#ELIZA

47 Prozent Hilfe

von , 1.9.09

1965 schrieb Joseph Weizenbaum am MIT sein berühmtes Programm ELIZA, mit dem er die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine in natürlicher Sprache untersuchen wollte. “Für mein erstes Experiment”, schreibt Weizenbaum, “gab ich ELIZA ein Skript ein, das ihr ermöglichte, die Rolle eines an Rogers orientierten Psychotherapeuten zu spielen (oder besser: zu parodieren), der mit einem Patienten das erste Gespräch führt. Ein solcher Therapeut ist verhältnismäßig leicht zu imitieren, da ein Großteil seiner Technik darin besteht, den Patienten dadurch zum Sprechen zu bringen, dass diesem seine eigenen Äußerungen wie bei einem Echo zurückgegeben werden.”

Seinen Namen hat das Programm nach der weiblichen Hauptperson aus George Bernard Shaws Theaterstück “Pygmalion” von 1913. Darin lässt sich das prollige Blumenmädchen Eliza Doolittle von dem arroganten Phonetik-Professor Henry Higgins in eine Society-Lady verwandeln – er bringt ihr bei, wie man in der Upperclass spricht und sich benimmt. Inspiriert dazu hat Shaw die griechische Sage von dem Bildhauer Pygmalion, der sich in eine seiner eigenen Frauenplastiken verliebt und die Götter bittet, sie zum Leben zu erwecken. Unter dem Titel “My Fair Lady” ging die Geschichte nach dem II. Weltkrieg als Musical- und Filmerfolg um die Welt.

Weizenbaums ELIZA wurde im MIT-Umfeld erst unter dem Namen DOCTOR berühmt. Es waren drei Dinge, die Weizenbaum besonders nachdenklich machten. Er war bestürzt darüber, wie schnell und intensiv Personen, die sich mit dem Programm unterhielten, eine emotionale Beziehung zum Computer herstellten; darüber, dass die Ansicht verbreitet war, es handle sich um die allgemeine Lösung des Problems, wieweit Computer eine natürliche Sprache verstehen können; und darüber, dass eine Anzahl praktizierender Psychiater im Ernst glaubte, DOCTOR könne zu einer fast völlig automatischen Form der Psychotherapie ausgebaut werden.

Genau das versuchen nun zwei in Holland lebende Psychologen, Jaap Hollander und Jeffrey Robert Wijnberg, mit dem Roboter-Psychologen MindMentor, der antritt, “dir beim Erreichen von Zielen und der Lösung von Problemen zu helfen”. Er ist stets verfügbar. “Seine Praxis ist 24 Stunden geöffnet, an sieben Tagen in der Woche. Er ist diskret und absolut vertraulich. Er ist effektiv. Im Durchschnitt hilft er zu 47% beim Finden von Lösungen. Er ist schnell. Eine Sitzung dauert etwa eine Stunde. Er ist erschwinglich. Eine Sitzung kostet 4,95 Euro. Eine günstige Investition in das eigene Wohlbefinden.” Bei Abnahme eines aus 10 Sitzungen bestehenden Packages gibt es 10 Euro Rabatt.

Die Zahlungsabwicklung wird, “after some starting psychological work”, mit viel Liebe zum Detail erläutert. Dem Hinweis, dass MindMentor “auf jede Art von Problem oder Ziel anwendbar ist”, folgt eine Liste der Probleme, an denen die Software sich am liebsten abarbeitet (”stress, family problems, relationship problems, motivation, life mission questions, sleepless nights, worrying, conflicts with friends or colleagues, et cetera”).

Auf die Frage, warum der MindMentor nicht kostenlos arbeitet, heißt es: “Who does?” Auch wenn er ein Roboter ist, braucht MindMentor Geld. “Seine Software muss ständig gepflegt werden, um nur einen Punkt zu nennen. Angesichts dessen, was er leistet, ist MindMentor durchaus erschwinglich. Hier in Holland bezahlen wir für eine Autowäsche mehr.”

Wie kann ein Computerprogramm psychologische Hilfe leisten? Unter den fünf Methoden, die Hollander und Wijnberg aufzählen, ist unter Punkt 4 wie beiläufig die von Carl Rogers entwickelte klientenzentrierte Therapie angeführt. Weizenbaum und ELIZA werden mit keinem Wort erwähnt – vielleicht einfach deshalb, weil es sich bei MindMentor schlicht um eine gepimpte Version des 44 Jahre alten Programms handelt.

Während die Arbeit von Carl Rogers bei Joseph Weizenbaum noch in jemandes Händen war, der auch Konsequenzen aus den moralischen Folgen seines Experiments zog und zu einem bedeutenden Kritiker technischer Fehlentwicklungen wurde, langt es bei Hollander und Wijnberg nicht einmal zu einer Parodie auf die Parodie – der Psychologe Rogers war jemand, der besonderen Wert auf Begegnung im menschlichen Sinn legte, unter Einschluss von Gefühlen, der nonverbalen Äußerungen und eines prinzipiellen gegenseitigen Wohlwollens. Sein Konzept von Begegnung (”Encounter”) und einer Haltung verstehenden Zuhörens entspricht ziemlich genau dem Gegenteil dessen, was das holländische Beratungsgerät zu bieten vorgibt.

Neben Rorschach-Test und Pawlow-Konditionierung gehören noch NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) und die Provokationstherapie zur methodischen Software-Motorisierung des MindMentor. NLP wurde in den 70er Jahren als ein neues Verfahren der Kurzzeit-Psychotherapie entwickelt und passt eigentlich zu an Geschwindigkeit interessierten Computernutzern. Auf der Website der deutschen NLP-Community ist ein Bild von Einstein zu sehen, der etwas an drei Fingern abzählt, dazu der Text “Einstein is explaining the basics of NLP, especially the fundamental presupposition of always having three choices” – was nicht dazu beiträgt, NLP den Ruf der Pseudowissenschaft zu nehmen. Einstein ist 1955 gestorben, lange bevor NLP erfunden wurde.

Die Provokationstherapie schließlich, zu deren Pionieren in Holland sich Jeffrey Wijnberg zählt, wurde von der amerikanischen Psychologin Marsha Linehan für den Umgang mit hochgradig suizidgefährdeten Menschen entwickelt. Droht ein Patient mit Selbstmord, fragt der Therapeut beispielsweise ganz direkt, wann und wie er sich umbringen möchte und erreicht damit, dass der Patient sich auf schockierende Weise ernst genommen fühlt; gleichzeitig wird ihm klargemacht, dass er wählen muss, ob er in seinem Leid verharren oder sich ändern will. In einer solchen Situation entscheiden sich Menschen in der Regel dafür, sich helfen zu lassen (und müssen versprechen, sich für die Dauer der Therapie nichts anzutun). Der Versuch, eine solche Methode zu algorithmisieren, ist verantwortungslos.

Auch eine weichgekochte Form, die provokative Therapie, ist für verunsicherte oder psychisch strapazierte Menschen völlig ungeeignet, sofern sie ihnen in Maschinenform entgegentritt – sie versucht “mit humorvoller Provokation den Widerspruchsgeist, die Selbstverantwortung und die Eigenständigkeit des Klienten” zu wecken. Es gibt doch kaum eine schönere Vorstellung, als von einer Maschine verarscht zu werden, wenn es einem nicht gut geht.

MindMentor – was für ein Zynismus: Menschen, die Hilfe brauchen – und zwar Hilfe von anderen Menschen – vor eine Maschine zu locken, um Ihnen für 4,95 die Stunde eine Illusion von Hilfe zu geben. Von 47% Hilfe.

Peter Glaserei bloggt auf Glaserei. Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog der Technology Review.

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