#Angst

Krise als Versprechen

von , 1.9.12

Sechzehn Autoren aus den Euro-Ländern berichten über die Lage in ihren Ländern, über Einstellungen, das Verhältnis zu den politischen Lagern, geben Echo auf die deutsche Kakophonie (“Pardon wird nicht gegeben!”) – oder äußern naheliegende und deshalb um so unwahrscheinlichere Hoffnungen.

Den Auftakt macht der griechische Autor Yanis Makridakis. Er lebt auf der Insel Chios, einer Insel, deren Bewohner im Laufe der 5000 Jahre ihrer Geschichte von manchen Gräueln erzählen können, zum Beispiel von den osmanischen Massakern von 1822, die dieses berühmte Bild von Eugène Delacroix zeigt.

 

Datei:Eugène Delacroix - Le Massacre de Scio.jpg

 

Makridakis schreibt, die Mehrheit der Griechen freue sich auf irgendeine Art von Ende, um von neuem anfangen zu können. So lange aber diese Krise nicht als eine politische Krise verstanden wird, so lange scheint die Aussicht auf einen neuen Anfang verwegen. Denn eine Politik nach Maßgabe der schwäbischen Hausfrau lässt genau das nicht zu, worauf Makridakis setzt: kleinteilig, dezentral, mit Respekt vor der Natur, den Menschen und der Einzigartigkeit eines jeden Ortes neu anzufangen. Er setzt auf neue Ziele, ohne die es keinen Grund gebe, Europa zu behalten. Makridakis sieht auf dem kleinen Photo in der FAZ aus wie ein als Hippie wiedergeborener griechischer Gott. Seine Ideen sprechen dafür, dass er an einer Chronik in Nachfolge der Filme von Theo Angelopoulos schreibt, von der Hoffnung auf den neuen Anfang und von der nicht vergehenden Schuld eines eisernen endlosen Siechtums.

Der slowakische Autor Marek Mittaš klingt skeptisch, beschreibt ein Bild der deutschen Kanzlerin, das erstaunt, käme es nicht aus einer Gegend, deren Topographie an die kalten Hochebenen der Schwäbischen Alb erinnert. An Armut gewöhnt, das Überleben schon immer improvisierend, ist das Bild der großen Mutter, das Mittaš von Angela Merkel zeichnet, ein sich selbst verzehrendes Bild. Was die “wirklich wichtigen Dinge” sind, auf die wir uns konzentrieren sollen, lässt er offen. Man mag mit seiner Idee, dass wir in einer moralischen Krise leben, einverstanden sein, wenn denn die Koordinaten der Moral sichtbarer würden. Im Unterschied zu Makridakis klingt seine Prognose realistisch, dass die Krise uns für Generationen im Griff halten wird. Die Idee permanenten Wachstums hält er für einen Irrweg.

Der Finne Mikko Pohjola sieht aus wie ein Leningrad Cowboy, der sich in einen Piraten verwandelt. In Nachfolge von Roland Barthes versenkt er sich in die Mythen des finnischen Alltags, sieht den Sündenfall im Basel II-Abkommen, in der Hybris und dem Stolz auf ein AAA-Rating, im Hochmut vor dem Fall. Er vergleicht die bereitwillige Unterwerfung unter die Ratings der Rate-Agenturen mit der Idee, die Doping-Tests der Olympischen Spiele den Herstellern der Dopingmittel zu übertragen. In sein Bild der Hybris mischen sich Verwunderung und Wut darüber, dass der parlamentarische Entschließungsantrag zum spanischen Rettungsschirm mit einer falsch übersetzten Einleitung begann – und nicht einmal die Regierung in der Lage war, den Fehler zu erkennen. Der Glaube an die Meritokratie der finnischen Politik und Gesellschaft schwindet – und Pohjola findet das als Autor künstlerisch inspirierend. Für unsere Epoche, schießt mir gerade durch den Kopf, ist Sisyphos nicht glücklich, auch nicht unglücklich, sondern setzt auf eine kleine Einzelgewerkschaft und Nachtzuschläge fürs Felsenrollen.

Pohjola sieht Parallelen zwischen der deutschen und finnischen Politik, glaubt nicht an ihre vorgebliche Alternativlosigkeit, schon gar nicht an die Abtretung von Souveränitätsrechten an Brüssel. Als Autor hat er sich einen Namen mit Wortspielen und Witz gemacht. Er schließt seinen Beitrag in der Tradition des Briefromans des Marquis de Sade, an den ich hier kürzlich erinnerte, und sieht an die Stelle der heutigen EU eine mediterrane und eine baltische Union treten – nicht die Kontinentalmasse, sondern die Seewege verbinden.

Der belgische Autor François Emmanuel berichtet, dass die akute Krise Belgien davor bewahrt habe, ein gescheiterter Staat zu werden, der Druck der Krise habe regionalpolitische Egoismen relativiert, die belgische Nation mit ihren drei Nationalitäten wieder enger zusammengeführt, wenngleich die Vorzeichen der aktuellen Krise kaum verdecken, dass die Fortsetzung unserer Lebensweise eine tiefgreifendere Krise heraufbeschwöre, ja dass die eine Krise, die Wachstum und Schulden perpetuiere, die andere der Grundlagen unseres Lebens maßgeblich verursacht habe. Wie weit können oder müssen wir uns biegen, bis der Bogen bricht bzw. ein alternativer Pfad in Sicht gelange? Aus Emmanuel spricht eine gewitzte melancholische Skepsis, kein Wunder, dass sein zuletzt bei Kunstmann veröffentlichter Roman den Titel “Der melancholische Mörder” trägt.

Ramsey Nasr, der niederländische Autor mit palästinensischem Namen, ist Dichter des Vaterlands, ein Titel, der dem britischen poet laureate gleicht. Ihm steht das Recht zu, über seine Heimat in gebundener und ungebundener Rede zu denken, erinnert an Spinoza, zweifelt an der Idee der Freiheit, deren Voraussetzungen im Vollzug unserer Lebensweise außer Sicht gelangt seien: Wir seien Sklaven unserer Freiheit geworden. Die Obsessionen der Krise, die Nabelschau, ein unreflektierter neuer Nationalismus führen zu einem politischen Vakuum, dessen Implosion eines Tages zurück zu den endlosen Kriegen der europäischen Geschichte fände. Seine Voraussetzungen, die eigene Geschichte, nicht zu kennen, verurteile die Menschen dazu, die Fehler der Geschichte zu wiederholen. Nasrs niederländisch-palästinensische Herkunft prädestiniert ihn dazu, die Lebenslügen der Gegenwart aufzudecken, den Kraftschluss zu einer Tradition der politisch bewussten Toleranz wiederherzustellen, die engstirnige Politiker wie Wilders von sich weisen.

Die italienische Autorin Jeanne Perego ist fassungslos. Im Ferragosto gibts freie Hotelzimmer am Meer. Das spricht für einen heißen Herbst. Der Mai 1968 sei ein laues Lüftchen gegenüber dem Sturm, der sich für den Herbst und Winter ankündige. In den Südkurven der Fußballstadien erlebe die teutonische Fratze die Wiederauferstehung. Natürlich sei das Bild des hässlichen Deutschen eine Projektion, mildert nicht die Wut auf die eigene politische Klasse und ihre unerhörten Privilegien. Die Krise sei im übrigen nicht neu, sondern halte Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Griff. Die Lehman-Pleite sei nur eine Boje am Rand des Strudels, in den Italien jetzt taumelt. Auch von der Kultur sei nichts zu erwarten, weil sie ausgehöhlt und preisgegeben sei und es versäumt habe, die eigenen Voraussetzungen zu erkennen und entsprechend zu handeln. Was für ein schwarzes Bild! Die Autorin schreibt Kinder- und Jugendbücher, veröffentlicht im Herbst ein Buch mit Rezepten für 365 Tage, hoffentlich mit ein paar aufmunternden Cocktails für alle.

Der irische Autor Julian Gough steht in der Tradition Jonathan Swifts. Die Krise und ihre Dauer bescherten dem Autor von Komödien ein sicheres Einkommen, denn auch in tiefster Not und ohne Aussicht auf Erlösung wollen die Leute ihren Zorn lachend bei Laune halten. Die Iren verstehen Europa nicht. Das ist ein Traumgespinst da draußen. Die Fehler der jüngsten Vergangenheit seien allen klar. Der größte Fehler sei es gewesen, einen Untoten mit Garantien am Leben zu erhalten. Seither halte der Zombie das Land (die ganze Welt) in seinen Klauen. Wenigstens sei mit dem Platzen der Blase die saturierte selbstgefällige Kultur von der Bühne gefegt worden, die nicht verstanden habe, dass der sie aushaltende Boom selbst schon die Krise war, die sie schließlich verschlungen hat. Den Autor sollten wir im Auge behalten (was den Berlinern vielleicht sogar am besten gelingen kann, weil er zur Zeit hier lebt).

Der portugiesische Autor Rui Zink sei, erzählt sein deutscher Verlag, der Harald Schmidt Portugals. Er lehrt, nach langen Jahren in den USA, portugiesische Literatur an der Universität von Lissabon. Der Beitrag Zinks wirkt desillusioniert, pointenfrei, ernüchtert. Die Realität behaupte sich gegen jede Phantasie, die über sie in Verkehr gebracht werde. Ist die Europäische Union eine Investition? Dann hätten wir also keine Schulden-, sondern eine Rentabilitätskrise. Aber auch diese Idee scheint nicht belastbar, denn die “Rentabilität” ist nichts als eine Maske für eine gigantische Umverteilung zu Lasten der Schwächsten. Zink spricht – was man verstehen kann – nicht wie ein Komödiant, sondern wie ein Zwangsvollstrecker, der mangels Substanz seinen Blick wieder auf den Hauptgläubiger richtet. Sieht er Schadenfreude bei den Deutschen? Dabei sollten sie als die Stärksten besonders daran interessiert sein, den Laden zusammenzuhalten.

Die spanische Journalistin Pilar Velasco erinnert mich an die Pilar in Ernest Hemingways Roman “Wem die Stunde schlägt”. Seine Pilar war ein Porträt der spanischen KP-Vorsitzenden Dolores Ibárruri. Die heutige Pilar plädiert für eine neue Volksfront. Sie schreibt in ihrem neuen Buch über die Krise und Verelendung der spanischen Jugend, ihr politisches Erwachen, das zeitgleich zum arabischen Frühling die Plätze der spanischen Städte politisch besetzte. Der Wahlsieg der Konservativen wirkt wie eine historische Charade. Nun ist es die Linke, die die Legitimität der Politik in Zweifel zieht und im Begriff ist, den Gehorsam aufzukündigen. Allerdings bleibt sie die Antwort schuldig, welche anderen Wege zu gehen seien. Es müssen nur andere sein.

Der slowenische Dichter, Autor und Literaturkritiker Aleš Šteger schreibt, in Slowenien herrsche das Gefühl des freien Falls. Ein hartes Bild, das ein wenig nach dem Fliegenden Robert klingt, noch steht die harte Landung aus, kein Fallschirm, kein Sprungtuch in Sicht, das die Härte mildern könnte. Auch Angela Merkels Entsagungspredigten bieten keinen Trost. Die jüngste Geschichte Sloweniens scheint im Rückblick wie ein Zaubermärchen, das ausnahmsweise keine Erlösung, sondern ein bitteres Ende ankündigt. Noch ist es nicht in Sicht, aber schon verkehren sich die modernen, nur an der Oberfläche verankerten Strukturen zurück in alte tribalistische Gebilde, von denen kaum etwas Gutes zu erwarten sei. Wer wollte in dieser Situation mit Angela Merkel tauschen? Niemand wisse, wohin die Reise geht. Angst wächst.

Luc Spada, ein junger luxemburgischer Autor und Schauspieler, stellt lakonisch fest, dass in Luxemburg auf hohem Niveau geklagt werde, für mich Anlass, an einen anderen luxemburgischen Autor zu erinnern, der heute wie kein zweiter davon berichten könnte, wie die Lage in seinem Land tatsächlich aussieht. Er war Adoptivsohn eines Europäischen Richters, durch seine Mutter verbunden mit einer der reichsten Familien des Großherzogtums, polyglott, ein Belesenheitsmonster, dessen Haschischgenuss selbst Wolfgang Neuß in den Schatten stellte. Er konnte einen dramatischen Bogen aus den Büschen eines städtischen Parks zu dem Volant einer Waffen schmuggelnden bischöflichen Limousine im Bekaa-Tal spannen. Die europäischen Fürstenhäuser und ihre Schattenseiten kannte er nicht nur aus den Tagebüchern des Herzogs von Saint-Simon, sondern aus eigener Anschauung, so auch die Rattenwege zwischen Nummernkonten in der Schweiz und anonymen Gesellschaften luxemburgischen Rechts. Er teilte lange Zeit seine Zelle mit einem Muttermörder, bis er, schon wieder in Freiheit, zu früh das Zeitliche segnete.

Die österreichische Autorin Renate Aichinger beobachtet verblüfft das kakanische Cocooning zwischen stricken, Marmelade kochen und reparieren, eine Genügsamkeit ohne Parallelaktion, ohne die Generale Stumm von Bordwehr und Frost von Aufbruch, zeigt sich verblüfft über die Vitalität der österreichischen Jugend. Wohl möge es gelingen!

Der zypriotische Autor Niklas Panayi schreibt, seine Landsleute seien an Krisen seit jeher gewöhnt. Neuerdings kaufe die Regierung keine Kunstwerke mehr, und das Deutschlandbild sei schlechter geworden. Jammern auf sinkendem Niveau biete keinen Ausweg. Es sei an der Zeit, sich von materialistischen Werten abzuwenden und sich auf spirituelle Werte zu besinnen. So sympathisch das auch klingen mag: die europäische Krise bringt einen Zynismus an die Oberfläche, der nach der Beleihbarkeit der immateriellen Werte fragt.

Der estnische Autor Peeter Helme ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um wirklich Neues über die Lage seines Landes und die dortige Reaktion auf die Krise zu berichten. Er will sich auf die Kunst und Literatur zurückbesinnen, was ja erst einmal tröstlich wäre, wenn er denn noch dazu kommt, für einen noch zu schreibenden Roman soviel wie möglich aussagekräftige Quellen für ein Porträt der Krise zu erschließen. Ach ja, die demographische Krise erfasse sein Land: wir würden älter und weniger (und haben bald weniger zu essen und zu kaufen). Eine Antwort, was denn die Freiheit, Tiefe und Höhe der Gedanken offenbare, bleibt er schuldig.

Die französische Autorin Emanuelle Pagano erzählt wie eine späte Erfindung Rousseaus von ihrem frugalen Leben. Sie lebt praktisch im Posthistoire, in einer Frugalität der Jahreszeiten zwischen dem Ernteherbst, dem Holzhacken und Sammeln für den Winter, dem Rückzug auf die ihr verfügbaren Mittel. Sie hat die Einübung in das, was uns bevorsteht, schon hinter sich und verwundert sich deshalb auch kaum darüber, dass auch und besonders die Franzosen in einer splendid isolation leben.

Pierre J. Mejlak bekommt auf Malta von der Krise nur durch die TV-Nachrichten was mit. Die Festung der Tempelritter scheint fast unberührt und wirkt durch ihre Randlage wie ein prädestinierter Zufluchtsort für das Nachdenken darüber, was vor uns liegt.

Mein Fazit: Ich bin so dankbar wie ernüchtert über diese Zeugnisse. Sie belegen eine Rückkehr zu den auktorialen Kompetenzen, zum Zweifel, zur Rückbesinnung auf Werte, zur Skepsis gegenüber den flotten oder nicht so flotten Rezepten und Sprüchen, sie regen an, genauer zuzuhören, schärfer die Augen zu öffnen, der Sprache der Politik profunder zu misstrauen und sich genauer umzuschauen, wem heute noch Vertrauen geschenkt werden darf.

Das FAZ-Feuilleton hat einen Beitrag zur Desillusionierung geleistet. Die Generation der großen Unterschriften-Autoren ist abgetreten (dichtet noch vor sich hin). Das “europäische Projekt” scheint in einem Wolkenkuckucksheim zu verschwinden. Vor kurzem las ich irgendwo, das Falschgeldaufkommen im Euro-Raum sei auffällig zurückgegangen. Nicht mal auf die Falschmünzer ist mehr Verlass. Sie kehren zurück zur Alchemie und versuchen, aus Scheiße Gold zu zaubern.

Der großen europäischen Pest im 14. Jahrhundert verdanken wir die schönste Unterhaltungsliteratur. Immerhin scheint das heute wie ein Versprechen für die Zukunft.

Crosspost von Wiesaussieht

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