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Vergangenheitsbewältigung im gedopten Sport

von , 5.8.13

In der Debatte über Edward Snwoden wird häufig der Mut des Whistleblowers gelobt. Er hätte allerdings den Datenschutz berücksichtigen können, nämlich das Interesse nicht nur des amerikanischen Staats am Schutz seiner ausgespähten Daten vor den Augen der Öffentlichkeit. Aber Snowden lebte nicht in Deutschland, sondern in den USA. Dort hat der Datenschutz offenkundig nicht diese besondere Wirkung, die zum Schweigen des Whistleblowers führt.

Wie der Datenschutz den potentiellen Whistleblower zum Schweigen bringt, erlebt man gerade in der Debatte über das Staatsdoping in Deutschland: allerdings in Westdeutschland und nicht in der DDR. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am Samstag über den Abschlussbericht einer vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Auftrag gegebenen Studie zum Doping in Westdeutschland, der endlich im April fertig gestellt worden ist. Ihr liegt der Bericht nach eigenen Angaben vollständig vor, wohl mit den Namen noch lebender Akteure aus der damaligen “Wie steigere ich die Wettbewerbsfähigkeit”-Debatte. Ansonsten erfährt man bekanntlich immer nur etwas von Herrn Keul aus Freiburg: Er übernimmt als toter Dopingarzt bis heute die Rolle des Sündenbocks.

Wie der Aufklärungswille potentieller Whistleblower aussieht, lässt sich gut in dem Bericht der Süddeutschen (online) über den Bericht in der Süddeutschen (Print) nachlesen. Dort heißt es:
 

“Der Abschlussbericht ist seit April 2013 fertig. Schon länger gibt es Streit über die Veröffentlichung. Ob die Studie publiziert wird, ist ungewiss. Das BISp hatte sie 2008 selbst in Auftrag gegeben – auf Initiative des Deutschen Olympischen Sportbundes. Vonseiten des BISp-Beirates wurde zunächst bemängelt, die Forscher hätten im Bericht Datenschutzrichtlinien verletzt, indem sie Namen von belasteten Ärzten und Funktionären nannten. Nach einer Überarbeitung des Textes teilte das BISp nun aber auf Anfrage mit: “Die datenschutzrechtlichen Prüfungen innerhalb des Projekts sind abgeschlossen.” Trotzdem will das Institut die Studie nicht publizieren. Das sei Sache der Wissenschaftler, heißt es. Da in dem Bericht zahlreiche noch aktive Funktionäre, Sportler, Ärzte und Politiker belastet werden, könnte es im Falle einer Veröffentlichung zu Klagen kommen. Die Wissenschaftler fordern deshalb von ihrem Auftraggeber Rechtsschutz. Dies wird vom BISp aber abgelehnt.”

 
Ob Edward Snowden heute schon mit der datenschutzrechtlichen Prüfung fertig wäre, wenn er wie ein Deutscher dächte? Immerhin geht es bei seinen Veröffentlichungen nicht um Namen “belasteter Ärzte und Funktionäre” (von Sportidolen und noch lebenden Politikern ist übrigens nicht die Rede), sondern um die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Aber was ist schon die Sicherheit der Vereinigten Staaten als Argument für den Datenschutz ausgespähter Daten?

Die Süddeutsche weiß das natürlich und nennt deshalb in ihrem Bericht Namen: Den vom Ruderer Peter-Michael Kolbe. Nur ist dieser Fall schon seit 37 Jahren bekannt, was die Süddeutsche aber schamhaft verschweigt. Das ist so, als hätte Snowden von Mordanschlägen der CIA auf Fidel Castro berichtet.

Entsprechend gibt es jetzt in der nicht mehr nur westdeutschen Presse dunkle Andeutungen über das Doping. Die Bild sorgt sich: Waren Fußballer gedopt? Die Helden von Wembley 1966?
 

“Eigentlich eine unglaubliche Vorstellung, aber offenbar bittere Realität: Sogar der Fußball, seit Jahrzehnten Volkssport Nummer eins, hat angeblich eine bittere Vergangenheit.”

 
Wahrscheinlich war es Lothar Emmerich: Er war damals im Endspiel der schlechteste Spieler auf dem Platz. Da werden die Herren Beckenbauer und Seeler sicher erleichtert sein.

Nun haben Kollegen wie Jens Weinreich oder Daniel Drepper in tatsächlich mühseliger Kleinarbeit seit Jahren zu dem Thema gearbeitet. Vor allem Weinreich hat die Folgen zu spüren bekommen, etwa beim Deutschlandfunk. Beide haben sich bei diesem Thema journalistische Verdienste erworben.

Andere könnten von ihnen lernen. Denn was berichtet Spiegel Online am Samstagmorgen in seinem Bericht über den Bericht der Süddeutschen (Print)?
 

“Die deutsche Politik soll Doping nicht nur toleriert, sondern dessen gezielten Einsatz gefordert haben. Der Grund: Sportlicher Ruhm für die Bundesrepublik. In der Studie wird demnach ein Wortwechsel zwischen einem BISp-Funktionär und einem für Sport zuständigen Regierungsmitglied zitiert: “‘Von Ihnen als Sportmediziner will ich nur eins: Medaillen in München’ [Austragungsort der Olympischen Spiele 1972, Anm. d. Red.]. Da habe ich gesagt: ‘Herr Minister: Ein Jahr vorher? Wie sollen wir da noch an Medaillen kommen?’ ‘Das ist mir egal.’” Um die Forderung zu erfüllen, griff das BISp offenbar auf illegale Stoffe zurück.”

 
Wer war wohl zu der Zeit das für den “Sport zuständige Regierungsmitglied”? Es gab nämlich nur einen Sportminister, wie es auch nur einen Verteidigungsminister gab, der sich zwar für den besseren Kanzler gehalten hat, ohne aber deshalb zu der Zeit schon Kanzler sein zu können. Das schaffte nicht einmal Helmut Schmidt.

Der hieß doch nicht Hans-Dietrich Genscher?

Angesichts solcher Whistleblowing-Künste von Spiegel online wird Snowden wohl vor Neid erblassen. Er säße dann nämlich immer noch auf Hawaii, wenn er so dächte. Diese Form der Berichterstattung ist zwar lächerlich, aber dem hegelianischen Denken in der Datenschutzdebatte geschuldet. Man muss das große Ganze und den Sinn dieser westdeutschen Peinlichkeit reflektieren.

Schließlich gilt es offenkundig zwei Dinge zu berücksichtigen: Zum einen wird jetzt die Verlogenheit deutlich, wie die Westdeutschen (Politiker, Sportfunktionäre, Journalisten) die Debatte über das Staatsdoping der DDR ab 1990 betrieben hatten. Viele kannten mit Sicherheit die Zustände im eigenen Land und schwangen sich gleichwohl zum Richter über die DDR auf. Was die Toleranz gegenüber vorbelasteten Trainern und Funktionären keineswegs aussschloß. An der “Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Sports” hatte man bekanntlich weiterhin Interesse. So begab man sich auf die Suche nach den beliebten Sündenbocken, die man vor allem bei hohen SED-Funktionären fand.

Zum anderen aber zeigt es die deutsche Form einer Vergangenheitsbewältigung, die nichts Besseres zu tun hat, als historische Ereignisse mit Hilfe der Justiz rückgängig machen zu wollen. Das kommt etwa in diesem Appell deutscher Sportmediziner zum Ausdruck, der schon 2011 auf die genannte Studie reagierte – und den Ausschluß jedes Sportmediziners aus der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin verlangte, der vor Jahrzehnten das machte, was offenkundig die meisten nicht nur in der DDR machten: Hilfestellung beim Doping zu geben.
 

“Wir vertreten die selbstverständliche Position, dass ein nachgewiesener Verstoß gegen die Anti-Dopingbestimmungen (WADA-Code) von Ärzten, medizinischem Hilfspersonal, Trainern und Funktionären nicht mit einer weiteren Tätigkeit im Leistungs- und Spitzensport und, wenn es sich um Ärzte handelt, auch nicht mit einer Mitgliedschaft in der DGSP vereinbar ist.”

 
Wir waren immer unschuldig und haben mit den Umtrieben einiger Weniger (“Keul”!) nichts zu tun. Das ist der Sinn solcher Appelle. Es geht also nicht darum, etwas aufzuklären, sondern der eigenen Institution den Zustand der Jungfräulichkeit zu erhalten, selbst wenn davon nicht mehr ernsthaft die Rede sein kann. Und das macht die Debatte über das westdeutsche Doping so verlogen: Der moralische Pathos, der darin besteht, sich immer und für alle Zeit für “unschuldig” halten zu wollen.

Das ist der Sinn der juristischen Keulen, die gegen alle Leute geschwungen werden, die das in Frage stellen. Deshalb wird die Datenschutz-Debatte über die Doping-Beihilfe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft zu der Farce, die wir gerade erleben. Man muss erst einen Sündenbock finden, der die Unschuld aller Anderen sicherstellt.

Es hat sich offenkundig an der Nachkriegsmentalität der Deutschen nichts geändert. Das ist wohl die Erkenntnis – und Edward Snowden zum Glück kein Deutscher.
 
Crosspost von Wiesaussieht
 

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