Für uns oder gegen uns: Codewort Unrechtsstaat

von , 3.6.09

20 Jahre nach dem Mauerfall streitet Deutschlands politische Elite um die korrekte Bezeichnung für die DDR. Medial verkürzt lautet die Pointe: Wer nicht Unrechtsstaat zu ihr sagt, verharmlost die DDR, ignoriert Schießbefehl und Stasi, verdrängt die Leiden der Opfer – und biedert sich der Linkspartei an. Und wer sich zu dieser Bezeichnung bekennt, wendet sich mit ausreichender Eindeutigkeit gegen eine Verklärung der DDR. In dieser Debatte geht zuallererst um parteistrategische Abgrenzungsspiele — um eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebenserfahrungen der Ostdeutschen geht es dabei nicht.

Erneut hochgekocht wurde die Debatte um die Deutungshoheit über die DDR-Vergangenheit im Durchlauferhitzer der Bundespräsidentenwahl. Gesine Schwan hatte am 17. Mai, also sechs Tage vor der Wahl, den Begriff „Unrechtsstaat“ in einem Interview im Tagesspiegel als diffus abgelehnt: Er impliziere, „dass alles unrecht war, was in diesem Staat geschehen ist“. Die darauf folgende Welle der Empörung brach aus zwei Richtungen über sie herein.

Zum einen protestierten ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Stasi-Opfer und diejenigen, die mit der Aufarbeitung des Unrechts in der DDR beschäftigt sind, unter ihnen der Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, der SPD-Bundestagsangeordnete Stefan Hilsberg oder Schwans Mitbewerber Peter Sodann. Ihre Argumentation basiert auf den Erfahrungen derer, die unter diesem Unrecht litten: Ein Staat, der nachweislich Unrecht begangen hat, ist ein Unrechtsstaat.

Darüber hinaus bezogen Politiker öffentlich Stellung, die das Wort als symbolische Trennwand gegen Ostalgie und Linkspartei aufgebaut hatten: Sie verlangten klare Worte ohne Verniedlichung für die DDR. Der politische Kampfbegriff Unrechtsstaat ist Ausdruck eines Abgrenzungsverhaltens gegen Linksaußen. Angela Merkel benutzte ihn bereits am 8. Mai in diesem machpolitischen Kontext. In Replik auf Gesine Schwan nahm der Bundesvorsitzende der Freien Wähler, Armin Grein, das Wort in den Mund: Als Signal an die Welt, dass die bayerischen Freien Wähler nichts mit der Linkspartei zu tun haben wollen, sollte Gesine Schwan mit ihren Stimmen gewählt werden. In Thüringen, wo die Linkspartei in den bevorstehenden Landtagswahlen möglicherweise zweitstärkste Partei wird, äußerten sich Landtagspräsidentin Dagmar Schipanski (CDU) und SPD-Spitzenkandidat Christoph Matschie. Und auch Horst Köhler positionierte sich – am Tag nach seiner  Wiederwahl: “Aus meiner Sicht war die DDR ein Unrechtsstaat”.

Dass für die Ostdeutschen aus dem Begriff Unrechtsstaat Fragen wachsen, die ihr Selbstverständnis antasten, spielte in dieser Debatte kaum eine Rolle. Diejenigen, die nicht in offener Opposition zur DDR-Regierung standen, gehen heute unterschiedlich mit ihren Erinnerungen um: Die einen fühlen sich in der Bundesrepublik angekommen und vermeiden politische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit, die anderen versuchen, die „gute“ von der „schlechten“ DDR zu trennen. Für beide impliziert das Wort Unrechtsstaat, mindestens Mitläufer gewesen zu sein, Unrecht wissentlich in Kauf genommen zu haben. Zum Unrechtsstaat muss es schließlich auch ein Unrechtsvolk gegeben haben: Aber trägt  jemand also per se eine Schuld, der in der DDR zur Schule ging, der FDJ angehörte, einen Beruf ausübte? Konnte man überhaupt rechtschaffen im Unrechtsstaat leben?

Der britische Historiker Timothy Garton Ash plädiert hier für eine Differenzierung, die er gegenüber Carta so formulierte: „Unrechtsregime: ja – Unrechtsstaat:  ja! Unrechtsland: nein – Unrechtsvolk: nein!“

Die Geschichte der DDR und ihres Endes ist so umfassend aufgearbeitet worden wie kaum ein anderes historisches Ereignis, dennoch spielt sie in der Gesamterzählung der jüngsten deutschen Geschichte eine untergeordnete Rolle. Persönlich betroffen ist ein kleiner Teil der Deutschen. Auch daher besteht die Gefahr einer asymetrischen Diskussion, die die ehemaligen DDR-Bürger lebenslänglich als „befleckte“ Deutsche zurücklässt.

Um die Fragen nach einer Verantwortung für die DDR, nach einer kollektiven oder persönlichen Schuld miteinander zu besprechen, braucht es Kommunikation frei von Vorurteilen und Holzhammer-Begriffen wie “Unrechtsstaat”. Selbst Angela Merkel vermied das U-Wort,  als sie kürzlich in der ARD – mit eng gerahmter Offenheit – über ihr persönliches Leben im Osten plauderte.

Sind Erkenntnisgewinn und ein gemeinsames Aufarbeiten der DDR-Vergangenheit das Ziel der Unrechtsstaat-Debatte, darf der Dialog nicht mit dem Nennen des Codeworts enden.

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