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“Rechtschreibkatastrophe” · Die Journalismus-Katastrophe

von , 20.6.13

Fängt das Sommerloch dieses Jahr schon Mitte Juni an, oder stehen wir tatsächlich vor den Trümmern einer gebildeten Nation? Und wenn ja, wer ist diesmal schuld? Das Internet, die Migranten, oder die allgegenwärtigen Gutmenschen?

Es sind ja immer mindestens zwei Dinge, die an so einem Artikel falsch sein können. Nämlich zum ersten die Behauptung einer Tatsache an sich (in diesem Fall die Rechtschreibkatastrophe), und zum zweiten die diagnostizierte Ursache.

Deshalb soll dieser Post zwei Fragen klären: Gibt es tatsächlich eine Rechtschreibkatastrophe? Und wenn ja, wer ist schuld daran? Die Antworten werden nicht ganz einfach ausfallen, denn wie man es vom SPIEGEL gewohnt ist, werden viele Halb- und Viertelwahrheiten mit einigen echten Fakten und einigem puren Unsinn vermischt präsentiert.

Woran wird die Feststellung, Deutschlands Kinder und Jugendliche könnten nicht mehr oder kaum noch “vernünftig” schreiben, eigentlich festgemacht?

Es beginnt mit einer Aufzählung einiger zufällig zusammengesuchter Rechtschreibsünden von Grundschülern, die voller empörter Verzweiflung präsentiert werden: “dad Kind” schrieb beispielsweise ein Ruhrpott-Schüler. Das schiere Entsetzen, das die SPIEGEL-Autorinnen an dieser Stelle packt, kann ich zwar nicht so teilen, aber natürlich entspricht dies nicht der deutschen Orthografie. Und diese zu beherrschen, hat sowohl in unserem Schulsystem als auch in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert.

Insofern muss man sich fragen, ob hier wirklich ein Problem vorliegt. Dazu werden Studien und Experten zitiert: Renate Valtin, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Gerd Schulte-Körne, Jugendpsychiater und Legasthenie-Experte, Henning Scheich, Hirnforscher, Günther Thomé, Sprachwissenschaftler. Nach deren Aussage gibt es weit verbreitete und schwerwiegende Schwierigkeiten. Ob es sich um eine Katastrophe handelt, sei mal dahingestellt, aber Schwierigkeiten sind Schwierigkeiten. Ein paar kritische Anmerkungen zu der Diagnose sind aber doch angebracht:

Zuerst einmal trifft vieles von dem, was über mangelhafte Rechtschreibung gesagt wird, auch auf andere Kenntnisbereiche zu. Vor allem die Tatsache, dass der Bildungshintergrund in Deutschland entscheidend für den Schulerfolg ist, gilt für den Erfolg insgesamt, keineswegs nur für den Schriftspracherwerb (auch wenn dieser einen großen Teil davon ausmacht). Insofern müsste man korrekterweise von einer Bildungskatastrophe sprechen – und dann wäre auch klar, dass diese nicht an bestimmten Lehrinhalten und deren Vermittlung hängt.

Konzentriert man sich auf Rechtschreibung, so ist die Studie des Siegener Germanisten Wolfgang Steinig sicher am interessantesten. Scheint diese doch zu zeigen, dass es seit 40 Jahren bergab geht – zumindest in der SPIEGEL-Rezeption. Steinig verglich die schriftlichen Nacherzählungen eines kurzen Films von Schülern in den Jahren 1972, 2002 und 2012 und konstatiert eine stetig ansteigende Fehlerquote.

Allerdings ist diese Studie meines Erachtens etwas zurückhaltender zu interpretieren, als es medial üblicherweise getan wird. Das auffälligste Ergebnis neben dem Ansteigen der Fehlerzahl pro 100 Wörter ist nämlich die Tatsache, dass die heutigen Schüler/innen viel längere Texte schreiben. Unerheblich, könnte man denken, denn es wurde ja eine FehlerQUOTE angegeben, keine Fehlerzahl pro Text. Diese Quote bezieht sich jedoch auf jeweils 100 Wörter laufenden Text (sogenannte Token). Es ist aber klar, dass in einem längeren Text auch mehr unterschiedliche Wörter (sogenannte Types bzw. Typen) vorkommen, dass also die Chance, ein unbekanntes Wort falsch zu schreiben, deutlich höher ist. Eigentlich müsste man also zumindest die Fehlerzahl pro Typ, nicht pro Token, bestimmen, wollte man eine verlässliche Aussage zu einer Verschlechterung der Rechtschreibkenntnisse machen.

Und selbst dann wäre die Frage, ob die konservativ-ängstliche Schreibtaktik, nur zu schreiben, was man auch mit Sicherheit richtig schreibt, gegenüber der kreativ-gewagten, alles das zu schreiben, was man für wichtig hält, zu bevorzugen ist. Denn die Aufgabe “Filmbeschreibung” ist deutlich komplexer als die Produktion eines fehlerfreien Textes. Es wäre also in jedem Fall lohnenswert zu beachten, inwiefern die Strukturierung der beschriebenen Ereignisse gelungen ist, welche Informationen wiedergegeben wurden, ob Kausalitäten und Zusammenhänge versprachlicht wurden, wie Perspektiven und Zeitformen gewählt wurden usw.

Das sind keinesfalls nur nebensächliche Aspekte einer Textproduktion: Was gesagt bzw. geschrieben wird, ist ebenso wichtig wie die Frage, ob das Gesagte in korrekter orthografischer Form zu Papier gebracht wurde. Und genau das sagt Wolfgang Steinig selbst an anderer Stelle:
 

Die Ergebnisse zeigen, dass sich generell keine Entwicklung zu defizitären Texten (‘Sprachverfall’) beobachten lässt. Stattdessen ergibt sich ein differenziertes Bild schriftsprachlichen Wandels mit erfreulichen und weniger erfreulichen Tendenzen. Während beispielsweise für die Bereiche Wortschatz und Textgestaltung beachtliche Verbesserungen erzielt werden konnten, finden sich in den neueren Texten beinahe doppelt so viele Rechtschreibfehler.

 
Die positiven Aspekte der Veränderung werden aber im SPIEGEL komplett unter den Tisch fallen gelassen.

Der in der Studie entdeckte Unterschied in der Länge der produzierten Texte als auch die Fehlerquote weisen auf eine wichtige Veränderung in den Lehrmethoden hin – nämlich auf die inzwischen weit verbreitete Schulpraxis, Kinder ungeachtet orthografischer Kenntnisse frühzeitig zum Schreiben zu ermutigen, auch wenn das in den ersten Monaten zu Sätzen wie “ich wa fuspal spiln” führt – eben solchen Erzeugnissen, an denen sich die SPIEGEL-Autorinnen so stören.

Es gab seit den siebziger Jahren eine Entwicklung im Schreibunterricht, die der Tatsache Rechnung trägt, dass das Erlernen von Schriftsprache mehr ist als eine Kombination aus Schönschrift und Rechtschreibung – denn diese beiden Dinge ergeben im schlechtesten Fall nur sorgfältig gemalte, vorgegebene oder auswendig gelernte Schriftsprachbrocken.

Texte zu verfassen, erfordert mehr – ein Gespür für Register, typisch schriftsprachliche Satz- und Textstrukturen, Zeitformen und Verknüpfungen. Das kann nur gelehrt werden, indem Kinder frühzeitig selbst Texte schreiben – nicht nur stereotype Aufsätze oder Diktate mit vorher auswendig gelernten Wörtern. Dadurch verzögert sich die Entwicklung einer normgerechten Orthografie – aber in der Zeit werden dafür Dinge gelernt, die früher überhaupt nicht Teil der Grundschulausbildung waren. Dass die Ausbildung einer korrekten Rechtschreibung in vielen Fällen auch später nicht erfolgt, liegt an verschiedenen Problemen, aber nicht vorrangig an diesem.

Doch leider wird bei der Ursachenforschung des SPIEGELs alles komplett durcheinander geworfen. Zwar musste ich erleichtert feststellen, dass trotz eines kleinen Seitenhiebs weder das Internet und die SMS, noch die Kinder mit Migrationshintergrund und deren Migranteneltern schuld sind. Denn es sind dieses Mal nur die fehlgeleiteten Gutmenschen, die die Verantwortung tragen. Allein der Reformpädagoge Reichen sei schuld an dem ganzen Unsinn, der sich “wie ein Virus” in ganz Deutschland verbreitet habe, er sei der letztlich Alleinverantwortliche für die seit Jahrzehnten an deutschen Grundschulen durchgeführten “Menschenversuche”, kurz: Er habe Deutschland an den Rand des Rechtschreibabgrunds geführt.

Nun steht Reichen für eine Idee, die linguistisch als eindeutig falsch bewertet werden muss, nämlich der Gedanke, dass sich Kinder mittels einer Anlauttabelle die Schreibung aller möglichen Wörter selbst erarbeiten könnten.

Diese Anlauttabelle als Grundlage des Schreibunterrichts hat einige offensichtliche Probleme: Erstens suggeriert sie, dass einem Phonem (einem “Laut”) im Deutschen so gut wie immer auch ein Graphem (ein “Buchstabe” bzw. eine Buchstabenkombination) zugeordnet werden kann. Das ist keineswegs so. Für bestimmte Laute gibt es mehrere verschiedene Grapheme. So kann der stimmlose velare Plosiv mit “k” (“Käse”), “c” (“Computer”), “ck” (“Hacke”) und “ch” (“Echse”) verschriftlicht werden.

Manche Grapheme wiederum müssen für das Schreiben verschiedener Laute herhalten, so z.B. das “e”, das für eine Reihe von Lauten stehen kann: Den Anlaut von “Esel” ebenso wie dem von “Essen” (“langes” und “kurzes” e) oder dem letzten Laut in “Tasse” (ein sogenanntes Schwa). Teilweise korrespondiert das “e” nicht einmal mit einem echten “Laut”, sondern markiert lediglich, dass es sich um einen Silbenkern handelt, wie z.B. in “holen”, wo die zweite Silbe im Prinzip keinen hörbaren Vokal enthält. Diese Dinge müssten Kinder (und Lehrer) wissen, können das aber durch eine Anlauttabelle keinesfalls lernen.

Das zweite Problem ist, dass bestimmte Laute nicht am Anfang eines deutschen Wortes stehen können: Das schon genannte Schwa zum Beispiel, aber auch der stimmlose alveolare Frikativ, der üblicherweise mit “s” kodiert wird – dieser kommt nur in Wörtern nichtdeutscher Herkunft (z.B. Sex oder Surfen) an dieser Position vor. Auch das kann eine Anlauttabelle nicht abbilden.

Das dritte Problem hat mit dem zweiten zu tun, nämlich dass einige Grapheme je nach Position im Wort unterschiedlichen Lauten entsprechen bzw. dass sich Laute je nach Position im Wort systematisch verändern. So ist in dem Wort “Hund” kein stimmhafter Laut “d” zu hören – das liegt an der sogenannten Auslautverhärtung im Deutschen. Auch hier stößt die Schreibung nach Anlauttabelle an ihre Grenzen, denn danach müsste man natürlich “Hunt” schreiben. Insofern ist dem Artikel und den zu dieser speziellen Frage zitierten Experten Recht zu geben: Die Methode ist problematisch – und zwar aus denselben Gründen, aus denen auch Methoden, die ausschließlich auf Fibeln setzen, problematisch sind, die der SPIEGEL als die simple Lösung des Problems präsentiert.

Aber im SPIEGEL wird auch nicht vorrangig der sprachwissenschaftliche Gehalt dieser Lehrmethode kritisiert oder etwa die vielen anderen existierenden und bereits im Schulalltag angewendeten Schreiblehrkonzepte evaluiert, wie es z.B. die Linguistinnen Ursula Bredel, Nanna Fuhrhop und Christina Noack in ihrem fundierten und gleichzeitig recht einfach zu lesenden Buch “Wie Kinder lesen und schreiben lernen” tun.

Stattdessen wird ein Rundumschlag gegen alles als reformpädagogisch Gebrandmarkte geführt. So wird sich über die Idee, Kinder sollten ermutigt werden, zuerst lieber fehlerhaft als gar nicht selbständig zu schreiben, genauso lustig gemacht, wie über die Praxis, Kinder eher für Gelungenes zu loben als für Misslungenes zu tadeln. Aus Sicht der SPIEGEL-Autorinnen ist das alles Wischiwaschi-Softiepädagogik, ganz im Gegensatz zur goldenen alten Zeit, als die Kinder noch gefälligst “Weihnachten” und “Geburtstag” korrekt zu schreiben hatten.

Als Gegenmodell wird die freundlich-gestrenge Frau Michel eingeführt, die ihre Schüler von Anfang an zu korrekter Orthographie führt – mit Methoden wie diesen: Als ein Schüler den Satz “Sophie sah einen riesen” schreibt, fragt sie: “Überleg mal: Kannst du einen Riesen anfassen?” – woraufhin der Schüler den “riesen” selbständig zu einem “Riesen” macht.

Wow – “kannst du einen Riesen anfassen?” Wenn solche Weisheiten den Zerfall der Rechtschreibnation verhindern sollen, dann könnte meinetwegen auch alles so bleiben, wie es ist. Viel schlimmer kann es aus sprachwissenschaftlicher Sicht nämlich kaum noch werden. Man wünscht sich, der Schüler hätte korrekterweise geantwortet, dass man einen Riesen nicht anfassen könne, da es keine Riesen gebe. Und dass er konsequenterweise sofort auch Wörter wie Universum, Atom, sowie Unwissenheit und Halbbildung klein schriebe.

An dieser Stelle spätestens wird deutlich, wogegen der Artikel eigentlich wettert: Nicht gegen sprachwissenschaftliche Unkenntnis, gegen das Fehlen eines fundierten Wissens über die Schriftsprache und deren Erwerb, gegen das Lehren nach dem Prinzip: “Ich kann es selbst, also kann ich es auch beibringen” – alles Dinge, gegen die es sich meiner Ansicht nach zu wettern lohnen würde.

Sondern es geht vor allem gegen eine bestimmte Art, mit Kindern umzugehen, nämlich respektvoll statt autoritär, ermutigend statt bestrafend, kreativ statt normativ. Man kann sich durchaus darüber streiten, ob und wie weit dieses pädagogische Konzept trägt, aber schlechte Rechtschreibung hat damit nicht viel zu tun – wenn man den Kindern falsche Dinge beibringt, lernen sie eben falsche Dinge, egal, ob sie das nun in autoritärer oder sanfter Atmosphäre tun. Tatsächlich wäre mir dann letzteres lieber, denn wenigstens wird den Kindern zusätzlich zu irreführenden Regeln nicht auch noch Angst und Schrecken vor der Schule und den Lehrinhalten eingejagt.

Aber der Glaube an die gute alte Zeit sitzt nun einmal tief. Nur mit Härte und Strenge erzielt man Bildungserfolge, oder? Kinder müssen gezwungen werden! Und stures Einpauken hat den SPIEGEL-Autorinnen doch auch nicht geschadet? Ich bin mir da nicht so sicher. Ich wünsche mir bald einen Artikel zur “Journalismus-Katastrophe: Warum unsere Journalisten zwar orthografisch korrekt, aber inhaltlich falsch schreiben”.
 

Weiterführende Literatur:

Ursula Bredel, Nanna Fuhrhop, Christina Noack (2011): Wie Kinder lesen und schreiben lernen. Tübingen: Francke.

 
Crosspost von Dr. Mutti

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