#Finanzkrise

Netz ist nicht gleich Netz – der Vorsprung der Taube ist gewachsen

von , 29.4.10

Die Geschichte der Nachrichtenagentur Reuters begann in der Pontstraße 117 in Aachen. Aktuelle Nachrichten wurden hier 1850 zunächst mit Hilfe von Brieftauben eingeflogen, heißt es in der Wikipedia und so wird es gerne zum besten gegeben, wenn es um die Geschichte und Entwicklung des Nachrichtentransportes geht.

Und weil diese Tauben immer noch schneller waren als berittene Boten oder gar Mundpropaganda, wurde aus Reuters ein weltumspannender Konzern, der mit dem schnellen Transport von Nachrichten sein Geld verdiente. Und Andere, die es verstanden, aus einem Informationsvorsprung Geld zu machen, wurden richtig reich.

Dann kam der Telegraph, Telefon und Fax und schließlich das Internet und auf einmal sollte so etwas wie Chancengleichheit herrschen. Der Vorsprung der Profis war ab der Jahrtausendwende dank Internet, Onlinebroker und Daytradingplattformen auf nahezu Null zusammengeschrumpft. Jetzt zählte nur noch die Schnelligkeit im Denken, die eigene Strategie und persönlicher Mut und Risiko.

Was für eine Illusion!

Genau das Gegenteil ist richtig. Denn die Finanzindustrie hat sich längst ihr eigenes, schnelles Netz gebaut, welches die Terminals in den Handelsräumen miteinander verbindet. Während wir gerade anfangen, über Netzneutralität zu diskutieren und das allgemein zugängliche Internet mit immer mehr Anwendungen überfrachten, agieren die Profis längst in Echtzeit. Unterstützt von Hochleistungsrechnern, auf denen ebenso leistungsfähige Tradingprogramme laufen, ist bei ihnen die Lichtgeschwindigkeit das Maß und die Millisekunde die längste noch tolerierbare Zeiteinheit. Orders werden auf dem Weg vom Kunden zur Ausführung an der Börse in Sekunden zwischengehandelt, selbst an kleinsten Kursdifferenzen wird noch verdient. Jede noch so kleine Information aus der realen Wirtschaft augenblicklich eingepreist.

Wer hier glaubt als Privatanleger mithalten zu können, kann nur (sein Geld) verlieren. Die Differenz zwischen schnell und unendlich schnell ist unendlich. Um im Bild zu bleiben: Der Vorsprung der Reuters-Taube ist noch größer geworden als 1850. Und so werden wir Zeuge, wie sich das System der Finanzmärkte immer stärker selbst aufschaukelt, weil mit jeder abgeschlossenen Kauf-Verkaufaktion der Handelsvolumen steigt. Gleichzeitig steigt das Risiko eines finanziellen Super-Gaus.

Politik kann das Tempo der Märkte nicht mitgehen

Vielleicht wäre selbst das nicht so dramatisch, wenn nicht die Politik längst von alldem komplett abgekoppelt wäre. Sie beginnt gerade erst, das Internet zu begreifen, um dann aus Unverständnis oder Unvermögen sofort mit der Regulierung anzufangen, anstatt für sich eigene, schnelle Netze zu bauen, die es mit denen der Finanzindustrie aufnehmen können.

Den Effekt können wir gerade bei der sich zuspitzenden Griechenlandkrise live verfolgen. Während die europäischen Politiker von Krisengespräch zu Krisengespräch stolpern und in ihrem traditionellen Politikmodus verharren, nutzen die Märkte jedes Bit an Information aus diesen Gesprächen und setzen es sofort in Aktion um.

Die Politiker verhalten sich aktuell wie der kleine Privatanleger, der glaubt, es mit seiner Bank aufnehmen zu können. Die Politik kann dieses Tempo nicht mitgehen, die Spekulanten geben das Tempo vor. „Der Markt setzt auf schnellen Gewinn, die Politik ringt um Verantwortung. Der Markt in seiner Masse ist anonym“, heißt es heute richtig im Handelsblatt. Und kann deshalb gar kein Gewissen haben, müsste man noch hinzufügen.

Die Politik kann nur gewinnen, wenn sie die Regeln dieses Systems durchbricht, das ist die einzige Möglichkeit und verbliebene Hoffnung. Wenn sie entweder die Netze der Finanzindustrie künstlich verlangsamt oder per Gesetz bestimmte Transaktionen und Wetten ganz verbietet. Alles andere wird scheitern.

Crosspost von movinette.

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