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Den Aufbruch nicht verpassen

von , 24.9.09

Alle 10 Jahre ist bei uns in der Musikwirtschaft Aufbruchstimmung: Ende der Fünfziger löste die Beatmusik den Rock’n’Roll ab, Ende der Sechziger kam die Hippiebewegung, diese wurde von den Punks zehn Jahre drauf verdrängt, selbiger wiederum in gleicher Frist vom Techno und Ende der Neunziger fand schließlich der Deutsche Hip-Hop als Massenbewegung seinen Durchbruch. Fehlt der neue Trend oder die Protagonisten, die ihn anpacken und nach vorne gerichtet treiben, dann gerät die Pop-Musik, die schließlich davon lebt sich ständig zu erneuern, unweigerlich in die Krise. So wie eben gerade jetzt.

In der deutschen Politik vollzieht sich systemnotwendige Erneuerung erstaunlicherweise in ähnlichen, vorhersehbaren Schritten. Gesellschaft funktioniert jedoch in längeren Zyklen als die von jugendlicher Abgrenzung getriebene Innovation in der Pop-Musik. Der Rhythmus, in dem zum politischen Aufbruch geblasen wird, beträgt bei uns in der Bundesrepublik eher 20 Jahre. Die Protagonisten und Parteien, die zupacken, um die Gesellschaft und das System neu zu denken und zu verändern, sind dabei genauso unerlässlich wie die Stars und Bands, die auf den Bühnen für den Wandel der Musikszene die notwendigen, neuen Trends setzen. Fehlen sie, oder kommen sie nicht zum Zuge, bedeutet das auch in diesem Fall Krise. Eine Krise des Staates ist jedoch schwerer auszuhalten als eine Krise der Musikwirtschaft.

1949 war es völlig egal, ob man in Deutschland konservativ oder progressiv war. Zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus wollte keiner zurück, der bei Trost war. Die Gegenwart war von den Trümmern des Krieges bestimmt, Zukunft war die einzige Chance. Egal ob Kurt Schuhmacher oder Konrad Adenauer, der Blick der politischen Akteure musste sich zwangsläufig nach vorne richten. Das Land und das System mussten neu erfunden und aufgebaut werden.  Egal welche demokratische Partei man betrachtete, Aufbruch war bei allen Programm.

1969 war der Schwung der Wirtschaftswunderjahre verflogen. Statt Aufbruch gab es Katerstimmung. Die Aussöhnung der Generationen und Nationen war ausgeblieben und dieses Problem konnte nicht mehr hinter ewigen Wachstums- und Erfolgsmeldungen konservativer Regierungen verschwinden. Es war höchste Zeit, dass die Eltern sich den Fragen ihrer Kinder stellten. Willy Brandt und sein Politikwechsel waren entscheidend für die junge Bundesrepublik. Durch seine Person, seine eigene Historie und seine Taten (vornan die Ostverträge) entstand wieder Bewegung. Der Aufbruch brachte Nationen und Generationen wieder in den Dialog und die Bundesrepublik Deutschland wurde endlich Bestandteil einer zivilisierten Welt.

Pünktlich zwanzig Jahre später– 1989 – war es wieder so weit: Die Mauer fiel und mit ihr die alte Weltordnung. Das was im Westen vermeintlich richtig war, konnte sich nicht mehr durch den Vergleich mit dem Falschen im Osten definieren. Durch die plötzliche Abwesenheit eines Gegners galt es nun in der Bundesrepublik wieder die Systeme und Werte zu hinterfragen. An der Regierung war diesmal jedoch eine konservative Partei. Statt sich neu zu erfinden und aus beiden Teilen Deutschlands ein neues zu machen, wurde der Osten einfach gekauft und ihm das System des Westens übergestülpt. Die konservative Unfähigkeit zur Vision führte zu einer fulminanten Krise in den Neunzigern und einer in dieser Form noch nie gekannten Staatsverschuldung. Die nächste progressiv orientierte Regierung konnte mit Reformen nur Schadensbegrenzung betreiben: Das hieß dann Agenda 2010 und Hartz IV.

2009 steht wieder ein Aufbruch an. Die Aufgaben sind fast zahlreicher als nach dem Kalten Krieg: Das internationale Finanzsystem ist gerade erst vor kurzem zusammengebrochen, das Klima droht es ihm auf Dauer global gleichzutun, mit Afghanistan scheint das bewährte, außenpolitische Prinzip der aus dem Westen verordneten Staatsform und Werte zu scheitern, in digitaler Vernetzung entsteht parallel eine Gesellschaft außerhalb staatlicher Regeln wie dem Urheberrecht. Das schlimmste was jetzt passieren kann, ist ein „weiter so!“. Das ist aber das Credo einer konservativen Politik. Sie will optimieren und nicht verändern. Das muss nicht immer verkehrt sein, reicht jetzt aber nicht aus. Das System schreit nach Erneuerung, die Kanzlerin fährt jedoch im Wahlkampf in Konrad Adenauers alten Rheingoldexpress durchs Land. Selbst die Symbolik ist rückwärtsgewandt.

Noch einmal werden wir Stillstand als Antwort auf Veränderung nicht verkraften. Das nächste Mal reicht keine Wirtschaftsagenda und kein Hartz IV mehr, um den dadurch entstandenen Schaden zu begrenzen. Wir brauchen jetzt den Mut, Systeme neu zu denken: Wir brauchen Maßnahmen, die den Finanzmarkt dauerhaft regulieren, wir brauchen eine durchgreifende Klimapolitik, die nicht mit durch ein Verbleib beim Atomstrom ein Problem mit dem nächsten Problem beheben will. Wir brauchen eine klare, neue Ausrichtung deutscher Außen- und Verteidigungspolitik, die aus Fehlern der Vergangenheit lernt, wir brauchen und eine Netzpolitik, die den Ansatz nicht scheut, das Urheberrecht neu zu denken.

Kurz, wir brauchen in der jetzigen Situation eine progressive, keine konservative Regierung. Die Konservativen können zum  Optimieren gerne wieder ran, wenn die Richtungsentscheidungen getroffen sind, so wie sie dereinst in den Jahren 1949 und 1969 in unser aller Sinne getroffen wurden. Wir dürfen 2009 den Aufbruch nicht verpassen, sonst bleiben wir irgendwann allein zurück…

Tim Renner bloggt auf motor.de, wo auch dieser Beitrag erschien. Disclaimer: Tim Renner berät den SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier.

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