#Arbeitsanreiz

Niedriglohn und Flexibilisierung: Abbau der Mittelschicht à la FDP

von , 18.2.10

Guido Westerwelle darf zufrieden mit sich sein: Seit über einer Woche diskutiert das ganze Land seine Forderungen, mit denen er einer Politik der sozialen Grausamkeiten den Weg ebnen möchte. Er hatte unter anderem moniert, dass sich der Abstand zwischen den Einkommen der Beschäftigten und den Bezügen von Hartz-IV-Empfängern bedrohlich verringere. Die Hartz-IV-Diskussion trage „sozialistische Züge“, die arbeitende Mittelschicht dürfe „nicht der Depp der Nation sein“. Nachdem sich die anfängliche Empörung etwas gelegt hat, mehren sich nun die Stimmen, die dem FDP-Vorsitzenden beispringen und in der Sache Recht geben wollen.

Auch wenn die suggestive Kraft groß sein mag, die von Westerwelles lautstark vorgetragener Warnung ausgeht – die Befürworter übersehen, dass es gerade auch eine von der FDP propagierte Politik war, die in den zurückliegenden Jahren zu Lasten der mittleren und unteren Einkommensgruppen gegangen ist. Es ist offensichtlich, dass die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes – eine Kernforderung der FDP – maßgeblich für den Rückgang der Mittelschicht verantwortlich ist. Der marktliberale Westerwelle warnt damit zugleich vor einer Entwicklung, die er selbst bislang unentwegt eingefordert hat.

Vor allem die seit Jahren kontinuierlich sinkenden Reallöhne sind verantwortlich dafür, dass sich das Arbeitsentgelt von immer mehr Menschen den Hartz-IV-Sätzen annähert. Der Anteil der Löhne am gesamten Volkseinkommen ist mittlerweile auf ein Rekordtief von 61 Prozent gefallen. Gestiegen ist hingegen der Anteil der Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit und Kapitalvermögen.

Infolgedessen ging der Wohlstandszuwachs der letzten Jahre vor allem zu Lasten der mittleren und unteren Einkommensgruppen. So stellt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest, dass in den letzten Jahren „die unteren zwanzig Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland real – also unter Berücksichtigung der Preissteigerung – etwa zehn Prozent ihres Einkommens verloren. Die einkommensstärksten zehn Prozent haben demgegenüber 15 Prozent gewonnen.“

Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen ist in den zurückliegenden zehn Jahren um mehr als zehn Prozentpunkte zurückgegangen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse hingegen, geringer bezahlt und befristet, haben an Bedeutung gewonnen.

Das heißt: Nicht zuletzt auch die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors ist für den allgemeinen Rückgang der Einkommen verantwortlich. Die Niedriglohnschwelle liegt bei zwei Dritteln des mittleren Lohns; inzwischen arbeiten bereits 6,5 Millionen Menschen für ein Arbeitsentgelt, das zum Überleben kaum ausreicht. Gut zwei Millionen Menschen gehen sogar für einen Bruttostundenlohn unter sechs Euro einer Tätigkeit nach. Darüber hinaus gibt es 1,3 Millionen Aufstocker, die trotz Arbeit zusätzliche Unterstützung benötigen; die Hälfte von ihnen geht sogar einer Vollbeschäftigung nach.

Kurzum: Die Löhne werden mehr und mehr in Richtung des Existenzminimums gedrückt und am Ende sogar noch vom Staat gefördert, damit die Bezieher über ein existenzsicherndes Einkommen verfügen. Hartz IV sollte ursprünglich jedoch weniger dazu dienen, mit Steuermitteln geförderte Kombilöhne einzuführen. Vielmehr sollte es die Grundversorgung derer sichern, die zumeist ohne eigenes Verschulden ihre Arbeit verlieren und – trotz des gebetsmühlenartig wiederholten Versprechens kommender Vollbeschäftigung – keine neue Beschäftigung finden.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit deutlichen Worten angemahnt, die Berechnungsgrundlage der Hartz-IV-Sätze zu überarbeiten. Guido Westerwelle aber verfolgt eine gefährliche Strategie, wenn er die Hartz-IV-Bezieher gezielt gegen die Gruppe der Besserverdienenden ausspielt und die Abstiegsängste einer zunehmend dezimierten Mittelschicht instrumentalisiert. Dass sich arbeiten für erhebliche Bevölkerungsteile immer weniger lohnt, ist letztlich auch Ergebnis von Niedriglöhnen. Wer diesen Zusammenhang übersieht, spaltet – wie Westerwelle – die Gesellschaft.

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