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Unkalkulierberer Urnengang: Die sechs Paradoxien dieser Bundestagswahl

von , 18.9.09

Die Bundestagswahlen von 2005 hatten die Qualität von critical elections: es wird nie mehr so, wie es vorher einmal war. Erst seit dieser Zeit existiert ein asymmetrisches, changierendes Fünfparteiensystem mit neuer Qualität und mit weitreichenden Konsequenzen sowohl für die Regierungsbildung im Bund, als auch in den westdeutschen Ländern. Jenseits der Großen Koalition sind entlang der tradierten parteipolitischen Lager keine Bündnisse mehr kalkulierbar mehrheitsfähig. Erschwert wird die Unübersichtlichkeit dadurch, dass das Potential der SPD als Multikoalitionspartei auf Eis liegt. Zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl wird die Tabuisierung der Linken auf Bundesebene gepflegt. Vielparteien-Parlamente können zwar noch zu Zweierkoalitionen führen, aber weniger verlässlich als zu früheren Zeiten. Lager- oder Traditionskoalitionen werden durch neue Varianten zur Regie­rungsbildung ersetzt: neue lagerübergreifende Zusammensetzungen (z.B. Schwarz-Grün), neue Regierungs- bzw. Koalitionstypen (z.B. Große Koalitionen, Dreier-Bünd­nisse), neue Regierungsformate (z.B. Minderheitsregierungen).

Wer nicht nur rechnerische, sondern belastbare politische Mehrheiten sucht, muss sich zukünftig auf dem Koalitionsmarkt tummeln. Die Parteiendemokratie ist seit 2005 in Deutschland im Hinblick auf Koalitionsformate bunter, vielgestaltiger, entlagerter, mobiler und koalitionsoffener geworden. Die Sprache der Spitzenakteure spiegelt das allerdings bislang nur rudimentär wider. In alter Rhetorik werden immer noch Lagerpolarisierungen beschworen. Wähler haben eine erkennbare Sehnsucht nach Unterscheidbarkeit der Angebote. Auch für Wahlkämpfer ist es einfacher, entlang eines Lagers polarisierend zu mobilisieren. Doch die erwartbare machttaktische Koalitions-Lotterie, bei der alles nach Schließung der Wahllokale politisch möglich sein wird, was arithmetisch zwingend ist, verflüssigt die Lager-Sehnsucht.

Wer nicht mobilisiert, verliert die Wahl. Strategische Mobilisierung ist im Superwahljahr 2009 mit besonderen zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert, um Wähler in Zeiten der Gro­ßen Koalition ausreichend zu mobilisieren. Zu beobachten sind eine Reihe von Para­doxien – also scheinbar oder tatsächlich unauflösbare Widersprüche:

1. Das Umrechnungs-Paradoxon

Es existiert eine vom Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich als „widersinnig“ eingestufte Paradoxie, die mit den Überhangmandaten und dem sogenannten nega­tiven Stimmeneffekt zusammenhängt: Ein Mehr an Stimmen kann zu einem Weniger an Mandaten führen. Bis 2011 muss der Gesetzgeber das Wahlrecht ändern. Dabei gehören die Überhangmandate praktisch zur Geschichte des Bundestages. SPD und CDU haben wechselseitig und periodisch davon profitiert. Das Novum könnte diesmal darin bestehen, dass rechnerisch eine Regierungsmehrheit ausschließlich über derartige Überhangmandate zustande kommt. Wie hoch wäre dann die politi­sche Legitimität der Regierung – zumal in Zeiten der Wirtschaftskrise, in der drasti­sche Verteilungskonflikte erwartbar zunehmen werden? Die Frage nach der Legiti­mität stellt sich zugespitzt, weil das Bundesverfassungsgericht dieses Umrechnungsverfahren explizit als „widersinnig“ und „willkürlich“ tituliert hat. Das gilt im Besonde­ren für den sogenannten negativen Stimmeneffekt. Gewinnt danach eine Partei in einem Bundesland, in dem sie Überhangmandate hat, aufgrund eines höheren Zweitstimmenanteils rein rechnerisch einen weiteren Listenplatz dazu, so kommt dieser dort eben wegen der Überhangmandate nicht zum Tragen.

2. Das Abwahl-Paradoxon

Auch das Regierungsformat der Großen Koalition führt zu Kuriositäten. Wähler wol­len als Hauptmotiv gerne eine Regierung abwählen, zumindest politische Macht neu verteilen. Das kann aber diesmal nicht gelingen, denn die Große Koalition will gar nicht mehr antreten und führt auch keinen Koalitionswahl­kampf. Von Beginn an galt die Große Koalition als strategische Gemeinschaft der Wahlverlierer. Rechnerisch wird eine Fortsetzung  zwar nicht ausgeschlossen, aber politisch dafür auch nicht geworben.

3. Das Ungleichzeitigkeits-Paradoxon

Mobilisieren ist für Parteistrategen im Wahljahr 2009 auch deshalb so schwer, weil es besonderer Erklärungen über aktuelle Partei-Sympathien bedarf. Wie erklärt sich das „Gelb-Fieber“, das Umfragehoch der FDP in der Wirtschafts- und  Finanzkrise? Hat­ten die Liberalen nicht zum Chor der markt­radikalen Befürworter gehört, wobei zügel- und regellose Märkte ursächlich doch mit zu den Auslösern der Krise gerechnet wer­den können? Krisengewinner müsste hingegen eigentlich eine Partei wie die Linke sein, die als Alleinstellungsmerkmal linke Kapitalismuskritik salonfähig machte. Doch ein Krisenbonus ist in den Umfragen nicht erkennbar. In der Wahrnehmung vielen Wähler müssten die Umfragedaten für beide Parteien normalerweise in entgegen­setzte Richtungen ungleichzeitig verweisen. Die Erklärungen für die Phänomene er­geben sich sachlogisch: Nicht Sympathie und Rechthaberei sind im Wahljahr gefragt, sondern ökonomische Sachkompetenz, die wiederum eine Mehrzahl der Wähler bei der FDP, aber nicht bei den Linken verortet sieht.

4. Das Lindenstraßen-Paradoxon

Wer die Große Koalition als Dauer-Serie ohne absehbares Ende verhindern möchte, muss die Parteien der Großen Koalition wählen. Nur wenn die Volksparteien genü­gend Stimmen erhalten, reicht es am Ende für  kleine Koalitionen.

5. Das Abschwung-Paradoxon

Wirtschaftliche Abschwungsphasen waren bislang immer schwierige Rahmenbedin­gungen, um wiedergewählt zu werden. Auch diese Regel könnte 2009 durchbrochen werden. Trotz eines historisch einmaligen Rezession deuten die Umfragedaten im Moment nicht daraufhin, dass sich die Kanzlerschaft Merkels dem Ende zuneigt. Die Fortsetzung der Großen Koalition würde ihre Kanzlerschaft ebenso sichern, wie nicht völlig unwahr­scheinliche schwarz-gelbe oder schwarz-grüne Mehrheiten.

6. Das Ampel-Paradoxon

Die SPD hat ein zusätzliches Ampel-Paradoxon geschaffen. Sie kämpft offiziell ge­gen Schwarz-Gelb und plakatierte bereits im Europawahlkampf die „Finanzhaie“ ge­gen die FDP. Andererseits braucht sie vermutlich dringend die Liberalen nach 18 Uhr am Wahlsonntag. Denn nur eine Ampel-Koalition (rot-gelb-grün) kann Steinmeier realistischerweise ins Kanzleramt bringen.

Mobilisierungen der eigenen Anhänger im Wahljahr 2009 sind für die CDU und die SPD – auch unabhängig von diesen Paradoxien – extrem schwierig. Denn weder Merkel noch Steinmeier sind Wahlkampf-Heroen. Sie sind als Exzentriker der Partei­endemokratie an die Spitze der Partei bzw. in das Amt des Kanzlerkandidaten ge­kommen. Innerparteilich belastbare Kampfgemeinschaften ergeben sich daraus nicht automatisch.

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