#Digitalisierung

Ein Rant für digitale Bildung

von , 19.1.14

Ich habe mir gerade das am Ende dieses Beitrags eingebettete Video mal wieder angesehen. Nach wie vor bin ich nicht mit jedem Detail einverstanden, das Tanja und Johnny Haeusler in diesem Beitrag zur re:publica 2013 benennen. Die Grundrichtung aber finde ich durchaus bedenkenswert. Und dass die zunehmende Kasernierung die pädagogisch wertvolle Rundumversorgung von Kindern in Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Horten etc. möglicherweise nicht die optimale Form ist, um Kinder und Beruf miteinander in Einklang zu bringen, sprechen die Haeuslers ziemlich deutlich an.

Oh ja, und dann haben wir noch, die Haeuslers formulieren das auch in dem Video, die Aufgabe, Kinder und Jugendliche darauf vorzubereiten, dass sie sich in einer digitalisierten Welt zurechtfinden, von der wir vieles heute noch gar nicht wissen. Wir wissen nicht, wie stark die Digitalisierung letztlich den Alltag wirklich durchdringen wird. Dass sie den Alltag aber mehr und mehr durchdringt, ist so offensichtlich, dass man es nicht mehr leugnen kann. Die Erkenntnis, dass das Internet nebenbei ein ideales System zum Datensammeln und zur Überwachung unter anderem für staatliche Geheimdienste ist, wird das nicht verhindern.

Oh ja, wir haben Kinder und Jugendliche darauf vorzubereiten, dass sie sich in dieser vernetzten Welt zurechtfinden. Wir machen das in PC-Räumen. Ansonsten wird in den Schulen immer noch mit Büchern gearbeitet. Das ist nicht schlimm. Das ist nicht gut. Das ist eben so. Und ich bin wirklich froh, dass mehr und mehr Lehrende sich selbst digital kompetent machen und z. B. Tablets im Unterricht für sich nutzen.

So ist das zumindest an der Schule, an der ich unterrichte. Einst war ich der Erste mit Tablet im Unterricht; heute gibt es nicht nur Kollegen und Kolleginnen, die diese Geräte für sich einsetzen, sondern auch erste Reflexionen über den Einsatz des Tablets als Schulheft in der Hand eines Schülers. Immerhin. Schule ist bei solchen Entwicklungsprozessen von ihrer Struktur her nun einmal nicht gerade als avantgardistisch zu betrachten.

Die digitalisierte Welt ist längst Teil der Schule, weil Schüler und Lehrer sie zunehmend bevölkern. Aber immer noch gibt es Schulen, in denen der wesentliche Umgang mit Smartphones darin besteht, dass diese von Lehrern eingezogen werden, weil es Handyverbote unterschiedlichster Ausprägung gibt, die in Vereinbarungen mit den Eltern festgehalten wurden.

Wir bringen den Schülern und Schülerinnen nach wie vor nicht bei, dass Smartphones und Tablets fantastische Geräte zur lernenden Welterschließung sind, die neben alle anderen Formen treten, die wir schon kennen. Wie soll das auch gehen, wenn zum Beispiel jeder Lehrer, dem gegenüber ich das Wort Etherpad in den Mund nehme, erst einmal eine Erklärung braucht, was das ist?

Wie soll das gehen, wenn Lehrer zwar wissen, dass Google seinem „Don’t be evil“ wohl doch nicht ganz treu geblieben ist, die aber nicht wissen, dass die Werkzeuge, die Google anbietet, tatsächlich auch zum Arbeiten geeignet sind? Wie sollen wir Schüler und Schülerinnen so vorbereiten, dass sie sich in der digitalisierten Welt zurechtfinden, wenn in einigen Bundesländern die Nutzung sozialer Netzwerke für „dienstliche Belange” – die Kommunikation mit Schülern, Eltern etc. – ausdrücklich verboten wird, während die Lehrer und Lehrerinnen über Facebook hinaus andere soziale Netzwerke kaum für sinnvolle Belange nutzen?

Wir haben – nicht in allen Bundesländern – Lehrmittelfreiheit, aber die Möglichkeit, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule außerhalb der PC-Räume mit eigenen Geräten das Lehrmittel Internet nutzen können, gehört in vielen Fällen immer noch nicht dazu. Lehrmittelfreiheit bedeutet nach wie vor nicht, dass WLAN-Zugänge verfügbar sind und Schulträger wissen, wie deren Aufbau und Unterhalt finanziert werden kann.

Während in den USA Dutzende Twitterchats von Hunderten Lehrkräften Woche für Woche bevölkert werden, verzeichnet der erste deutschsprachige Twitterchat für Lehrende im Schnitt ca. 40 Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Das ist, aus der Perspektive eines Lehrers in Deutschland gesprochen, übrigens eine beeindruckende Zahl, trotz der ca. 800.000 Lehrer und Lehrerinnen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland.

800.000 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen, von denen sich ca. 40 seit September 2013 Woche für Woche zu einem Chat treffen, der ihrer eigenen Fortbildung und Vernetzung dient, und von denen vielleicht ein paar hundert sich ernsthaft Gedanken darum machen, welcher Mehrwert im Lernen mit digitalen Geräten und Netzen zu finden ist, und wie dieser in eine digitale Didaktik überführt werden kann. Oder sind es doch mehr, und wir wissen nichts davon? Oder sind es viel weniger, und ich bin ein unverbesserlicher Optimist?

Dass wir Kinder und Jugendliche allzu oft nicht darauf vorbereiten, dass sie sich in einer digitalisierten Welt zurechtfinden, beunruhigt aber nicht wirklich nachhaltig. Gehen wir doch davon aus, dass Jugendliche sich ihre eigenen Wege suchen, mit ihrem Internet zurechtzukommen. Das stimmt auch für einige.

Aber die meisten Jugendlichen haben keine Ahnung, wie sie sich (reflektiert) in der digitalen Welt zurechtfinden sollen. Schüler können Facebook nutzen, WhatsApp bedienen, Quiz-Duell spielen, Instagram-Accounts füllen, vielleicht auch noch die Basisfunktionen von OpenOffice, LibreOffice, Word oder Pages bedienen und mittels Powerpoint oder Prezi Präsentationen erstellen. Das ist eine ganze Menge – doch im Zentrum der meisten Aktivitäten von Jugendlichen im Netz steht der Austausch mit anderen Jugendlichen und Freunden.

Weil Jugendliche sich viel im Netz bewegen, gehen wir davon aus, dass sie dort schon ihren Weg finden werden. Auch, wenn in der Schule dieses Netz nach wie vor oft nur dann eine Rolle spielt, wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin einen Film nun eben nicht mehr von einer Videokassette abspielt, sondern eine modernere Version benutzt.

YouTube bedienen können doch einige Lehrende, denn immerhin gibt es da Filme. Aber die Zahl der Lehrenden, die den inneren Drang haben, digitale Realitäten für sich so zu erschließen, dass sie diese mit Schülerinnen und Schülern reflexiv erschließen und reflektiert nutzen können, ist gering.

Sie ist auch so gering, weil es nach wie vor ein hohes Maß selbständigen Lernens der Lehrer erfordert, sich in diese Welt einzufinden – Zeit, die sie oft nicht haben, wenn sie neben ihrem extrem zeitaufwändigen Beruf eine Beziehung pflegen und Kinder großziehen wollen.

Und selbst in Kontexten, in denen es möglich wäre, Jugendliche digital zu bilden, passiert zu wenig. Hier fasse ich mir an die eigene Nase. In vielen meiner Lerngruppen habe ich mittlerweile eine annähernd oder tatsächliche 100-Prozent-Abdeckung mit Smartphones, mit denen Schülerinnen und Schüler, wer immer das auch finanzieren mag, das Netz nutzen können, auch wenn es im Sinne von Lehrmittelfreiheit kein frei zugängliches WLAN gibt. Und selbst, wenn ich immer mal wieder Projekte starte, die diese Optionen nutzen, interessiert mich doch eigentlich der selbstverständliche Gebrauch der vorhandenen Lernoptionen im Unterricht und in der Schule (also auch in Pausen, in Freistunden).

Was passiert, wenn ich nicht mehr in speziellen Situationen sage, dass Schüler und Schülerinnen jetzt ihre Smartphones nutzen dürfen, sondern mit ihnen vereinbare, dass die Geräte von den Lernenden im Unterricht frei genutzt werden dürfen, solange der Bezug zum Unterricht vorhanden ist?

Dabei darf ich natürlich nicht vergessen, immer wieder auch auf die Nutzung echter Bücher zu drängen und zu bestehen, insbesondere von Wörterbüchern, weil Schülerinnen und Schüler in Prüfungssituationen nur diese nutzen dürfen. Ich fände, ließe ich Smartphones z. B. in Klausuren zu, zwar angemessene Aufgaben, bekäme aber sicher zu hören, dass die Vergleichbarkeit der Leistungen meiner Schüler mit anderen nicht mehr gegeben sei.

Wenn jetzt Leute sagen, dass die Verfügbarkeit einer Netzanbindung in Prüfungen wirklich ein Problem sei, dann mag das für die Mentalität hierzulande zutreffen, doch beispielsweise in Dänemark denkt man da etwas anders.

Oh ja, sicher, im Lauf der Zeit wird sich das alles ändern! Sicher, bestimmt. Vielleicht. Möglicherweise.

Es ändert sich auch faktisch vieles an den Schulen. Ich erlebe das hautnah, sehe, wie Diskussionen in Gremien zu Fragen des digitalen Lehrens und Lernens im Vergleich zu den letzten zwei bis drei Jahren entspannter werden, wie immer mehr Schulen sich der Realität stellen, dass Handyverbote irgendwie seltsam sind. Ich erlebe, wie sich langsam mehr Lehrende – aller Lehrergenerationen und eben nicht nur junge Nachwuchskräfte – mit Laptop und Tablets ausstatten, die sie dann auch im Unterricht nutzen. Auf eigene Kosten.

Wir haben Kinder und Jugendliche darauf vorzubereiten, dass sie sich in einer digitalisierten Welt zurechtfinden. Dazu müssen wir uns als Erwachsene und insbesondere als Lehrende in dieser Welt bewegen und zurechtfinden. Dazu müssen wir uns von den Jugendlichen auch mal erklären lassen, was für sie im Netz wichtig ist, obwohl wir es vielleicht nicht verstehen oder nachvollziehen können. Dazu müssen wir die Chancen der Digitalisierung reflektieren und ebenso reflektiert mit den Risiken umgehen.

Reflektierter Umgang mit der Digitalisierung aber ist etwas anderes als das Verbot der Instrumente, die diese Digitalisierung repräsentieren. Reflektierter Umgang mit der Digitalisierung bedeutet nicht die Fixierung auf faktisch vorhandene Risiken, die so stark wird, dass die Chancen nicht mehr gesehen werden. Oh nein, es muss sich nicht jeder im Internet bewegen wollen, aber es sollte sich jeder gegebenenfalls verantwortlich und risikobewusst im Internet bewegen können.

Die Kinder und Jugendlichen suchen sich ihren Weg. Bislang tun sie dies, ohne dass ihnen dabei von den Erwachsenen in ihrem Umfeld, von den Institutionen, in denen sie ihre Sozialisation erfahren, selbstverständliche Unterstützung zuteil wird, und zwar über Sorgen um das Kindeswohl und den Jugendschutz, über Verbote, Einschränkungen und Mahnungen hinaus.

Das finde ich schade.

Luft holen

So. Das ist jetzt ein Rant für die Bildung im digitalen Zeitalter geworden, obwohl ich ursprünglich doch „nur“ ein Video hier einbetten wollte. Aber so ist das nun mal.

Jetzt aber Bühne frei für Tanja und Johnny Haeusler und ihren Beitrag zur re:publica 2013 „The Kids Are Alright” (CC BY-SA 3.0 DE). Vielleicht merkt der Eine oder die Andere ja, inwiefern dieser Beitrag diesen Artikel beeinflusst hat.

 

 
Crosspost von herrlarbig.de
 

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