen gern geklickt werden, teasert stern.de zwei Stück an: Ob Peter Hartz die Jugendarbeitslosigkeit besiegen kann – „nein“ –, und welches WM-Moderatorenduo überzeugender ist: „Opdenhövel und Scholl beliebter als Welke und Kahn“. Abgesehen von dem kuriosen Umstand, dass der Titel die Pointe schon vorwegnimmt, führt der Teaser auch gar nicht zum Umfrage-Ergebnis, sondern zum Cover des morgigen STERN-Heftes, das man kaufen muss, wenn man das Umfrage-Ergebnis sehen will. Gibt es überzeugendere Argumente, damit ein Internetnutzer zum nächstgelegenen Kiosk rennt, um den STERN zu kaufen?

Wer mir bis hierhin gefolgt ist, hat inzwischen vielleicht schon ergoogelt, dass ich zuletzt im März als Gastautor für Focus Online geschrieben habe, und mag mir deshalb schadenfroh entgegenhalten, dass ich also gleichsam in einem Glashaus mit etlichen Sprüngen sitze. Solchen sei entgegnet, dass ich, erstens, nicht für die Inhalte von Focus Online verantwortlich bin. Und, zweitens, meine Leidenschaft für diese Philippika einzig und allein aus dem biografischen Umstand beziehe, dass es mir als Ex-G+J-Mann die Tränen in die Augen treibt, wenn ich sehe, wie die Flaggschiff-Marke des Konzerns im Netz da steht.

Wo die Kollegen beim gedruckten STERN Inhalte aus eigenen Recherchen erzeugen, hängt der Newsfeed der Online-Kollegen offenbar noch immer von Agenturmeldungen ab. Ergänzend wird es wohl ihr Los sein, pausenlos Knotenpunkte im Web nach Inspiration und kostenlosen Inhalten zu scannen. Von Youtube kommt heute z. B. der „emotionale Clip“: „Die Liebeserklärung einer Mutter an ihr blindes Baby“; das formattypische Katzenfoto zum Katzenartikel ist mit „privat“ gekennzeichnet; von Buzzfeed hat man die Foto-Story einer jungen Hobby-Jägerin entlehnt, die Beute-Fotos bei Facebook ausstellt.

Ist es nötig, auch noch die Verquickung von Werbung und Redaktion zu beanstanden? Nun gut, aber nur ein paar flinke Beispiele: In der Rubrik „Leute von heute“ posiert das Model Gisele Bündchen auf einem Quartett von vier Motiven, von denen jedes einzelne mit dem Schriftzug des französischen Modehauses Balenciaga überdruckt ist wie mit einem Wasserzeichen.

Bündchen ist das erste von 72 Motiven in einer Foto-Klickstrecke. Das auf sie folgende Bild zeigt zweimal David Beckham in der „Unterwäsche-Kollektion für H&M. Neben Boxershorts im 3er-Pack gibt es bequeme Sweater, Shorts und Pyjamahosen“ (Zitat aus der redaktionellen Bildunterschrift).

Die „Fußball-WM 2014“ wird von der Deutschen Post präsentiert, das „Extra Erfolgsmenschen“ von BOSS, das „Extra Wohnen“ von Samsung, in Grill-Videos wird Zuschauern visuell der Schluss nahegelegt, Geräte der Firma Weber zu benutzen, und die „Partnerbörse für Alleinerziehende“ ist ein redaktionelles Produkt von „stern.de & AOK“.
 
Liebe Leute von stern.de,

ich bin sicher, ihr würdet euren Dienst anders machen, wenn man euch ließe. Es kann euch doch nicht ungerührt lassen, dass Spiegel Online, Zeit Online, Süddeutsche und alle anderen Großen ihre Nischen gefunden haben und konsequent ausbauen, während ihr als Kuriositätenkabinett durchs Netz irrlichtert. Denn angesichts dieses Allerwelts-Klimbim frage mich ernsthaft, was fehlen würde, wenn es stern.de morgen nicht mehr gäbe?

Druckt dieses Pamphlet aus, legt es euren Verlagsleitern auf den Tisch und sagt ihnen, dass es da draußen Leute gibt, die sich vom STERN ein journalistisches Format mit eigenem Gesicht im Internet wünschen. Sagt es ihnen heute noch! Und dann fangt an.

Vor euch liegt ein weiter, weiter Weg. Auf dem begleiten euch meine besten Wünsche.
 
Offenlegung: Der Autor war bis 2010 Redakteur bei G+J, ist seither Stiftungssprecher und schreibt gelegentlich bei Focus Online als Gastautor über Hochschulpolitik und Wissenschaftskommunikation. Crosspost von jens rehländer.

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