##wm2014

Fußballpatriotismus macht Hirn kaputt

von , 27.6.14

Zur Fußball-Europameisterschaft 2012 gab es in Deutschland mit der Aktion “Deutschland knicken” einen Aufruf, Deutschland-Fahnen von Autos zu entfernen oder abzubrechen. Obwohl ich selbst kein Fahnenschwenker bin, hielt ich Sachbeschädigung als Antwort auf schwarz-rot-goldene Fähnchen für übertrieben.

Das war, bevor mich eine Diskussion im Soziopod zu der Einsicht brachte, dass ein Land mit ein paar Flaggenbeschädigern sympathischer ist als eines, in dem jeder eine Fahne vor sich her trägt. Wenn ich wählen müsste zwischen einem Land voller Patrioten und einem Land voller Patriotismuskritiker, würde ich Letzteres vorziehen.

Daran muss ich diesen Fußballsommer wieder denken, denn wenn ich mir den Fußballpatriotismus 2014 ansehe, dann war ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer noch das geringste Übel.

  • Der DFB entschied sich zur WM 2014 für ein Trikot in den Farben schwarz-weiß-rot. Das waren ja auch mal die Farben einer deutschen Flagge. Während des Deutschen Reichs. Unter dem Kaiser. Und den Nazis. Nicht zu vergessen die Reichskriegsflagge.

Na gut, kann Zufall sein. Irgendwelche Farben muss man ja nehmen. Man kann das Hemd schlecht ganz weiß lassen (außer zu den gewonnenen Weltmeisterschaften 1954 und 1974). Andere Mannschaften laufen auch in schwarz-weiß-rot herum. Hat also nichts zu bedeuten.
 

Snickers Fan-Edition, "Stürmer"-Riegel, Screenshot

Snickers Fan-Edition, Screenshot

  • Der Schokoriegel-Hersteller Mars bringt eine Snickers-Sonderedition heraus, die mit “Stürmer” betitelt ist. Es gibt zwar auch “Trainer”- und “Fussballgott”-Snickers, aber hat sich denn bei Mars wirklich niemand an die antisemitische Hetzschrift “Der Stürmer” erinnert gefühlt?

Bei Neonazi-Treffen muss diese Schokolade der Renner sein. Hoffentlich hat Mars genug davon nach Thüringen geschickt. Aber vielleicht kauft der Verfassungsschutz auch alle auf, oder, noch besser, bezahlt V-Leute, um das zu erledigen.

  • Für das Waschmittel Ariel wurde mit einem Deutschland-Trikot auf der Packung geworben, das in riesigen Ziffern die Rückennummer 88 zeigte. Das ist der Neonazi-Code für “Heil Hitler” (H ist der achte Buchstabe des Alphabets). Laut Procter & Gamble sollte es für 88 Waschladungen stehen.


Dass das Waschmittel, dessen Name sowieso schon an die Rassenideologie der Nazis erinnert, gleichzeitig mit einer “neuen Konzentration” für “besondere Reinheit” beworben wird, ist sicher nur Zufall. Procter & Gamble hat wenigstens zugegeben, dass es saublöd war, und diese Packungen aus dem Handel genommen. Wieder mal waren von der Marketing- bis zur Design-Abteilung anscheinend nur Menschen beschäftigt, die mit Zeitgeschichte und Politik nicht viel am Hut haben.

“Sie sind aber arg empfindlich!”, werden jetzt viele schreiben.

Ja, bin ich, aber anders, als Sie glauben. Mich stören nämlich weder Flaggen noch bestimmte Farbkombinationen, noch glaube ich, dass DFB, Mars oder Procter & Gamble antisemitisch sind oder den Nationalsozialismus verharmlosen wollen. Ich reagiere überempfindlich auf mangelndes Geschichtsbewusstsein. Ich reagiere überempfindlich auf diese Bildungslücken.

Und da schließt sich der Kreis zu den Fähnchenabbrechern. Noch immer halte ich solche Aktionen für übertrieben, aber für den Geist, aus dem sie entstehen, habe ich Respekt. Wer sich gegen den Fußballpatriotismus stellt, mag eine nationalistische Gefahr sehen, wo keine ist, aber er zeigt in jedem Fall wesentlich mehr Geschichtsbewusstsein als die “Deutschland”-Gröler. Und im Unterschied zu Patriotismus kann aus Geschichtsbewusstsein niemals etwas Schlimmeres entstehen.

Bei Twitter toben sich die Fußball-Fans jetzt unter dem Hashtag #DeutschlandUberAlles aus. Dabei kann sich nun wirklich niemand mehr auf Zufall berufen. Berufen kann man sich aber auf die Fußball-Tradition, denn noch 1954 in Bern sangen die deutschen Fans bei der Siegerehrung “Deutschland, Deutschland über alles”. Dass es 60 Jahre später ein Revival gibt, zeigt mir, dass Deutschland die Übervorsichtigen noch lange brauchen wird.
 
Crosspost von Der reisende Reporter

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