#Google Street View

„Persönlichkeitsrechte“ als Eigentum an sich selbst in der Öffentlichkeit

von , 20.8.10

Als ich an diesem Abend gegen 20 Uhr meine Kamera zücke und mit dem Objektiv auf die drei Sicherheitsleute im Haupteingang des Paul-Löbe-Haus ziele, löse ich statt einer Verschlusszeit einen mittelschweren Alarm bei den von einer Ablichtung bedrohten Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung aus.

Aus dem friedlichen, von der Abendsonne sanft belächelten Szenario der synchron in backsteindicke Paperbacks vertieften Gruppe, die sich neben den Durchleuchtungsapparaten in andere Welten liest, wird im Nu ein mehrköpfiger Drachen, der mit seinen Ausstülpungen feuerrot auf mich zuspringt. Ich könne hier nicht fotografieren, ob ich „schon mal etwas von ‚Persönlichkeitsrechten’ gehört“ habe?

Das, muss ich zugeben, war mir neu. Es ging ja keineswegs um ein Ablichtungsverbot von Sicherheitsmaßnahmen, sondern ein in der Öffentlichkeit lesender Mensch wollte nicht fotografiert werden. Und zwar nicht (wie ich dem Gespräch mit ihm entnehmen konnte), weil er etwas Geheimes, Verbotenes oder Unsittliches vollziehen würde, sondern weil er „seine Persönlichkeit schützen“ müsse.

Der Kollege war nicht sehr artikuliert, aber seine tägliche Boulevardzeitung hatte er sorgfältig gelesen: genauso wenig wie seinen Vorgarten müsse man sich selbst von irgendjemandem fotografieren lassen. Ja, die Maxime heißt sogar unbedingt: Lasse dich oder dein Eigentum nicht ablichten!

Das klingt wie das, was Kant einen „kategorischen Imperativ“ genannt hat – als striktes Mandat, das „eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellt“. Davon sei der „hypothetische Imperativ“ als eine Handlungsanweisung, die „wozu anders als Mittel gut wäre“, genau zu unterscheiden.

In der Tat kann weder in den bürgerlichen Feuilletons noch an den Stammtischen deutlich gemacht werden (und schon gar nicht durch Kommuniqués des Bundesinnenministeriums), welchem Zweck ein Ablichtungsverbot des Offenbaren, dieses Bilderverbot auf der Agora dienen soll als nur sich selbst – mit dem mysteriösen Hinweis auf „die Rechte an der eigenen Person“.

Da bleibt man stehen, im persistenten Beharren auf einen Eigentumsvorbehalt, den Kant als „metaphysisch“ disqualifiziert hätte. Denn da es sich bei Persönlichkeitsrechten ja nur um Freiheitsrechte handeln kann, können auch sie nur – folgt man dem Königsberger Philosoph – Ideen der Vernunft sein. Soll heißen: Persönlichkeitsrechte lassen sich so wenig wie Freiheitsrechte substantiell definieren. Wir dürfen allenfalls voraussetzen, dass es „Freiheit“ gibt, da sich sonst ein freier Wille, der für moralische Handlungen zwingend ist, nicht denken lässt.

Frei, schreibt Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (einem – so viel Werbung muss sein dürfen – der großartigsten Werke, die in deutscher Sprache verfasst wurden!), wäre ein Wille, der unabhängig von fremden ihn bestimmenden Ursachen wirkend sein kann. Wo aber ein Persönlichkeitsrecht wie die Gebotstafel vom Berge Sinai als Katalog von Sollen und Nicht-Sollen gemeißelt wird, hat das eher mit Polizei zu tun als mit der Freiheit eines vernünftigen Einzelwesens.

Mit der Diskussion um Google Street View und einem Copyright an der eigenen Person, so weit sie sich in der Öffentlichkeit bewegt, hat sich Kants Konzept des freien Willens in das gerade von ihm nicht Gemeinte verkehrt: statt das Persönlichkeitsrecht als das Recht „frei zu denken“ (d.h. sich keinem Zweck als Mittel unterwerfen zu müssen) zu schützen, soll hier die Persönlichkeit als positives Eigentum verteidigt werden. Damit geht es gar nicht um „Persönlichkeit“, sondern dahinter verbirgt sich die allbekannte Eigentumsfrage, die tatsächlich jegliches Persönliche verschwinden lässt, weil dieses sich niemals über ein ihm zugeordnetes Eigentum definieren lässt.

Eine Ideologie, die vor allem von der Partei vertreten wird, die sich als besonders „freiheitlich“ versteht und damit heute immer das Recht auf Eigentum meint.

Insofern handelte es sich keineswegs um einen kategorischen Imperativ, den der Sicherheitsbeamte mir mit preußischer Wut an den Kopf warf, sondern um den im sicheren Wissen um einen Common Sense formulierten hypothetischen Selbstbefehl, man wolle sich nicht fotografieren lassen, da sonst die Gefahr bestehe, sich selbst als Eigentum zu verlieren. Doch das von ihm angesprochene „Persönlichkeitsrecht“ kann ja kein „Recht“ meinen, eine Persönlichkeit zu sein (was ich ihm natürlich von Herzen gönne), sondern nur eines, eine Persönlichkeit zu werden. Nur leider hat das wesentlich mit einem Bildungssystem zu tun, das heute weniger denn je dazu angetan ist, den von Kant gemachten feinen Unterschied zwischen „gelehrten“ und. „aufgeklärten“, d.h. selbständig denkenden Geistern zu reflektieren.

Eine Straße nicht fotografieren zu dürfen, weil sich dort Menschen bewegen, die sich als ihr Eigentum definieren, das zu schützen oder dessen Nutzungsrecht nur gegen eine Abgabe zu erwerben ist, diese Verdikt entspringt der gleichen Verwertungslogik wie die schwarzen Burkas, die der verhüllten Person vor allen ihr Recht darauf absprechen, eine öffentliche Person sein zu können. Ja, überhaupt eine „Person“ zu sein – deren von Familie und Clan abstrahierter Status erst eine Gleichheit mit anderen, gleichermaßen abstrahierten „Personen“ herstellt.

Schon für die attische Demokratie war die Unterscheidung von Privat und Öffentlich konstitutiv, und eine Häuserfassade war genauso wenig privat wie das Rumlümmeln auf dem Marktplatz (man lese etwa von den Lehren der Kyniker) – immer aber hieß es: Gesicht zeigen! Was sich dagegen hinter den Fassaden abspielte, ging in der Tat niemanden etwas an als die Betroffenen.

Mag sein, dass es auch niemanden etwas angeht, was sich direkt hinter der gläsernen Fassade des Bundestagkomplexes unter aller Augen abspielt; was von allen gesehen wird – aber von niemand mehr fotografiert werden soll. Nicht zuletzt auch durch die Wankelmütigkeit der Bundesregierung in dieser Frage hat sich offenbar in die deutschen Köpfe wie in eine Leerstelle die Vorstellung gesenkt, ein harsches Bilderverbot sei das Gebot der Stunde.

Die Öffentlichkeit, so hat man den Eindruck, soll vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Da fragt man sich doch: Wofür schämen wir Deutschen uns eigentlich so? Etwa für unser Eigentum?

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