#Thilo Sarrazin

Sarrazin und die normative Kraft von Supermemen in der Öffentlichkeit

von , 1.9.10

Was kön­nen wir von Thilo S. ler­nen? Wir leben in einem Zeit­al­ter der nor­ma­ti­ven Kraft der Öffent­lich­keit. Hin­ter der Wirk­macht von Öffent­lich­keit steht das Fak­ti­sche längst zurück. Schon vor Jah­ren prägte der ame­ri­ka­ni­sche Sati­ri­ker Ste­phen Col­bert das Wort der Trut­hi­ness. Trut­hi­ness (Wahr­heit­lich­keit) bezeich­net »Wahr­hei­ten«, die aus dem Bauch her­aus gefühlt wer­den und kei­ner ratio­na­len, logi­schen oder fak­ti­schen Über­prü­fung stand­hal­ten müs­sen. Wenn sol­che »Wahr­hei­ten« nur oft und laut genug wie­der­holt wer­den, wer­den sie in den Köp­fen der Men­schen zur Rea­li­tät. Dank Trut­hi­ness sind es nicht nur Mei­nun­gen, die jedem Men­schen frei zuste­hen. Mitt­ler­weile scheint auch jeder frei über Fak­ten ver­fü­gen zu dürfen.

Frei erfun­dene Fak­ten, wie Thilo S. sie in die Welt setzt, sind ein Pro­blem für öffent­li­che Dis­kurse. Wenn ein Abgleich mit der Rea­li­tät es nicht mehr erlaubt, Argu­mente zu wider­le­gen, wer­den Dis­kus­sio­nen belie­big. Das stär­kere Argu­ment zeich­net sich nicht län­ger durch Plau­si­bi­li­tät son­dern nur noch durch Laut­stärke aus. Je stär­ker eine Trut­hi­ness im Reso­nanz­kör­per der Öffent­lich­keit wie­der­hallt, je gefüh­li­ger und kna­cki­ger sie viel­leicht Vor­ur­teile bedient, desto mehr wird sie zur Wahr­heit. Schnell wird ein frei erfun­de­nes Dik­tum in den Struk­tu­ren der moder­nen Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie tat­säch­lich psy­cho­lo­gi­sche Rea­li­tät. So glaubt ein Groß­teil der ame­ri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung mitt­ler­weile an die absurde Behaup­tung, Barack Obama sei Muslim.

Hier deu­tet sich ein neues Phä­no­men für die Medi­en­theo­rie an: Weil die Emp­fän­ger von Infor­ma­tio­nen den Gehalt der Infor­ma­tion über ihre aktive Suche mit­ge­stal­ten, weil sie zum Bei­spiel in Such­ma­schi­nen nach ein paar Schlüs­sel­wor­ten suchen, ent­steht eine posi­tive Rück­kopp­lung von Framing. Framing bedeu­tet, dass Begriffe ihren Kon­text mit sich tra­gen.

Wenn ein Begriff für ein Ereig­nis geprägt wird, sagen wir »Jahr­hun­dert­flut«, dann ist mit der Bezeich­nung einer sol­chen Flut untrenn­bar der Rah­men oder impli­zite Kon­text ver­bun­den, diese Flut sei die schlimmste Flut unse­res Jahr­hun­derts, selbst wenn es deut­lich grö­ßere Flut­ka­ta­stro­phen in den letz­ten hun­dert Jah­ren gege­ben hat. Nun wird die­ser Rah­men der Infor­ma­tion aber ver­stärkt, weil Leser im Inter­net nach dem Begriff »Jahr­hun­dert­flut« suchen und die Ein­träge zu die­sem Begriff nur die neue, womög­lich schwä­chere Flut zum Inhalt haben.

Die Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie tut ihr übri­ges. Alle Medi­en­pro­du­zen­ten, die ihre Inhalte an Leser ver­brei­ten wol­len, müs­sen deren Such­an­fra­gen berück­sich­ti­gen. Wenn sie die aktu­elle Flut nicht als Jahr­hun­dert­flut bezeich­nen und so zur Ver­brei­tung eines kon­traf­ak­ti­schen Rah­mens bei­tra­gen, wer­den sie von den Lesern nicht gefun­den. Such­ma­schi­nen­op­ti­mie­rung bringt »Super­meme« her­vor, Schlüs­sel­worte, die sich in der posi­ti­ven Rück­kopp­lungs­schleife gegen andere Deu­tungs­mus­ter des glei­chen Sach­ver­hal­tes unwei­ger­lich durch­set­zen. Dafür gibt es längst hand­feste Beispiele.

So wurde im ame­ri­ka­ni­schen Som­mer­loch erbit­tert über den Bau einer Moschee an Ground Zero, dem Ort des Anschlags auf das World Trade Cen­ter gestrit­ten. Obwohl sich einige Pres­se­agen­tu­ren gegen diese Rah­mung wand­ten, waren sie macht­los gegen die Fak­ti­zi­tät des Öffent­li­chen. Die Moschee, die nicht wirk­lich an Ground Zero son­dern einige Blocks ent­fernt in New York gebaut wer­den soll, wird nur noch als »mos­que at ground zero« bezeich­net. Von Google wird sie nur als sol­cher­art gesucht auf den vor­de­ren Plät­zen gefun­den und Kraft des Rück­kopp­lungs­ef­fek­tes im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis der USA wahr­haf­tig zur Moschee an Ground Zero. Kelly McBride zeich­net den Ver­lauf ver­ständ­lich nach: SEO Makes It Too Late for Truth for ›Ground Zero Mos­que‹.

Wie sich oben­drein Mus­ter in die­sem kol­lek­ti­ven Gedächt­nis einer Öffent­lich­keit auf die Gesetz­mä­ßig­kei­ten der moder­nen Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie zurück­füh­ren las­sen, beschreibt David McCand­less von Infor­ma­tion is Beau­ti­ful in Pat­terns in the Group Mind. Pünkt­lich zu Weih­nach­ten und dem Jah­res­tag des Amok­laufs von Colum­bine ver­öf­fent­li­chen ame­ri­ka­ni­sche Medien Arti­kel über Gewalt in Com­pu­ter­spie­len. Warum? Weil sie so die gehäuf­ten Such­an­fra­gen zu die­sen Zeit­punk­ten bedie­nen. Auch das Som­mer­loch ist so ein Reso­nanz­punkt für spe­zi­elle The­men. In Deutsch­land wird in die­ser Zeit regel­mä­ßig über Bil­dung debattiert.

Die modernen Demagogen sind nur noch »in it for the money«

Berufs­dem­ago­gen wie Thilo S. machen sich diese neue Medi­en­wirk­lich­keit zu nutze. Der viel zitierte Meis­ter der Wahr­heit­lich­keit, gerne auch »unbe­queme Wahr­heit« genannt, ist statt Vor­den­ker doch nur Kind des Zeit­geis­tes, denn mit der glei­chen Vir­tuo­si­tät auf der Kla­via­tur der Auf­merk­sam­keits­spi­rale heizt der Selbst­dar­stel­ler Glenn Beck die ame­ri­ka­ni­sche Empö­rungs­kul­tur an.

Dabei geht es die­sen moder­nen Dem­ago­gen über­haupt nicht um poli­ti­sche Fra­gen oder eine inhalt­lich geführte Debatte. Die Auf­merk­sam­keit an sich ist der Wert, auf den es bei­den ankommt. Sie sind »in it for the money« und mit ihnen ihre Platt­for­men aus der Medi­en­öko­no­mie. Das Stroh­man­n­ar­gu­ment haben sie zur Größe Potem­kin­scher Dör­fer auf­ge­bla­sen, Fak­ten erfin­den sie sich nach Belie­ben, die Trut­hi­ness ist ihr wich­tigs­tes Werkzeug.

Es könnte tat­säch­lich etwas Gutes aus dem Anschlag auf die Dis­kus­si­ons­kul­tur sei­tens der Dem­ago­gen erwach­sen. Wenn die Dem­ago­gen als sol­che ent­larvt wür­den und die Mecha­nis­men der Dis­kus­sion hin­ter­fragt wür­den, aus denen Dem­ago­gen ihre Macht schöp­fen, wären inhalt­li­che Debat­ten viel­leicht pro­duk­ti­ver. Die Schwä­che der Debat­ten­kul­tur liegt schließ­lich nicht allein in der Steig­bü­gel­hal­ter­men­ta­li­tät der will­fäh­ri­gen »Qua­li­täts­me­dien« ver­bor­gen.

Natür­lich ist es ein Belas­tungs­test für die Tisch­plat­ten kri­tisch den­ken­der Men­schen, wenn der Spie­gel sich einen Eklat kom­plett selbst insze­niert: Erst bie­tet er eine Platt­form für The­sen, die er selbst sogleich als krude skan­da­li­siert,  und beglei­tet dann die Reso­nanz auf die kru­den The­sen mit empör­ter Dis­tan­zie­rung. Chris­tian Jaku­betz bringt die­sen Abgrund an Jour­na­lis­mus­ver­rat auf den Punkt. Trotz­dem gibt es gerade in der Reso­nanz auf die­ses per­fekt auf das Som­mer­loch abge­stimmte Kon­glo­me­rat aus den The­men Bil­dung und Demo­gra­phie gepaart mit der Trut­hi­ness von Über­frem­dung und schlich­tem Ras­sis­mus eini­ges zu entdecken.

Das Phä­no­men der Empö­rungs­spi­rale bei mora­lisch auf­ge­la­de­nen und seman­tisch ent­leer­ten Reiz­wor­ten wird immer mehr zur Gesetz­mä­ßig­keit, die eine inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ver­hin­dert. Auch jene, die anders als Berufs­dem­ago­gen an sol­chen Debat­ten inter­es­siert sind, müs­sen fest­stel­len: Es fin­det stän­dig Abgren­zung statt inhalt­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung mit Begrif­fen statt, die zu Kampf­be­grif­fen gewor­den sind.

Ras­sis­mus oder Sexis­mus sind Bei­spiele für sol­che Kampf­be­griffe, die in Debat­ten nicht mehr zur Refle­xion der eige­nen Posi­tion die­nen, son­dern nur über ihre nega­tive Kon­no­ta­tion wir­ken. Ras­sis­mus ist böse, also will ich nichts damit zu tun haben und dis­tan­ziere mich nach­drück­lich — egal, ob meine Aus­sa­gen womög­lich tat­säch­lich ras­sis­tisch waren.  Die Magie des Bauch­ge­fühls, kein Ras­sist zu sein, ist stär­ker als Argu­mente sein könn­ten. Trut­hi­ness at work.

Wie der Vor­wurf »Sexis­mus« dazu führt, dass sich die Inhalts­leere der blo­ßen Ableh­nung des Wor­tes selbst ent­larvt, lässt sich an Nadine Lantzschs Bei­trag Das Dampf­schiff und den anschlie­ßen­den Kom­men­ta­ren ein­drucks­voll nach­voll­zie­hen. Begriffe wie Demo­kra­tie oder Auf­klä­rung sind umge­kehrt posi­tiv kon­no­tierte Begriffe, die sich jeder gerne attes­tiert, ohne dass dar­über auch nur ein Jota an Klä­rung der eige­nen argu­men­ta­ti­ven Posi­tion erwächst.

Die his­to­risch gewach­se­nen Kate­go­ri­sie­run­gen tun ihr übri­ges zur Ver­klä­rung von Zusam­men­hän­gen und Wirk­me­cha­nis­men. Ras­sis­mus wird dem »rech­ten Spek­trum« zuge­ord­net, Anti­ka­pi­ta­lis­mus ist ein angeb­lich lin­kes Phä­no­men — sol­che Zuord­nun­gen sind Teil der durch Wie­der­ho­lung zum Fak­tum gewor­de­nen Behaup­tun­gen. Ist das linke China anti­ka­pi­ta­lis­tisch? Warum soll Ras­sis­mus ein Pri­vi­leg des kon­ser­va­ti­ven Mil­lieus sein?

Wenn wir aus dem Echo, das auf die kru­den The­sen des Thilo S. folgt, etwas ler­nen kön­nen, dann dass sol­che Kate­go­ri­sie­run­gen längst ihrer Sinn­haf­tig­keit beraubt sind. Der Ras­sis­mus ist quer durch die Gesell­schaft ver­tre­ten, er sucht sich allen­falls ver­schie­dene Opfer, je nach per­sön­li­chen Über­zeu­gun­gen und Ängs­ten. Thilo S. vom Vor­wurf des Ras­sis­mus frei­zu­spre­chen, weil die­ser sich ja bloß auf  einen hun­dert Jahre alten bio­lo­gis­ti­schen Dis­kurs berufe, ist eine Bank­rott­er­klä­rung für die Dis­kurs­macht unse­rer Leit­me­dien. Schirr­ma­cher ist halt auch nur ein wei­te­res Opfer der Truthiness.

Wol­len wir hof­fen, dass wir, die wir über unsere Gesell­schaft dis­ku­tie­ren möch­ten, uns über Wahr­heit­lich­keit und Schein­ar­gu­mente erhe­ben kön­nen und uns unsere Dis­kus­si­ons­kul­tur nicht von Berufs­dem­ago­gen dik­tie­ren lassen.

Nach­trag:
Schirr­ma­cher hat mitt­ler­weile einen deut­lich kri­ti­sche­ren Arti­kel zum Ras­sis­mus­vor­wurf an Sar­ra­zin geschrie­ben und erkennt die Dis­kurse der Sozio­bio­lo­gie und Co. von vor hun­dert Jah­ren als ras­sis­tisch an.

Crosspost von Kontextschmiede.

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