#Eltern

Schlampen, Sex und Sozialismus

von , 6.2.14

Wer Kinder im pubertären oder vorpubertären Alter hat, muss sich mit damit auseinandersetzen, dass die Kinder selbstständig werden, und dass sie zum Leidwesen der besorgten Eltern ihre Selbständigkeit meist in den Bereichen anfangen, die man gerne noch ein wenig hinausgeschoben hätte: Selbstfindung und Selbstinszenierung, Freundschaften und Beziehungen, und natürlich Sex.

Und als wäre das nicht alles schon schwierig genug, sehen sich die Eltern von heute auch noch mit ganz neuen Dimensionen sexualisierter Medien konfrontiert: Youporn hat man zwar selbst vielleicht noch nie angesehen, weiß aber schon, dass die Kinder und Jugendlichen ihre “Informationen” über Liebe und Sex vor allem von dort beziehen. Davon kriegen sie natürlich einen Hau. Und den leben sie dann mit den anderen hypersexualisierten Halbwüchsigen auf Facebook aus.

Stimmt doch, oder?

Wenn man die FAZ vom 30. Januar liest, wird man in diesen Ängsten bestätigt. Und man bekommt gleich kostenlos noch ein paar dazu. Plus Schuldgefühle, denn dort wird auch diagnostiziert, woran das alles liegt: an der gestörten Bindung zu den Eltern nämlich.

Der Autor, Martin Voigt, Doktorand an der LMU München, ist ein alter Bekannter. Vor einem guten Jahr schrieb Dr. Mutti schon einmal über seine Forschungsergebnisse bzw. deren Wiedergabe in der Süddeutschen Zeitung. Voigt erforscht “Mädchenfreundschaften unter dem Einfluss von Social Media” und plauderte damals ein wenig von seinen von Facebook gezogenen Daten, die vor allem aus gegenseitigen Pinnwandeinträgen junger Mädchen bestanden.

Schon damals fiel auf, dass von möglichst objektiver Beschreibung der Daten, wie man sie von einem Soziologen erwarten würde, nicht viel zu merken war. Statt dessen gab es eine Menge wertender Klassifizierungen sowie allerlei unbewiesene Vermutungen über die “eigentlichen” Absichten der so Erforschten (oder sollte man sagen: Belauschten?).
 

Bad Girls, Foto: Felipe Gabaldón, CC BY

Bad Girls, Foto: Felipe Gabaldón, CC BY

 
Nun hat Voigt es damit in die FAZ geschafft. Aber die gute, alte FAZ wäre ja nicht, was sie ist, wenn ihr ein bisschen Anrüchigkeit und ein bisschen Kulturverfall ausreichte. Mehr Sex muss es sein, härter und versauter, und außerdem braucht man Schuldige. Nicht nur das böse Internet, das wäre zu einfach. Echte Personen!

Die werden auch gefunden: Die Eltern. Und auch die Ganztagsschulen. Natürlich!

Zunächst leitet Voigt aus einigen schlüpfrig klingenden Facebookeinträgen ab, dass die Mädchen von heute in einer “sexualisierten Alltagsrealität” leben. Das scheint Voigt besonders zu empören, da es sich doch um Mädchen handelt (von Jungen weiß er nichts, denn die werden nicht untersucht):
 

Unbekümmert sprechen Mädchen von ihren „Titten“ oder ihrem „Arsch“ und vom „Ficken“, „Vögeln“ oder „Sex haben“. Mit neuer Selbstverständlichkeit verwenden sie das alte, von Männern gebrauchte Vokabular für Körperselbstbild und sexuelle Intimität.

 
Nun ja, nun könnte man hier sicher kritisieren, dass dieser Diskurs ÜBER Mädchen und Frauen seit Jahrzehnten, wahrscheinlich seit Jahrhunderten geführt wird, und dass dies selbstverständlich Auswirkungen auf deren Selbstbild hat. Aber darum geht es Voigt nicht.

Er scheint vielmehr zu glauben, dass solch ein Diskurs, wird er von Mädchen selbst geführt oder werden entsprechende Begriffe von ihnen für sich selbst reklamiert, nur Ausdruck einer zutiefst gestörten Seele sein können. Ab dort wird es psychoanalytisch – ganz klassisch, nämlich ohne empirische Grundlage. So fabuliert Voigt vor sich hin:
 

Die vulgäre Sprache und die Banalisierung der Sexualität können ein Symptom für seelische Verletzungen sein. Das Schamgefühl wird verletzt, wenn emotionale Probleme entstehen, in denen die Bindung zu oder zwischen den Eltern gestört wird. Kinder, die sich in der Liebe geborgen fühlen, die ihre Eltern füreinander empfinden, haben in der Regel ein gesundes Schamgefühl. Verlieren sie diese Geborgenheit, spiegelt sich ihre innere Blöße auch im Verhalten wider.

Wenn Eltern sich immerzu streiten oder scheiden lassen, trifft dies Kinder in ihrem Selbstwertgefühl. Sie stellen sich unbewusst selber in Frage: Bin ich das Ergebnis einer großen Lüge? Bin ich schuld? Wenn Kinder mitbekommen, dass der Vater Pornos guckt oder die alleinerziehende Mutter wechselnde Liebhaber hat, verlieren sie den Respekt für ihre Eltern und lieben sie dennoch. Ihnen obliegt es, die Enttäuschung ihrer Eltern zu kompensieren und sich in ihrer Kränkung neu zu orientieren.

 
Aha, die Scheidungskinder sind es also. Oder auch die armen Butzeln mit einem Vater, der Pornos konsumiert, oder – schlimmer noch – einer alleinerziehenden Mutter mit wechselnden Liebhabern. Solcherlei Schlampentum muss natürlich auf die Töchter abfärben.

Aber selbst, wenn die Eltern gar keine eigene Sexualität leben – allein das Fehlen einer ständig anwesenden Elternperson kann schon ins Verderben führen. Gehen die Kinder etwa auf eine Ganztagsschule, droht schon von dort der Sittenverfall. So wird der Psychologe Gordon Neufeld – übrigens ein Vertreter der ‘attachment theory‘ – bemüht, um zu beweisen,
 

wie sich ganztags kollektivierte Kinder an Gleichaltrigen orientieren und die Bindung zu ihren Eltern dabei Schaden nimmt.

 
Und dann passiert es:
 

Wenn sich psychosoziale Entwicklungsschritte primär unter Gleichaltrigen vollziehen, ist die vertikale Kulturvermittlung unterbrochen, und das Triebhafte verliert seine Zügel.

 
Mit anderen Worten: Kümmert sich die Mutter nicht Tag und Nacht um ihr Kind, wird es eben von verdorbenen Gleichaltrigen sozialisiert, zu denen dann eine krankhafte Bindung entsteht. Natürlich keine echte Beziehung, sondern nur eine sexuelle. Und das führt dann zu Beziehungsunfähigkeit – vor allem der Mädchen, die dann nicht zu braven Hausfrauen, monogamen Bettgefährtinnen und Müttern heranwachsen, sondern ihrerseits wieder zu liederlichen Frauenspersonen, die ihr eigenes Leben führen und über ihre Beziehungen selbst bestimmen.

Voigt hebt warnend den Zeigefinger:
 

Junge Frauen, die nach eigenem Gutdünken gelebt haben, halten das souveräne Beenden intimer Beziehungen für soziale Kompetenz.

 
Kommt jemandem diese ganze Tirade irgendwie bekannt vor? Gar nicht so neu, so 2000er, so Internet? Dann wird der/die Leser/in nicht überrascht sein, dass gleich noch eine andere Gesellschaftskritik hinterher geschoben wird. Denn das alles ist nicht nur widerwärtiger Sexkram – nein, es ist fast schon Sozialismus!

Und so zitiert Voigt dann auch folgerichtig einen Artikel des Erziehungswissenschaftlers Hans-Jochen Gamm aus den 70er Jahren:
 

Wir brauchen die sexuelle Stimulierung der Schüler, um die sozialistische Umstrukturierung der Gesellschaft durchzuführen, und den Autoritätsgehorsam einschließlich der Kinderliebe zu den Eltern gründlich zu beseitigen.

 
In der FAZ ist man damit weitgehend wieder da, wo man hin möchte: In den 70ern, allerdings auch dort schon mit einem wachsamen Auge auf verwerfliche sexuelle Freiheit und sozialistische Umtriebe. Denn dass man eigentlich die 50er besser findet, das möchte man dann doch nicht so laut sagen.

Wichtig ist vor allem, neuere Forschung nicht zu berücksichtigen, wie etwa die, die am 1.2. in der Süddeutschen Zeitung wiedergegeben wurde: Zum Beispiel die Ergebnisse der letzten Studie zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für Politische Bildung, die so deutlich gegen das Bild einer hypersexualisierten, beziehungsunfähigen Jugend spricht.

Oder die Arbeiten von Silja Mathiesen und Gunter Schmidt, die zeigen, dass der Konsum von Pornos unter Kindern und Jugendlichen längst nicht so gang und gäbe ist, wie oft behauptet wird – vor allem die Mädchen interessieren sich weniger dafür.

Aber wer braucht schon diesen neumodischen Forschungskram.

Bei der FAZ setzt man mehr auf altbewährte Methoden, wenn auch zuweilen mit modernen Mitteln: zum Beispiel durch die Ritzen in der Umkleidekabine schielen – oder sich eben zu Forschungszwecken in einen Facebook-Freundeskreis einschleichen – und dann schockiert berichten, dass die Mädchen sich dort ganz ungeniert auszögen. Ein Skandal!
 
Crosspost von Dr. Mutti

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