#EU

Europawahl: Beteiligungsdesaster im Fünfjahresrhythmus

von , 15.5.09


Just nach dem „Big Bang“, der Erweiterung um 10 Länder, war der Katzenjammer groß in Europa: Es schien, als liefen EU-Europa die Bürger davon. 342 Millionen Wähler waren im Juni 2004 aufgerufen, das Europäische Parlament zu wählen. Und nicht einmal die Hälfte mochte sich beteiligen, in den Beitrittsländern nur knapp ein Drittel. Man muss kein Prophet sein um vorherzusagen, dass das Interesse auch in diesem Jahr gering sein wird. Dabei wächst die Bedeutung der EU. Schließlich hat die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht nur ganz Europa eine Rezession beschert, sondern zweierlei deutlich gemacht:

— Erstens: alleine ist und bleibt der Nationalstaat allen Krisenmanagements zum trotz überfordert. Nur internationale Regelwerke und Kontrollmechanismen können den notwendigen Schutz vor vergleichbaren Spekulationsgeschäften und Zusammenbrüchen sicherstellen.

— Zweitens: Nicht die EU sondern vor allem die Europapolitik der letzten Jahre trägt Züge eines neoliberalen Projektes. Wer Brüssel heute (zu recht) den Tanz um das goldene Kalb des freien Kapitalverkehrs vorwirft, kann und sollte seiner Position Gehör verschaffen.

Dafür sind die Europawahlen da. Doch seit dem ersten Urnengang vor fast 30 Jahren ist die Stimmbeteiligung kontinuierlich zurückgegangen. Nach wie vor wird die EU als eine vorwiegend die Binnenmarktintegration betreffende Angelegenheit zwischen Staaten verstanden, aber nicht selbst als Gemeinwesen, das die Möglichkeit und Notwendigkeit der Teilhabe und Identifikation mit sich bringt. Ihre Entscheidungen scheinen geradewegs aus dem Nichts zu kommen; was über sie bekannt ist, geht an den Bedürfnissen der Bürger vorbei und ruft nicht selten Protest hervor.

Parlamentsgebäude in Strassburg

EU-Parlament: Die Entscheidungen scheinen geradewegs aus dem Nichts zu kommen

Wissenschaft, Publizistik und Politik machen dafür gerne das Fehlen eines wirklich europäischen Demokratiebewusstseins und, damit zusammenhängend, einer europäischen Öffentlichkeit verantwortlich. Indikativ hierfür ist ein Beitrag der Neuen Zürcher Zeitung am Tag nach der Wahl 2004. Hier wird launig kommentiert, „die Suche nach einer europäischen Identität [wird] bis auf weiteres in erster Linie auf dem Papier stattfinden. Eine gemeinsame Verfassung und wohlklingende Phrasen von politischer Einheit bleiben weiterhin Wunschdenken der EU-Bürokraten.“ Der Artikel trug den Titel „Eine europäische Öffentlichkeit fehlt“. So oder ähnlich wird auch in zwei Monaten wieder geleitartikelt werden. Doch trifft diese Beobachtung zu? Leidet die EU wirklich unter einem „Öffentlichkeitsdefizit“? Und falls die Diagnose stimmt, was ist dagegen tun?

Die Frage nach dem Zustand öffentlicher Kommunikation in und über Europa stellt sich heute dringlicher denn je. Denn wirksames europäisches Regieren setzt voraus, dass es gelingt, die Bürger für diesen Prozess zu gewinnen. Schließlich gehört zu einer gelebten europäischen Verfassung, so hat es der Berliner Sozialhistoriker Hartmut Kaelble formuliert, „nicht nur ein guter Verfassungstext, sondern auch eine Öffentlichkeit, die einerseits eine europäische Regierung stützt, berät, kritisiert oder auch bekämpft und die andererseits zu einer Identifizierung der europäischen Bürger mit demokratischen europäischen Institutionen und mit Bürgerrechten und Bürgerpflichten führt“.

Sowohl in der europapolitischen Rhetorik als auch in der Wissenschaft hat der Öffentlichkeitsbegriff seit geraumer Zeit Konjunktur. Lange wurde die EU technokratisch und aus ökonomischen Imperativen heraus begründet. Infolgedessen – und dabei handelte es sich um einen konstanten und rückblickend vielleicht auch notwendigen Begleitumstand der europäischen Einigungsgeschichte – hinkte der öffentliche Diskurs in den Mitgliedstaaten den vollendeten Tatsachen europäischer Integration hinterher. Seit mit dem Vertrag von Maastricht 1993 jedoch just jenes Dokument auf den Protest der nationalen Bürgerschaften stieß, das die Bürger der Mitgliedsstaaten zu Bürgern der EU machte, gelten Aufmerksamkeit und Anteilnahme der breiten Öffentlichkeit als conditio sine qua non einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration. Dieses Streben nach Bürgernähe fußt auf der Erkenntnis, dass auch ein Politzwitter wie die EU, die zwar mehr als eine internationale Organisation, aber dennoch kein Staat ist, der Legitimation durch seiner Bürger bedarf. Mit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000, der Einberufung des Verfassungskonvents und einer Reihe von gut gemeinten Papieren seitens der EU-Kommission schien diese Einsicht auch auf politischer Ebene (zumindest rhetorische) Anerkennung gefunden zu haben.

An hehren Worten fehlte es also nicht. Ganz im Gegenteil. Denn mit dem inflationären Gebrauch des Öffentlichkeitsbegriffs verschwimmen auch seine Konturen. Zu fragen ist daher: Welche Form von Öffentlichkeit entspricht überhaupt dem sich traditionellen Kategorisierungen entziehenden Charakter der europäischen Mehrebenendemokratie? Welche ist erforderlich, um Informiertheit und Partizipation ihrer Bürger zu ermöglichen?

Die Legende vom europäischen Öffentlichkeitsdefizit

Im akademischen wie publizistischen Diskurs ist die Annahme weit verbreitet, dass die EU unter einem „Öffentlichkeitsdefizit“ leide. Der europäische Einigungsprozess, heißt es, realisiere sich in zwei Geschwindigkeiten: Während die politischen, ökonomischen und juristischen Sphären zusehends konvergieren, blieben die Kommunikationsstrukturen national fragmentiert. Ausgehend vom Ideal eines paneuropäischen Kommunikationsraums, dessen Grenzen mit denen des vom supranationalen Regieren betroffenen sozialen Raums übereinstimmen, argumentieren die Skeptiker, dass eine „wirkliche“ europäische Öffentlichkeit sowohl ein einheitliches, alle Mitgliedsstaaten umfassendes Mediensystem als auch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsam erfahrene Geschichte voraussetzt. Da diese Bedingungen alleine angesichts der sprachlichen Heterogenität in der EU nicht erfüllt sind und von einem „Demos“ im klassischen, staatszentrierten Sinne schon gar keine Rede sein kann, ist es diesem pessimistischen Ansatz folgend um die Aussichten für Öffentlichkeit und Identität in der Union schlecht bestellt. Diese Aussage, der sich 1993 auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil anschloss, hat gewichtige Implikationen. Denn ihr zufolge ist auch das Projekt einer Demokratisierung Europas zum Scheitern verurteilt – institutionelle Reform hin oder her. So fragt der Historiker Christian Meier: „Wie […] soll eine europäische Demokratie möglich sein? Es mangelt an einer gemeinsamen Öffentlichkeit, einer gemeinsamen Gesellschaft, der sich der finnische Waldarbeiter und der andalusische Stierkämpfer so wie der deutsche Studienrat zugehörig fühlte. Es fehlen alle vermittelnden Instanzen, Medien so gut wie europäische Parteien.“

Gewiss: Wer den Nationalstaat zur Norm für die Suche nach einer einheitlichen, fest umrissenen europäischen Öffentlichkeit erhebt, landet unweigerlich in der Sackgasse. Wo, in einer EU mit 27 Mitgliedern, sind die Medien, wo die Akteure und wo das eine, kulturell und sprachlich homogene Publikum, das sich über den Raum erstreckt, auf den die Union wirtschaftlich und politisch Einfluss nimmt? Es gibt – folgt man diesen Kriterien – keine europaweite Öffentlichkeit, sondern allenfalls eine Experten-Öffentlichkeit der Berufseuropäer aus Wirtschaft und Politik, die sich über europaweit verbreitete Elitemedien wie Financial Times, Economist oder Euronews informieren. Von oben herab, mittels Verordnungen und finanzschwerer Programme herstellbar ist eine solche von Estland bis Gibraltar, von Schottland bis Zypern reichende Öffentlichkeit schon gar nicht. Genauso wie klar ist, dass sich nationalstaatliche Identitäten nicht durch Hymne, Flagge und Feiertag zu einer europäischen Identität verschmelzen lassen, wird die europäische Öffentlichkeit auf absehbare Zeit eine aus nationalen Öffentlichkeiten zusammengesetzte sein.

Europas emergenter Kommunikationsraum

Doch bedeutet dies nicht, dass Debatten über das Gemeinwohl betreffende Themen über Sprach-, und Ländergrenzen hinweg unmöglich sind. Schließlich bestehen Öffentlichkeiten schon auf nationaler Ebene aus widersprüchlichen, heterogenen Kräftefeldern. So werden selbst multikulturelle und linguistisch segmentierte Gesellschaften wie die Schweiz, Spanien oder Kanada den normativ überfrachteten Maßstäben eines nationalstaatlichen Öffentlichkeitsverständnisses nicht gerecht – und gelten trotzdem als konsolidierte Demokratien mit wirkungsvollen Öffentlichkeiten. Nur ist der europäische Kommunikationsraum nicht als projektive Fortschreibung innerstaatlicher Öffentlichkeiten vorstellbar. Öffentlichkeit in der postnationalen Konstellation Europas konstituiert sich als Prozess der Europäisierung bestehender nationaler Kommunikationsräume, also über die transnationale Verschränkung nationaler Debatten. Weder der Fortbestand nationaler Mediensysteme noch die Mehrsprachigkeit der EU stellen demnach Hinderungsgründe für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit dar. Von einer EU-weiten Öffentlichkeit kann dieser erstmals 1996 von Jürgen Habermas entwickelten Argumentation folgend dann die Rede sein, wenn die Medien der Mitgliedsstaaten die gleichen Themen zur gleichen Zeit und unter ähnlichen Relevanzgesichtspunkten diskutieren. Voraussetzung für eine europäische Öffentlichkeit sind also weder eine lingua franca noch gemeinsame Medien, sondern europäische Themen als „relevante Gegenstände politischer Kommunikation in den lokalen, regionalen und nationalen öffentlichen Arenen“, wie es die Berliner Soziologen Klaus Eder und Cathleen Kantner formulierten.

Doch genau daran mangelt es. Der oft angemahnte europaweite und europabezogene politische Diskurs findet nur schlaglichtartig statt – etwa aus Anlass des Kosovo-Krieges, der BSE-Krise oder der Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ in Österreich. Handelt es sich nicht um ein nationale Gemüter bewegendes Problem wie die Einführung des Euro oder der blaue Briefe aus Brüssel, wird den Institutionen und Entscheidungsprozessen der EU kaum die Aufmerksamkeit zu Teil, die ihnen gebührt.

Öffentlichkeit braucht Debatte

So sind, das zeigen empirische Studien, die Institutionen und Entscheidungsprozesse der EU gemessen an ihrer stetig zunehmenden Bedeutung für den Alltag der EU-Bürger in der Berichterstattung der nationalen Medien chronisch unterrepräsentiert. Und selbst wenn sich Presse, Rundfunk und Fernsehen intensiver mit europäischen Fragen beschäftigen, geschieht dies überwiegend aus rein nationaler Perspektive. Von europäischen Bewertungen oder einer angemessenen Berücksichtigung europäischer Akteure ist die Europaberichterstattung noch weit entfernt. Die Ausnahme bilden die wenigen bereits erwähnten europäischen Medien. Eben diese verweisen auf ein weiteres Defizit, die Tatsache, dass die europäische Öffentlichkeit bislang vor allem eine Eliten- beziehungsweise Expertenöffentlichkeit ist. Keine der groß angelegten PR-Aktionen der emsigen EU-Kommunikationskommissarin Margot Wallström gelang es in den letzten Jahren, den eingeschränkten Kommunikationsraum europäischer Eliten zu überschreiten und das Interesse der nationalen Öffentlichkeiten zu gewinnen. Und so bildet sich dank des Schengener Abkommens, des Euros, des europäischen Passes sowie diverser Schüler- und Studentenaustauschprogramme in den europäischen Bürgerschaften zunehmend ein Bewusstsein für Europa, der Transfer zur EU als politischem System indes funktioniert nicht. Die Medien als zentrale politikvermittelnde Instanz kommen meist nicht über die Rolle eines Spiegels dieser gesellschaftlichen Unsicherheit mit Europa hinaus. Europapolitik, so sie keinen Skandalgehalt hat, kommt kaum vor. Als neuer Bezugsrahmen und politisches System jenseits des Nationalstaats wird die EU nicht erfasst.

Einflussmöglichkeiten schaffen

Die Frage, wie die kognitive Lücke zwischen dem Expertenwerk „Integration” und den EU-Bürgern geschlossen werden kann und wie sich die Alleinzuständigkeit politischer „Professionals“ und Eliten für Europa sprengen lässt, entzieht sich einfachen Antworten. So hat das Europäische Parlament in den vergangenen 25 Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, ohne dass damit ein Mehr an medialer Aufmerksamkeit (oder Wahlbeteiligung) einher gegangen wäre. Vor allem die Verästelungen und Verflechtungen der EU, ihre schwer durchschaubaren Entscheidungsstrukturen und das Fehlen von Kernmerkmalen innerstaatlicher Demokratie wie der Dauerstreit zwischen Regierung und Opposition erschweren eine der nationalen Politik ähnliche Mobilisierung der öffentlichen Meinung in Europa. Das Defizit an europäischer Öffentlichkeit ist demnach auch ein Reflex des vielfach konstatierten Transparenz- und Demokratiedefizits der EU. Eine europäische Öffentlichkeit wird sich aber in dem Maße entwickeln, wie die EU mit verständlichen Strukturen und Entscheidungsprozessen erkennbar, nachvollziehbar und erfahrbar wird und von den nationalen Akteuren auch als eigenständiges politisches System statt als Vehikel nationaler Interessen vermittelt wird. Denn bislang werden, begünstigt durch intransparente Zuständigkeiten und fast byzantinische Verfahren, positive Entwicklungen von den politischen Protagonisten „nationalisiert“ und zu eigenen Verdienste erklärt, während Misserfolge und Fehlentwicklungen der Kommission, „Brüssel” oder anderen Mitgliedstaaten angelastet werden.

Trotz Aufwertung des Parlaments, der Einführung eines öffentlich tagenden Rates und der Integration der Grundrechte-Charta wird der erst nach den Wahlen in Irland zur Abstimmung stehende Lissabon-Vertrag die europäischen Entscheidungsstrukturen nicht signifikant den nationalen anpassen. Dennoch würde seine Ratifizierung Besserung bringen.

Doch geht es nicht nur um Institutionen, sondern auch darum, was die EU-Akteure aus den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten machen. Solange sich Europawahlkämpfe, sofern die EU überhaupt Thema ist, nur am simplen Gegensatzpaar Pro- oder Contra EU orientieren, werden die Unterschiede „rechter“ und „linker“ Europapolitik nicht deutlich. Gegen Europa machen ein paar wenige kleinere Parteien mobil, ansonsten dominieren pro-europäische Lippenbekenntnisse und – man kann, nein, man will den Bürgern nicht zu viel zumuten – nationale Themen. Dabei hätten die großen europäischen Parteienbündnisse EVP und SPE mit etwas Mut (und auch ohne den Vertrag von Lissabon) zumindest symbolisch Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstellen können, um die wichtige Besetzung der Kommission zum Gegenstand des Wahlkampfes statt des üblichen politischen Kuhhandels zu machen. Die Herstellung einer solchen, längst überfälligen Verbindung zwischen dem europäischen Wählerwillen und der Besetzung von europäischen Schlüsselpositionen hätte den weit verbreiteten Glauben zerstreut, die Abstimmung bei den Europawahlen bliebe folgenlos und so dazu beigetragen, die programmatische Debatte über den Kurs Europas zu beflügeln.

Wirklich „europäische Parteien“, deren Fehlen im Zusammenhang mit den Wahlen immer wieder beklagt wurde, sind angesichts der bestehenden Verflechtung europäischer und nationalstaatlicher politischer Ordnungen nicht zwingend erforderlich. Europa muss sich politisieren und transparenter werden. Je größer die Transparenz desto größer der öffentliche Rechtfertigungsdruck auf die handelnden Akteure. Damit entsteht politischer Wettbewerb, der wiederum öffentliches Interesse, Medienaufmerksamkeit und Meinungsbildung generiert. Themen, über die sich trefflich streiten lässt, gibt es genug: Finanzkrise, Klimawandel, Migrationspolitik oder die Frage der (nicht vorhandenen) europäischen Sozialpolitik.

Von der Europaagonie, von der passiven Hinnahme zur aktiven Identifikation der Unionsbürger mit dem gemeinsamen Projekt Europa ist es noch ein weiter Weg. Die EU bedarf nicht der einen monolithischen Öffentlichkeit sondern einer Debattenkultur innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten. Wer weiß, dass es Alternativen gibt, wird Einfluss suchen – und so dazu beitragen, dass die Europawahlen zumindest in Zukunft zu wirklich europapolitischen Abstimmungen werden.

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.