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Amazon und die Gewerkschaft

von , 3.1.14

Amazon beutet Mitarbeiter aus. Der Einzelhandel leidet darunter. Oder? Schon vor Weihnachten hat Nadja Oberhuber in der FAZ eine Gegenposition vertreten. Insbesondere weist sie auf einige gern übersehene Tatsachen hin.

Der Lohn in Amazons Versandzentren lehnt sich zwar an den Tarif des Logistikbereiches an, ist aber übertariflich. Das von ver.di inszenierte Lohndrama sieht laut Nadja Oberhuber so aus, dass ein Amazon-Mitarbeiter nach drei Jahren 10,99 € brutto pro Stunde bekommt, nach dem von ver.di geforderten Einzelhandelstarif 40 Cents mehr. Das sind aufs Jahr zwar je nach (Über-)Stundenzahl einer Vollzeitstelle zwischen 800 und 900 €, aber eben brutto.

Bei einer 40-Stunden-Woche mit bezahltem Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kommt ein Mitarbeiter der Amazon-Versandzentren auf einen Brutto-Jahreslohn von fast 23.000 €. Diese rund 1.900 € Monatsbrutto sind zwar deutlich unter dem Durchschnittslohn von 4.535 € für die Finanzbranche, aber die 800 bis 900 € pro Jahr, für die ver.di Arbeiter zum Streik aufgerufen hat, reißen nicht wirklich viel. Immerhin ist es ein ganzes Stück über der Niedriglohngrenze von 9,54 €.

Wie es im Einzelhandel mit den tariflich Beschäftigen tatsächlich aussieht, kommt gleich.

ver.di rügt auch die Kündigungen der befristet eingestellten Arbeitnehmer in den Logistikzentren “kurz vor Weihnachten”. Das Weihnachtsgeschäft ist für alle Einzelhändler eine Zeit der Urlaubssperren und Aushilfen. Letztere werden natürlich nur für die Zeit eingestellt, in der mit weihnachtsbedingten Verkäufen zu rechnen ist: also bis zum 23.12. Befristete Arbeitsverhältnisse wurden exakt für solche Phasen ermöglicht.

Die Verträge mit den Mitarbeitern sind also von vornherein befristet. Den Mitarbeitern ist vollkommen klar gewesen, dass sie am 23.12.2013 ihren letzten Arbeitstag bei Amazon haben werden und danach bis zum 31.12. Überstunden und Urlaubstage abfeiern. Liest man mal nach, unter welchen Bedingungen es passieren kann, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis versehentlich ein unbefristetes wird, ist absolut verständlich, dass die Geschäftsleitung exakt am letzten Tag der Laufzeit allen Betroffenen nochmal sagt: Ok, danke, das wars. Sie bekamen sogar Kaffee und Kuchen und wurden nicht, wie ver.di implizierte, überraschend einbestellt, um sie zu feuern.

ver.di rügt Amazon also ernsthaft dafür, dass die Arbeitsverträge eingehalten werden?

Aber die Realitätsverzerrung in den Medien geht noch weiter. Natürlich kratzt Amazon an den Pfründen des örtlichen Einzelhandels. Aber hat der nicht schon lange erhebliche Servicemängel?

Nehmen wir mal den Buchhandel. Henning Groß schrieb unlängst in seinem Blog, wie er einem Buchhändler mit Hilfe der Amazon-App half, ein Buch im Verzeichnis lieferbarer Bücher zu finden. Vergeblich, auch über die ISBN konnte der Buchhändler es nicht finden. Das war nicht irgendeine kleine Buchhandlung, nein. Es war eine Hugendubel-Filiale, und auf deren Website konnte man das Buch bestellen. Absurderweise sogar zur Abholung in der Filiale.

Kurz gesagt: Örtliche Buchhandlungen mit gutem Service kenne ich nur noch wenige. Den Stern-Verlag in Düsseldorf zum Beispiel, aber da ich inzwischen weder in Düsseldorf wohne, noch dort arbeite, nützt der Laden mir nichts. Früher habe ich vor Besuchen dort per Internet gecheckt, ob die gewünschten Fachbücher vorhanden sind, um sie mir dann vor Ort anzusehen und bei Gefallen zu kaufen. Denn das Buchhaus Sternverlag hatte schon einen tollen Onlineshop, bevor Amazon in Deutschland eine Rolle spielte.

Das ist heute anders, denn diese eine Buchhandlung ist mehr als eine halbe Stunde Autofahrt plus Parkplatzsuche entfernt in der Düsseldorfer Innenstadt. (Nach öffentlichen Verkehrsmitteln wollt Ihr bitte nicht fragen, das wäre eine Tagesreise).

Bestellung bei Thalia, Screenshot

Bestellung bei Thalia

Andere Buchhandlungen konnte ich früher anrufen und telefonisch Bücher bestellen. Bei Thalia geht das noch immer, die Telefonnummern zum Beispiel der Filiale Krefeld sind auf der Website angegeben. Mein letzter Versuch, dort telefonisch ein Buch zu bestellen und es dann abzuholen (das war im Sommer 2012) endete mit einem Verweis auf die Bestellmöglichkeit auf der Website. Ich solle es mir dann zur Abholung in die Buchhandlung schicken lassen.

Ernsthaft?

Schauen wir mal genau hin: Ich habe die Wahl zwischen kostenloser Lieferung in meinen Briefkasten oder alternativ einer Fahrt nach Krefeld mit Parkgebühren und Zeitaufwand, um das Buch zu bekommen? Ich kann zwar nach Eingabe meiner Postleitzahl sehen, dass das Buch gerade in der Filiale vorrätig ist – aber warum sollte ich mir jetzt noch die Zeit nehmen, nach Krefeld zu fahren, wo ich das Buch ohne Mehrkosten auch genauso schnell nach Hause geliefert bekomme?

Was hab ich gemacht? Ratet mal.

Natürlich: Ich hab es meinem Amazon-Warenkorb hinzugefügt, woraufhin es für denselben Preis zusammen mit Gitarrensaiten und einer Handyhalterung in einer einzigen Sendung in meiner Packstation landete.

Amazon ist also der böse Bube, weil es genau das Gleiche macht, was die großen Buchhandelsketten auch machen: durch Versandhandel mit Büchern den Filialen Kunden ausspannen.

Wirklich überleben werden offensichtlich nur die örtlichen Buchhandlungen, die zentral liegen und ein breites Sortiment an echten Fachbüchern (und nicht trivialwissenschaftlichen Ratgebern) führen. Und daran ist nicht Amazon schuld. Die Buchhandelsketten beschädigen sich selbst, indem sie Online- und Offlinekauf nicht vernünftig verzahnen. Und was E-Books aus diesen Geschäften noch machen werden, weiß eh keiner. Märkte ändern sich halt kontinuierlich, insbesondere bei technischen Revolutionen.

Nun zum Einzelhandel als Ganzes.

Amazon hat ja seit Jahren nicht nur Bücher, sondern ein sehr breites Non-Food-Sortiment im Angebot, steht daher mit dem kompletten Einzelhandel in Konkurrenz.
 

Die Arbeitswelt in der Bundesrepublik ist (und darin folgt sie einem weltweiten Trend) durch eine fast unüberschaubare Vielgestaltigkeit geprägt, die selten den Arbeitnehmern zum Vorteil gereicht. Dazu gehören unter anderem die gewöhnliche Arbeit in einem Normalarbeitsverhältnis, Kontraktarbeit, Honorararbeit, Minijobs, Stücklohnarbeit, Zeitarbeit, Scheinselbstständigkeit, Niedriglohnarbeit, Leiharbeit und so weiter. Mehr und mehr dominieren flüchtige, zeitlich befristete und schlecht entlohnte Beschäftigungsformen, deren gemeinsames Kennzeichen die Unmöglichkeit einer längerfristigen Sicherung des Lebensstandards und einer perspektivischen Lebensgestaltung ist.

Werner Seppmann in Telepolis

 
Da arbeitet Amazon total gegen den Trend: Vielen ansatzweise ausgewogenen Presseberichten ist zu entnehmen, dass in den Logistikzentren rund 9000 fest und überwiegend unbefristet angestellte Personen arbeiten. Natürlich gab es auch einen Leiharbeitsskandal, dazu gleich mehr.

Schauen wir uns erst mal die Situation des Arbeitsmarktes an:
 

In vielen Branchen gibt es in der Bundesrepublik fast nur noch Beschäftigung im Niedriglohnbereich, also zu Stundenlöhnen unter 9,54 Euro: 87 Prozent aller Taxifahrer, 86 Prozent der Friseure, 77 Prozent der Beschäftigten in der Gastronomie und 69 Prozent der Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel, aber auch 68 Prozent der Beschäftigten in den Callcentern oder Zweidrittel des Personals bei den Wachdiensten.

Werner Seppmann, a.a.O.

 
69% der Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel arbeiten für einen Niedriglohn, bekommen also weniger Stundenlohn als ein Amazon-Mitarbeiter im Versandlager!

Kann  mal kurz jemand den ver.di-Funktionären erklären, dass ihre Tarifverträge im Einzelhandel kaputt sind?
 

Studie zur Analyse geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, Seite 18

Studie zur Analyse geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, S. 18

Dazu kommt, dass der Einzelhandel Spitzenreiter bei Minijobs ist – die geringe Stundenzahl führt für den Arbeitgeber neben den geringen Bruttolöhnen dazu, dass auch keine Sozialversicherung gezahlt wird. Leben kann von diesen Jobs natürlich niemand. Auch nicht in Vollzeit.

Die Vollzeitstellen bei großen Warenhausketten werden zum großen Teil befristet vergeben. Nur wenige Mitarbeiter werden auf die wenigen unbefristeten Stellen übernommen. Alle anderen wechseln von Filiale zu Filiale derselben Marke.

Die Filialen sind jeweils eine selbständige GmbH, die Warenhauskette umgeht so das Verbot der endlosen Kettenbefristung einer Stelle, indem pro forma Arbeitgeber und Arbeitsort alle 2 Jahre wechseln.

Dazu kommen Arbeiten, die durch nicht tarifgebundene Dienstleister erledigt werden. Während zum Beispiel früher neue Waren von denselben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Regale eingeräumt wurden, die auch in der Filiale arbeiteten, kommen heute “Packdienste” von externen Dienstleistern zu bestimmten Zeiten in die Läden. Dadurch werden noch weniger tariflich Beschäftige mit fundierter Ausbildung und angemessenem Gehalt benötigt.

Glorreiche Ausnahme ist hier übrigens ALDI, das gerne mit ebenso unausgegorenen Argumenten angegangen wird wie Amazon.

Dass den fest angestellten Amazon-Mitarbeitern zwar Löhne unter dem deutschen Durchschnitt bezahlt werden, haben wir gesehen, aber sie bekommen noch weit mehr als den im Wahlkampf von der SPD geforderten Mindestlohn von 8,50 €, und sogar mehr als zwei Drittel der Mitarbeiter im Einzelhandel, die zu dem geringen Stundenlohn auch noch den größten Anteil der Minijobs stellen.

Mir als ver.di-Mitglied ist vor diesem Hintergrund richtig peinlich, dass meine Gewerkschaft Amazon auf den Einzelhandelstarif festnageln will.

Der “Leiharbeiterskandal” bei Amazon war genau genommen auch keiner, zumindest nicht bei Amazon: Leiharbeiter, die in einem der Logistikzentren arbeiteten, waren von der Leiharbeitsfirma unter mehr als fragwürdigen Umständen untergebracht worden. Der Rechtsstreit um den Bericht fand daher auch zwischen der Sendeanstalt und der Leiharbeitsfirma statt.

Amazon hingegen trennte sich nach Bekanntwerden des Falls umgehend von der Firma und legte die Gehälter für Leiharbeiter offen:
 

Alle Mitarbeiter, die länger als ein Jahr in den Amazon-Logistikzentren in Deutschland arbeiten, verdienen über 10 Euro brutto pro Stunde; im ersten Jahr über 9,30 Euro brutto. Die in dem Beitrag erwähnten Mitarbeiter aus Spanien, die über eine Zeitarbeitsfirma im Logistikzentrum Bad Hersfeld beschäftigt wurden, verdienten bei einer 37,5 Stundenwoche 1400 Euro brutto im Monat, in der Nachtschicht bei 32,5 Wochenstunden 1500 Euro im Monat.

 
Bei 37,5 Stunden pro Woche und 1.400 € Brutto liegt der Stundenlohn bei rund 8,60 € – das ist zwar herzlich wenig, aber der gesetzliche Mindestlohn für Leiharbeiter ist noch niedriger: 7,89 € in den alten und 7,01 € in den neuen Bundesländern. Aber die Leiharbeiter in der Nachtschicht kommen auf über 10 €, und niemand hat Amazon bislang vorwerfen können, durch dauerhaften Einsatz von Zeitarbeitern Löhne zu drücken. Sie sind halt Saisonkräfte, zum Beispiel für das Weihnachtsgeschäft.

Wir halten fest: Amazon ist böse, weil es

  • Arbeitsverträge einhält
  • den lokalen Buchhandel zerstört und diese Arbeit nicht den Buchhandelsketten überlässt, die mit denselben Mitteln auf demselben Weg sind
  • im Regelfall Vollzeitjobs vergibt, deren Gehälter knapp unter denen liegen, die dieselben Mitarbeiter im stationären Einzelhandel gar nicht bekämen, weil dort trotz Tarif die meiste Arbeit von Niedriglöhnern und Minijobbern erledigt wird.

Ich will Amazon keinen Persilschein ausstellen. Marktkonzentration und Monopolisierung sind immer schlecht. Kreative Steuervermeidung durch geschickte Lizenzierung ist auch nicht im Sinn der Globalisierung.

Aber die Argumente, die in den letzten Wochen mal wieder gegen das Unternehmen angeführt wurden, sind unsachlich, polemisch und an den Haaren herbeigezogen. Und das sage ich, obwohl ich selber ver.di-Mitglied bin.

Sorry auch.
 
Crosspost von Alles ist wahr.
 

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