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“Den Bann zu brechen durch helles Bewusstsein”

von , 18.9.13

Bekanntlich kann man die Geschichte nicht mehr ändern. In einer der bekanntesten deutschen Nachkriegsphrasen sprach man daher von der “Aufarbeitung der Vergangenheit”, die schon 1959 einen Theodor Adorno zur Verzweiflung getrieben hat. Mit dieser Phrase sollte letztlich nicht die Vergangenheit aufgearbeitet, sondern als abgeschlossen deklariert werden.

Adorno drückte das so aus:
 

“Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen.”

 
Nun ist Adornos Kritik selbst schon historisch geworden. Er hat damit die deutsche Nachkriegsdebatte mehr geprägt, als er es sich wahrscheinlich 1959 selbst vorstellen konnte. Die spätere Entwicklung hat seine damaligen Befürchtungen eindrucksvoll widerlegt.

Seine Sichtweise hat allerdings die deutsche Debatte über den Umgang mit jeglicher Vergangenheit auch in anderer Beziehung geprägt. Wer das jetzt zu spüren bekommt, sind die Grünen in ihrem Umgang mit dem Thema Pädophilie.

In einer Hinsicht trifft es durchaus die Richtigen. Die Grünen traten nämlich ein Erbe der 68er an, das sie besser ausgeschlagen hätten. In dieser Generation war jene moralisierende Selbstgerechtigkeit zu finden, die unter Aufarbeitung der Vergangenheit zumeist nur noch eine Moralkeule verstand, die sich besonders gut zur Bekämpfung politischer Gegner eignete. Sie haben bis heute eine Mentalität, sich für die besseren Menschen in einer feindlichen Umgebung zu halten. Als Moralproduzenten waren sie damit ungleich effektiver als die katholische Kirche.

In gesellschaftspolitischen Debatten sind die Grünen (und ihr Umfeld) bis heute besonders eifrig, wenn es darum geht, konservative Vorstellungen als unmoralisch zu denunzieren. Die Allzweckwaffe ist dabei der Begriff Diskriminierung. Wer etwa die Vorstellungen der Grünen über die Ehe nicht teilt, diskriminiert – und Diskriminierung ist per definitionem unmoralisches Handeln. Wie wirksam diese Diskurspolizei gewesen ist, konnte man in der jüngsten Vergangenheit erleben. Konservative ließen sich durchaus einschüchtern. Da sollte man sich nichts vormachen.

Insofern ist die Häme nachvollziehbar, die die Grünen in der Pädophilie-Debatte trifft. Dass das im derzeitigen Wahlkampf zudem als ein politisches Kampfinstrument genutzt wird, ist zwar bisweilen eklig, aber nicht zu verhindern. Die Empörung darüber sollte sich in Grenzen halten.

Nur sollte man allmählich die Debatte in rationale Bahnen lenken, wenn man nicht in einem Sumpf aus taktischen Kalkülen versinken will. So wird die Pädophilie-Debatte bei den damaligen Grünen häufig mit den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche verglichen. Nur – ist das Argument überzeugend?

In der katholischen Kirche war der Verstoß gegen die eigenen Normen nie umstritten. Sie musste gerade deshalb ein institutionelles Interesse an einer Vertuschung dieser Vorfälle haben. Zudem war in der Kirche mit der Missbrauchsdebatte jener Verdacht öffentlich geworden, dass der Missbrauch wegen der Verbindung aus repressiver Sexualmoral und Zölibat ein systemisches Problem sein könnte; es sich eben nicht um die berühmten Einzelfälle handele, sondern er erst durch die institutionellen Strukturen der Kirche erzeugt wird. Es geht hier nicht um die Plausibilität dieses Arguments. Bis heute finden die meisten Missbrauchsfälle in der Familie statt – und trotzdem kommt niemand auf die Idee, die Familie als Institution abschaffen zu wollen. Aber es weist auf einen Strukurdefekt der Debatte hin.

Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat vor allem eine Aufgabe: Es soll im Auftrag der Grünen eine Debatte rekonstruieren, die in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht nur in dieser Partei geführt worden ist. Jeder Zeitgenosse konnte diese Debatte damals nachvollziehen, wenn er sich denn für das Thema interessierte. Der sexuelle Missbrauch von Kindern war damals ein Straftatbestand. Die Debatte um die Straffreiheit war zwar eine politische Forderung der Grünen, sie ist aber nicht nur nicht umgesetzt worden, sondern sie hat es meines Wissens noch nicht einmal als Antrag in den Bundestag geschafft. Die Grünen waren dort seit 1983 vertreten und haben sich erst 1989 von dieser Forderung nach Straffreiheit distanziert.

In der Welt gibt es ein bemerkenswertes Interview mit einem damaligen Missbrauchsopfer. Er schildert, wie die Atmosphäre im Umfeld der Partei gewesen sein muss. Es ist offenkundiger Unsinn, dass viele damalige Grüne heute behaupten, davon nichts gewusst zu haben. Welchen Sinn soll die Forderung nach Straffreiheit haben, wenn man sogenannte gewaltfreie sexuelle Handlungen an Kindern nicht als legitimes Handeln begreift? In der Kirche (oder in den zahllosen Familien) waren die damaligen Täter zur gleichen Zeit von der Rechtswidrigkeit ihrer Handlungen und der eigenen Schuld überzeugt. Sie haben alles dafür getan, damit es nicht öffentlich wird. In der Kirche klappte das auch lange Zeit.

Das Argument der Befürworter einer Reform des Sexualstrafrechts in der damaligen Debatte war übrigens so zu verstehen: Die Täter haben auch keine Schuld. Sie sind selbst Opfer einer repressiven Sexualmoral geworden, weil einvernehmlicher Sex mit Kindern erlaubt werden müsse. Die Grünen nahmen damit nur einen Diskurs auf, der schon mit der sexuellen Revolution nach 1945 und gerade nicht erst 1968 begonnen hatte. Pädophilie galt dabei häufig nur noch als eine sexuelle Praxis unter anderen. Der Sinn dieser grünen Debatte war das Herstellen von Öffentlichkeit. Mehr hätten sie politisch auch gar nicht leisten können.

Zu dem Zeitpunkt, als die Grünen über das Thema diskutierten, gab es unzählige Fälle sexuellen Missbrauchs in allen Schichten dieser Gesellschaft. Es waren eben nicht nur katholische Priester oder diese überschaubare Gruppe pädophiler Aktivisten im Umfeld der Partei. Als Stichwort muss man nur die Odenwald-Schule nennen. Der einzige Ort, wo allerdings Öffentlichkeit hergestellt worden war, ist bei den Grünen zu finden gewesen. Trotzdem hat es keinen einzigen Strafantrag gegen die damaligen Akteure gegeben. Von einer Verurteilung ganz abgesehen. Man muss damit eine Frage stellen: Wie ist das eigentlich möglich gewesen?

Warum ist in den 1970er- und 1980er-Jahren kein Staatsanwalt in Deutschland auf die Idee gekommen, in diesem Umfeld zu recherchieren? Obwohl die strafbaren Handlungen – etwa in dem berühmt gewordenene Buch von Daniel Cohn-Bendit – offen eingestanden worden waren? Warum hat keine Partei, auch nicht die CDU oder die CSU, in dieser Hinsicht etwas unternommen? Gab es Strafanzeigen von Kinderschützern gegen die damaligen Akteure? Es kann ja nun niemand sagen, er hätte nichts gewusst. Das fand alles in der Öffentlichkeit statt, im Gegensatz zu den Missbrauchsfällen in der Kirche oder in den Familien.

In Wirklichkeit war die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern eine rechtssoziologische Phrase ohne praktischen Nutzen. In der strafrechtlichen Praxis hat das keine Rolle gespielt. Das Strafrecht hat damals kein Kind geschützt – und (fast) jeder Täter von damals ist bis heute straffrei geblieben. Ob er nun bei den Grünen war, in der Kirche, in der Familie oder in irgendeiner anderen Institution dieser Gesellschaft.

In rechtssoziologischer Hinsicht war der sexuelle Missbrauch von Kindern de facto straffrei. Betroffene Kinder hätten damals noch nicht einmal einen Ort gehabt, wo sie darüber hätten reden können. Sie wurden nicht nur missbraucht (und vergewaltigt), sondern waren buchstäblich zum Schweigen verdammt. Das war auch der Grund, warum sich damals niemand dafür interessierte, welche Folgen eigentlich die Selbstbezichtigungen im Umfeld der Grünen haben mussten. Kein Staatsanwalt, kein Kinderschützer, keine Kirche, kein konservativer Politiker oder irgendein Journalist interessierte sich dafür, obwohl der Missbrauch vor ihren Augen stattfand. Sie alle hätten nur hinsehen müssen. Sie haben aber die Augen verschlossen.

Erst in dieser Atmosphäre konnte überhaupt die Idee entstehen, die Abschaffung der Strafbarkeit sexueller Handlungen mit Kindern zu fordern. Das Delikt wurde in der Praxis nicht verfolgt, aber jeder wusste, dass es vorkam. Warum es daher nicht als eine sexuelle Spielart betrachten, die ähnlich zu beurteilen ist wie die Homosexualität? Und deren Strafbarkeit war erst kurz vorher abgeschafft worden. Die Pädophilen bestimmten einen öffentlichen Diskurs, den es in Wirklichkeit sonst nicht gegeben hatte.

Oder hat es etwa zu diesem Zeitpunkt eine gesamtgesellschaftliche Debatte gegeben, die mit den heutigen Erkenntnissen vergleichbar gewesen wäre? Wo waren denn die damaligen Konservativen, die über den sexuellen Missbrauch geredet haben? Sie haben geschwiegen, weil sie dann natürlich nicht nur über die Grünen hätten reden müssen. Ironischerweise waren es die Grünen selbst (und ihr Umfeld. Es sei nur Alice Schwarzer genannt), die den politischen Vormarsch der pädophilen Aktivisten beendeten.

Das ändert nichts an der alten Forderung Adornos, den “Bann zu brechen durch helles Bewusstsein”. Nur im Umfeld der Grünen konnten Pädophile den sexuellen Missbrauch legitim praktizieren. Es soll daher nun keiner erzählen, er habe das nicht gewusst. Das ist schon ein Unterschied zu den sonstigen Verhältnissen, etwa in der katholischen Kirche. Allerdings dürfen die Enkel der damaligen Konservativen darüber nachdenken, warum diese die kriminellen Aktivitäten im Umfeld der Pädophilen geduldet haben. Meinetwegen darf das Nachdenken auch erst am kommenden Montag beginnen.

 
Update
Goldkäferhochzeit hat mich auf dieses Interview mit Stephan Klecha vom Göttinger Institut hingewiesen. Lohnt sich.

 
Crosspost von Wiesaussieht
 

 

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