#Europawahl

Niemandsland Europa

von , 4.6.09


Selbst in der Woche der Europawahl redet niemand von: Europa. Die Großflächen plakatieren „Europa“ inhaltsleer – oder propagieren gleich nationale Themen. Nur die Angst vor Wirtschaftsabsturz und Lebensunsicherheit wird die Wähler an die Urne treiben.

Diese Europawahl ist Testwahl für den nächsten Bundestag.Und deshalb wird sie wahrscheinlich eine höhere Wahlbeteiligung erreichen als die 43 Prozent von 2004 (als sie eben nicht im Jahr der Bundestagswahl stattfand). Anfang Mai wollten immerhin 35 Prozent mit Sicherheit, weitere 32 möglicherweise zur Wahl gehen, mehr als vor fünf Jahren. Dennoch weiß nicht mal jeder Fünfte kurz zuvor ob und was er wählt: Die Europawahl wird durch Mobilisierung entschieden.

Wahrscheinlich zugunsten der Union, die seit Kohl den Deutschen als „die“ Europapartei gilt. Sie wird wohl deutlich mehr Stimmen erhalten, als ihre derzeit 35 Prozent bundesweit, die SPD wird auf ihrem 26 Prozent Niveau verharren, während die Kleinen mit Ausnahme der Grünen wahrscheinlich unterhalb ihrer aktuellen Bundeswerte bleiben.

Dass es wenig um Europa geht, dokumentieren Umfragen: Nur jeder zehnte Deutsche interessiert sich sehr dafür. Anfang Mai wusste nur jeder Fünfte, dass die Wahl im Juni stattfindet. Eigentlich müssten wir am Sonntag mit dem Schlimmsten rechnen, wollten nicht viele die Regierung bedenkzetteln, gegen zuviel oder zu wenig Staatsfürsorge protestieren, die Linken stärken oder die Ordnungspolitik der FDP loben wollen.

Erst unter ferner liefen hängt der deutsche Entscheid von Europa ab: Für 15 Prozent sind Persönlichkeit und politische Position der Kandidaten, danach deren europäischen Erfahrungen wichtig. Kandidaten dominieren über Themen, so weit man überhaupt Europapolitiker kennt. Denn fragt man nach den wichtigsten Zukunftsaufgaben der EU, fällt nur 16 Prozent die Bewältigung der Arbeitslosigkeit, 14 der Klimawandel und 12 Prozent die Wirtschaftsentwicklung ein.

Die Gründe, nicht zur Wahl zu gehen, sind deutlich vielfältiger: 62 Prozent haben keinerlei Interesse, 79 Prozent halten ihre Stimme für folgenlos, 16 Prozent sind ganz gegen die EU und gleich sieben von zehn geben an, keinerlei Kenntnis über die EU zu besitzen. Nur noch vier von zehn sind an der Europawahl interessiert (Bundestagswahl: 80 Prozent), im Westen immerhin 44, in Ostdeutschland gerade noch 22 Prozent. Damit liegen die Deutschen exakt auf europäischem Gesamtdurchschnitt. Gerade mal für 20 Prozent ist Europa ein wichtiges Thema: Rang 16 der 20 wichtigsten. Trotz Euro, trotz Wegfall der Grenzen, trotz Berufsfreiheit, 60 Jahre Frieden und obwohl Europa heute leichter zu erreisen ist als früher Deutschland.

Wer wirklich wissen will, welche Probleme die Deutschen mit Europa haben, muss sich nur die Euro-Scheine anschauen: Hübsche Motive, allerdings nur Phantasiezeichnungen von Burgen und Toren, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, darstellen. Anonymes ersetzt Konkretes. Entscheidungen werden im Niemandsland gefällt, Europapolitiker sind kaum auf den Politikseiten zu finden, sondern verschwinden im Anonymen.

In einem Kenntnistest der alten EU Staaten über Europa liegt Deutschland nur auf Platz elf, weit hinter den Spitzenreitern Luxemburg, Finnland und Portugal. Also verwundert es nicht, dass sich gerade mal 16 Prozent über die neue EU-Verfassung gut informiert fühlen.

Auch vor der siebten Wahl bleibt Europa für ein Kunstprodukt: Nur 41 Prozent wünschen sich, dass die EU-Politiker nach dem Euro weiter auf ein gemeinsam regiertes Europa hin arbeiten, auch wenn 60 Prozent eine gemeinsame Verfassung als Fortschritt empfänden. 56, in Ostdeutschland sogar 67 Prozent, wollen dagegen, dass Deutschland so autonom wie möglich regiert wird. Trotz Frust über Berlin.

Die Gründe dieses „Anti-Europäismus’“: Die schlechte, viel zu bürokratische Vermittlung europäischer Inhalte, die drei von vier beklagen. 70 Prozent kritisieren den schwachen Einfluss Berlins, trotz unserer Größe und Zahlungshöhe. Für zu viele wird über unseren Kiez durch Abgeordnete aus dem Alentejo, der Ägäis oder Hinterpommern, aber eben nicht durch die bei uns Plakatierten entschieden.

Um Europa attraktiver zu machen, darf uns die EU weder weitere Lasten noch mehr Macht aufbürden, sie muss uns mit Europa versöhnen: Der, der viel einbringt, muss auch angemessen mitbestimmen, aus dem Europa der Juristen muss das seiner Bürger werden. Dafür aber muss die EU dort einen Teil ihrer Macht abgeben, wo die Nationalstaaten die anfallenden Probleme offenbar besser lösen könnten: Die Familienpolitik ist das „urdeutscheste“ Thema. Hier sind 73 Prozent für ausschließlich nationale Entscheidungen. Bei den Renten 71, bei der inneren Sicherheit 69 Prozent. Auch über Steuern und Arbeitsmarktpolitik sollte für Zweidrittel Berlin entscheiden. Lediglich die Außen- und Verteidigungspolitik sind für 51 bzw.56% Domänen der EU.

Und politische Schwergewichte ins Rennen schicken. Denn immer noch sind Merkel und Kohl, nicht die Verheugens, Schulzes und Pötterings Europas Protagonisten. Europa fehlt auch vor der siebten Europawahl immer noch ein Gesicht!

Siehe auch auf Carta:

Leonard Novy: Europawahl: Beteiligungsdesaster im Fünfjahresrhythmus

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