#Bundesverfassungsgericht

Wahlcomputer-Urteil: Online-Wahlen rücken damit in weite Ferne

von , 9.3.09


Die Bundesverfassungsrichter haben am vergangenen Dienstag über die Ver­wen­dung elektronischer Wahlgeräte geurteilt. Der Ausgang des Verfahrens hat wenig über­rascht: Der Einsatz der Wahlcomputer der niederländischen Firma Nedap bei der Bundestagswahl 2005 war verfassungswidrig. Das Gericht gab damit den Kla­gen eines Politikwissenschaftlers und eines Informatikers Recht. In der Be­grün­dung heißt es, die ein­gesetzten Wahlcomputer hätten nicht dem Grundsatz der Öf­fent­lichkeit der Wahl entsprochen, den das Grund­ge­setz for­dere. Al­lerdings er­klär­ten die Richter den Einsatz von Wahl­technik nicht grund­sätz­lich für ver­fas­sungs­wid­rig: Sofern für Wähler eine Kon­troll­mög­lich­keit ­bestehe, sei der Einsatz elek­tro­nischer Wahlgeräte ebenso wie die Durchführung von Internetwahlen weiter­hin zulässig.

Die Nedap-Wahlcomputer vom Typ ESD1 und ESD2 sind am vergangenen Diens­tag in die Ge­schichte der Wahltechnik in Deutschland ein­ge­gan­gen. Damit ist ihnen das­selbe Schicksal widerfahren wie den verschiedenen seit den 1960er Jahren ent­wi­ckelten Mo­dellen me­cha­ni­scher Wahl­ge­räte.

Dem Urteil vorausgegangen waren die Klagen eines Informatikers und eines Po­li­tik­wis­senschaftlers. Ulrich und Joachim Wiesner hatten beanstandet, dass die Verwendung elek­tro­ni­scher Wahl­ge­rä­te gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ver­stoße, da we­der Wähler noch Wahlhelfer überprüfen könnten, ob die Stimmen tatsächlich und un­verändert re­gis­triert werden. Zudem sei es der Öffentlichkeit nicht mehr möglich, die Auszählung der Stimmen zu kontrollieren.

Die Ver­fas­sungs­richter hat­ten den Ein­satz elektronischer Wahlgeräte da­her ins­be­son­de­re am Maß­stab der Öf­fentlichkeit der Wahl zu prüfen. Im Urteil halten sie dazu grundsätzlich fest: „Jeder Bür­ger muss die zen­tra­len Schritte der Wahl oh­ne be­son­de­re tech­ni­sche Vor­kennt­nis­se zuverlässig nach­voll­zie­hen und ver­ste­hen kön­nen.“ Wei­ter heißt es: „Ein Wahl­ver­fah­ren, in dem der Wäh­ler nicht zuverlässig nach­voll­zie­hen kann, ob seine Stimme un­verfälscht erfasst und in die Ermittlung des Wahl­er­geb­nis­ses ein­be­zogen wird […] schließt zentrale Ver­fahrensbestandteile der Wahl von der öffentli­chen Kontrolle aus und genügt da­her nicht den verfas­sungs­recht­li­chen An­for­de­run­gen.“ Der Einsatz elek­tronischer Wahl­ge­räte ist folglich nur un­ter sehr engen Vo­rausset­zun­gen mit dem Grund­gesetz ver­ein­bar. Schließlich müs­sen die we­sent­li­chen Schrit­te von Wahl­hand­lung und Er­geb­nis­ermittlung auch in die­sem Fall zu­ver­läs­sig und ohne besondere Sach­kenntnis überprüft werden kön­nen. Im Ur­teil heißt es da­zu im Wortlaut: „Der Wäh­ler selbst muss – auch ohne nä­he­re com­pu­ter­tech­nische Kennt­nisse – nachvollziehen kön­nen, ob sei­ne abgegebene Stim­me als Grund­lage für die Auszählung oder – wenn die Stim­men zu­nächst tech­nisch un­ter­stützt ausgezählt werden – jedenfalls als Grund­la­ge ei­ner spä­teren Nach­zäh­lung un­ver­fälscht erfasst wird.“ Folglich, und das ist der entscheidende Punkt des Urteils, dür­f­en die Stim­men nach der Stimm­ab­ga­be nicht aus­schließ­lich auf einem elek­tro­ni­schen Spei­cher ab­gelegt wer­den.

Die Bun­des­wahl­gerätever­ord­nung, die die Nutzung der derzeit üblichen elek­tro­ni­schen Wahl­ge­rä­te ohne zuverlässige Kon­trollmöglichkeit für den Wähler er­laubt, er­klär­ten die Rich­ter daher für verfassungs­wid­rig: Die Ver­ord­nung sei mit Artikel 38 GG in Ver­bin­dung mit Ar­tikel 20 Ab­satz 1 und 2 GG insoweit un­vereinbar, „als sie kei­ne dem ver­fas­sungs­recht­lichen Grund­satz der Öffentlichkeit der Wahl ent­spre­chen­de Kon­trolle si­cher­stel­lt“. In Be­zug auf die elektronischen Wahl­ge­räte der Fir­ma Ne­dap heißt es im Urteil: „Die Verwendung der elek­tro­ni­schen Wahl­ge­rä­te der N.V. Ne­der­land­sche Appa­ra­ten­fa­briek (Nedap) […] war mit Ar­tikel 38 in Ver­bin­dung mit Ar­tikel 20 Absatz 1 und Ab­satz 2 des Grundgesetzes nicht vereinbar.“

Paragraph 35 des Bundeswahlgesetzes, der Wahl­ge­räte grundsätzlich zulässt, bleibt hingegen in Kraft. Hiermit stellten die Richter klar, dass das Urteil kei­nes­falls mit einem grundsätzlichen Ver­bot elektronischer Wahl­ge­räte bzw. einem Ver­bot des Ein­sat­zes von Wahltechnik im Allgemeinen gleich­zu­set­zen ist. Im Urteil heißt es: „Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, bei den Wah­len elektronische Wahl­geräte ein­zu­setzen, wenn die verfassungsrechtlich ge­bo­te­ne Möglichkeit einer zu­verlässigen Rich­tigkeitskontrolle gesichert ist.“

Drei Modelle halten die Richter für denk­bar: Erstens Geräte, die „zu­sätz­lich zur elek­tro­ni­schen Er­fas­sung der Stimme ein für den jeweiligen Wähler sicht­bares Pa­pier­pro­to­koll der ab­ge­gebenen Stimme aus­dru­cken, das vor der end­gül­ti­gen Stimm­ab­gabe kon­trolliert wer­den kann und an­schlie­ßend zur Ermöglichung der Nach­prü­fung ge­sam­melt wird“. Diese Variante entspricht der in den USA von vielen Or­ga­ni­sa­tionen ge­for­der­ten und in zahlreichen US-Bun­des­staaten bereits um­ge­setzten Aus­stat­tung elektronischer Wahlgeräte mit „voter ve­rified pa­per audit trail printers“. Die­se Drucker erstellen einen Pa­pier­nach­weis, der Wäh­lern die Möglichkeit eröffnet, vor Stim­menzählung und -spei­che­rung durch den Com­puter, einen Abgleich zwi­schen Pa­pierausdruck und Ge­rä­te­an­zeige vorzunehmen.

Als zweite Mög­lichkeit nennen die Richter den Ein­satz von Stimm­zet­tel-Scan­nern, mit denen die getroffenen Wahl­ent­schei­dun­gen nach­träg­lich elek­tro­nisch er­fasst wer­den können. Auch dieses Modell ist in den USA bereits weit ver­brei­tet. Nach den Un­regelmäßigkeiten bei der Nutzung von Loch­kar­ten­sys­te­men bei der US-Prä­si­dent­schafts­wahl im Jahr 2000 lag der prozentuale Anteil der Ver­wendung von Stimm­zet­tel-Scannern bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 bei 49,9%.

Drittes Mo­dell ist der Einsatz von Sys­te­men, bei de­nen Wähler die Stimm­zet­tel wie gewohnt kenn­zeichnen, dies aber mit einem elek­tronischen Stift tun, der die ge­trof­fene Wahl­ent­scheidung gleich­zei­tig elek­tro­nisch erfasst. Dass die Rich­ter das Mo­dell des „digitalen Wahlstiftes“ als Bei­spiel für eine ver­fas­sungs­ge­mäße Aus­ge­stal­tung der Ver­wen­dung von Wahl­tech­nik ansehen, über­rascht. Schließ­lich planten die Verantwortlichen der Stadt Ham­burg, einen ebensolchen „Wahl­stift“ bei der Bür­ger­schafts­wahl im Fe­bru­ar 2008 einzusetzen. Der Chaos Com­puter Club de­mon­strier­te damals, wie Wahlfälscher den Wahlvorgang ma­nipulieren könn­ten. Eine An­hö­rung von Fachleuten im Ver­fas­sungs­­aus­schuss der Hamburger Bürgerschaft am 09. No­vember 2007, in der deut­li­che Vorbehalte gegen die Sicherheit des Wahlstifts ge­äu­ßert wurden, brachte damals die Entscheidung, den „di­gitalen Wahlstift“ nicht ein­zusetzen. Auch die Durchführung eines bis dato geplanten Feld­ver­suches war end­gül­tig vom Tisch. Ei­n erneuter Anlauf im Jahr 2012 wurde als nicht realistisch ange­se­hen. Zum Zeitpunkt der Absage waren bereits große Summen in das System in­ves­tiert worden: Neben 12.000 Wahl­stiften für rund 2,4 Mil­li­o­nen Eu­ro hatte die Stadt Ham­burg bereits Note­books und weiteres Zu­behör für rund 2,1 Mil­li­o­nen Eu­ro ge­kauft. Nach dem Urteil ist klar: Aus verfassungsrechtlicher Sicht hätte dem Einsatz des „digitalen Wahlstiftes“ nichts im Wege gestanden (mehr hier).

Da die Verfassungsrichter die bestehende Bundeswahlgeräteverordnung für ver­fas­sungs­widrig erklärt haben, liegt es nun in der Hand des Bundesinnenministeriums, die Wahl­ge­rä­te­ver­ord­nung zu novellieren. Die Neufassung muss sowohl die wirk­sa­me Kon­trolle der Wahlhandlung als auch die zu­verlässige Nach­prüf­bar­keit des Wahl­er­geb­nisses gewährleisten. Da die Verfassungsrichter selbst bereits Modelle auf­ge­zeigt ha­ben, die den verfassungsrechtlichen An­for­de­rungen gerecht wür­den, ist an­zu­neh­men, dass elektronische Wahlgeräte in Deutschland ei­ne Zu­kunft haben wer­den. Es ist allerdings zu hinterfragen, in wie weit die Verwendung elektronischer Wahl­ge­rä­te noch ökonomisch sinnvoll ist, wenn theoretisch jeder Wähler die Nachzählung der Pa­pier­stimmen verlangen kann.

Der Vi­ze­prä­si­dent des Bundesverfassungsgerichtes ver­wies ausdrücklich da­rauf, dass das Ge­richt auch Online-Wah­len keinen end­gültigen Rie­gel vor­ge­scho­ben ha­be. Al­ler­dings dürfte deren Implementation im Rah­men der Grund­satz­ent­schei­dung nur sehr schwer zu verwirklichen sein. Ins­be­son­dere die Si­cher­stel­lung der ver­fas­sungs­recht­lich gebotenen Möglichkeit einer zu­ver­läs­si­gen Richtig­keits­kon­trol­le des Wahl­er­geb­nis­ses stellt sich als Problem dar: Die Pa­pier­pro­to­kol­le müss­ten hier­für am hei­mi­schen PC ausgedruckt werden und dann zu ei­ner zen­tra­len Stel­le ge­lan­gen. Ne­ben dem Zeit- und Kostenaufwand, der hier­mit verbunden wäre, wür­de die­ses Ver­fah­ren ins­besondere die Einhaltung der Wahl­rechtsgrundsätze ge­fäh­rden. Die Im­ple­men­ta­ti­on von On­line-Wahlen in Deutsch­land ist durch das Grund­satz­ur­teil folg­lich in wei­te Fer­ne ge­rückt.

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